Entwicklungshilfe mit Nebenwirkung: An unseren Gaumen und Fingern klebt weiterhin afrikanisches Blut

Dass Entwicklungshilfe in großem Stil den Empfängerstaaten eher Schaden zufügt, anstatt ihnen zu helfen, ist ein relativ neues Narrativ. Doch die Fakten sprechen dafür. Die Gelder der Entwicklungshilfe finanzieren Korruption, fördern Selbstgefälligkeit und Unselbständigkeit.

von Timo Al-Farooq

Richard Dowden, britischer Journalist und Exekutivdirektor der Royal African Society, beschreibt in seinem Buch "Africa - Altered States, Ordinary Miracles", wie er auf einer Fahrt durch das erdölreiche Niger-Delta in Nigeria keine einzige Tankstelle finden konnte. Eine ARD-Doku namens "Schmutzige Schokolade" aus dem Jahre 2010 zeigt, wie sich ivorische Kinder für fast 0 Euro die Stunde unter sklavenartigen Bedingungen auf Kakaoplantagen verdingen müssen und damit den globalen, westlich-dominierten Hunger nach Schokolade befriedigen, aber selber nie welche probiert haben. Ein Internet-Meme in der Art eines Motivationsposters zeigt verschlammte afrikanische Arbeiter, die Steine durchsieben, und darunter der Spruch: 

Diamanten: Nichts sagt "Ich liebe dich" so sehr wie ein oberflächlicher und überbewerteter Stein, der aus den Eingeweiden der Erde gekratzt wird.

Was diese Beispiele belegen sollen: Auch sechs Jahrzehnte nach der Dekolonisierung des afrikanischen Kontinents behandelt der Westen ihn, den er 1884/85 auf der sogenannten "Kongo-Konferenz" im fernen Berlin wie einen Kuchen zerschnitten und unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt hat, immer noch genauso wie damals Belgiens König Leopold II. "seinen" Kongo: als feudalen Privatbesitz, der ausschließlich der Ressourcenplünderung dient, und zwar durch die Sklavenarbeit der einheimischen Bevölkerung.

Der Kaffee, den wir trinken, die Kleidung, die wir tragen, das Coltan für unsere Smartphones: Sie alle sind das Endprodukt einer Wertschöpfungskette, die auf systematischer Ausbeutung natürlicher Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft im Globalen Süden basiert. Auch wenn in bestimmten Bereichen die gesetzlichen Rahmenbedingungen ein wenig verbessert wurden, um Ausbeutung zu erschweren, ist dies beileibe nicht genug.

Ja, der Kimberley-Zertifizierungsprozess etwa hat einen supranationalen Gesetzesrahmen gegen die Einfuhr von sogenannten "Blutdiamanten" geschaffen, aber die Kontrollen sind lasch und das System bleibt korruptionsanfällig. Für andere Bodenschätze gibt es hingegen so gut wie gar keine internationalen Zertifikationsmechanismen: So bleiben afrikanische Rohstoffe in Konfliktregionen weiterhin Spielball der Machtinteressen verschiedenster Kriegsparteien und multinationaler Firmen. Und zwar zu Lasten derer, die sie aus der Erde holen müssen, oft unter sklavenähnlichen Bedingungen.

Auch der Endkonsument der auf allseits begehrten Mineralien basierenden Produkte ist mitverantwortlich für dieses Ausbeutungssystem: Prof. Evi Hartmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Supply Chain Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat nicht Unrecht, wenn sie in einem Beitrag die westlichen Konsumenten in die Nähe von Sklavenhaltern rückt.

Doch während die wachsende öffentliche Wahrnehmung im Westen bezüglich der Ungerechtigkeiten einer neoliberalen Globalisierung lobenswert ist, wird sie nicht weiter als ein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben, solange staatliche Akteure den Forderungen der Zivilgesellschaft nicht Taten folgen lassen, und zwar in Form von aufrichtiger Rechtsprechung. Keine unter dem Druck von Lobbyisten verwässerten Feigenblätter, sondern nachhaltige und eben nicht-ambivalente Gesetze, die Konzerne an die staatliche Kandare nehmen und somit die Ausbeutung von sozioökonomisch strukturell benachteiligten Menschen im Globalen Süden eindämmen.

"Dead Aid" und weißes Helfersyndrom

Dass Entwicklungshilfe in großem Stil den Empfängerstaaten eher Schaden zufügt, anstatt ihnen zu helfen, ist im Westen ein relativ neues Narrativ, popularisiert durch das Buch "Dead Aid" der sambischen Ökonomin Dambisa Moyo. Wie beim Mikrokredit in Bangladesch – erst gefeiert, dann verteufelt – ist die öffentliche Debatte um Sinn und Unsinn von Entwicklungshilfe nach wie vor polarisiert zwischen aggressiven Befürwortern, welche die Journalistin und Autorin Michela Wrong die "Geldof-Bono-Brigade" nennt (nach den beiden irischen Musikerkoryphäen, heute Vollzeit-Philanthropen), und harschen Kritikern wie Moyo und dem kenianischen Ökonomen James Shikwati (dass die Befürworter weiß sind und die Gegner schwarz, ist symbolträchtig und zeigt die Problematik von Eurozentrismus, Deutungshoheit, Macht und Vertretungsanspruch in solchen Diskursen).

Shikwati fasste bereits im Jahr 2005 die desaströsen Konsequenzen der Entwicklungshilfe in einem Interview mit dem Spiegel so zusammen:

Trotz der Milliarden, die geflossen sind, ist der Kontinent arm. Es werden riesige Bürokratien finanziert, Korruption und Selbstgefälligkeit gefördert, Afrikaner zu Bettlern erzogen und zur Unselbstständigkeit. Zudem schwächt die Entwicklungshilfe überall die lokalen Märkte und den Unternehmergeist, den wir so dringend brauchen. Sie ist einer der Gründe für Afrikas Probleme, so absurd das klingen mag.

Paul Colliers Buch "Die unterste Milliarde" liefert hingegen eine weniger ideologische Analyse monetärer Entwicklungshilfe als die ihrer prominenten Befürworter und Gegner. Als ehemaliger Weltbank-Ökonom betrachtet der Autor darin die globale Armutsreduzierung aus rein empirischer und statistischer Perspektive und widmet ein ganzes Kapitel dem Für und Wider von Entwicklungshilfe. 

Sein Resümee: Unter rein empirischen Gesichtspunkten hätten die Finanzhilfen westlicher Geberländer zwar die Entwicklung in Afrika südlich der Sahara gefördert, doch in einem begrenzten Rahmen. Gleichzeitig benennt auch er die problematische Natur dieser monetären Finanzspritzen und folgt somit der Argumentationslinie Moyos und Shikwatis.

Colliers These der "vier Armutsfallen", die er als Hauptgründe für die extreme Armut in manch afrikanischem Staat südlich der Sahara sieht, nämlich die Konfliktfalle, die Ressourcenfalle, die Falle des fehlenden Meerzugangs und die der "schlechten Nachbarschaft" sowie die Falle von schlechtem Governance in einem kleinen Land, steht sinnbildlich für das Zusammenwirken von kolonialen Altlasten (willkürliche Grenzziehungen und koloniale Ressourcenausbeutung) und postkolonialem Selbstverschulden (autoritäres und korruptes Regieren) als Erklärung von Entwicklungsdefiziten auf dem Kontinent.

Während wir heute zumindest auf staatlicher und NGO-Ebene ein schrittweises Umdenken haben (zumindest nach außen hin), wird der sogenannte "white saviour industrial complex" (Anm.: Industriekomplex der "weißen Retter") in Deutschland heute verstärkt durch Programme wie "Kulturweit" und "Weltwärts" fleißig weiter perpetuiert, im Rahmen derer junge, privilegierte Menschen in den Globalen Süden entsandt werden, um dort Abenteuerurlaub auf Staatskosten zu machen, ohne dass dabei den Klienten vor Ort mittel- oder langfristig spürbar geholfen wird.

Auch diese Entdeckungsreisenden des globalisierten Zeitalters sind geleitet vom Sendungsbewusstsein einer klassisch eurozentrischen "white man's burden"-Mentalität (Anm.: die Last des "Weißen Mannes"): eine, die Afrikaner qua natura als passiv und unfähig erachtet und daher der Fremdhilfe von außen bedürfend, am besten natürlich aus Europa oder Amerika.

Somit ist das Mantra der "Partnerschaft auf Augenhöhe" als neues Paradigma angeblicher  Entwicklungszusammenarbeit westlicher Außenpolitik in der Realität oftmals nicht mehr als eine Reproduktion alter Respektlosigkeiten gegenüber als zivilisatorisch minderwertig erachteten Menschen.

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