von Jonny Tickle
Wenn Sie das Land gut kennen, werden Sie wissen, dass es zwei Russlands gibt. Das eine, in dem 146 Millionen Menschen leben, und dann noch die Fantasieversion, über die westliche Medien schreiben.
Beide existieren in parallelen Welten. Aus diesem Grund reagieren die meisten englischsprachigen Russen in der Regel mit einer Mischung aus Schock und Entsetzen, wenn ihre Sprachkenntnisse ausreichen, um zu lesen, was die ausländische Presse über ihr Heimatland schreibt.
Nun wird Russlands Umgang mit COVID-19 vorhersehbarerweise als Teil des mythischen "Informationskrieges" gegen das Land selbst in Stellung gebracht. Das liegt daran, dass es bei der Berichterstattung der westlichen Medien über das Land im Allgemeinen nicht um Journalismus, sondern um Aktivismus geht. Das bedeutet, dass in den westlichen Medien nur die Russen, die dazu passen, Erwähnung finden.
Aus diesem Grund wird Alexei Nawalny als "Oppositionsführer" dargestellt, obwohl es in Russland keine einheitliche Opposition gibt und andere Oppositionelle ihn nie als ihren Führer ausgewählt haben. Die Sache ist eigentlich noch lächerlicher: In russischen Meinungsumfragen liegt die Unterstützung für Nawalny zwischen einem und zwei Prozent – deutlich hinter beispielsweise Pawel Grudinin, der für die Konsumenten der westlichen Presse im Grunde genommen nicht existiert. Grudinin ist ehemaliger Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei, und als die russischen Medien im vergangenen Jahr berichteten, dass ihm der Einzug in die Staatsduma verwehrt wurde, ignorierten die US-amerikanischen und britischen Medien im Wesentlichen seine politischen Anstrengungen, vermutlich aus Angst, ihrem eigenen Narrativ zu schaden.
Um die seltsame Symbiose von Nawalny und den westlichen Medien zu verstehen, müssen wir uns ihr Manövrieren rund um die COVID-19-Pandemie ansehen. In dem Bestreben, einen Weg zu finden, den staatlichen Umgang mit dem Virus anzugreifen, haben sich einige Mitläufer der sogenannten "Ärzte-Allianz" angeschlossen. Das ist eine winzige, jedoch einflussreiche, bunt gemischte "Gewerkschaft" von medizinischen Mitarbeitern, die eng mit Nawalny verbunden ist. Sogar so eng, dass sie von Anastasija Wassiljewa, der ehemaligen persönlichen Augenärztin Nawalnys, geleitet wird.
Andererseits findet Russlands größte Ärztegewerkschaft – der Berufsverband der im Gesundheitswesen Beschäftigten der Russischen Föderation – in der westlichen Berichterstattung keinerlei Erwähnung, obwohl sie insgesamt rund drei Millionen Mitglieder zählt.
Regeln brechen
Zuerst einmal eine Klarstellung: Eine politisch aktive Gewerkschaft ist nichts Schlechtes, sondern zweifellos etwas Positives – ebenso wie jeder echte Wunsch, einem medizinischen System zu helfen, das oft kritisch unterbesetzt ist und vom Coronavirus völlig überwältigt zu werden droht.
Tatsache ist, dass nach fast drei Jahrzehnten ultraneoliberaler Ökonomie, zu der Russland vom Westen angestachelt wurde, die Arbeitsbedingungen für Ärzte in russischen staatlichen Krankenhäusern im Allgemeinen schlecht sind. Darüber hinaus kann niemand bestreiten, dass viele Krankenhäuser des Landes eine Menge Hilfe benötigen, um einen vernünftigen, akzeptablen Standard zu erreichen.
Bei dieser Auseinandersetzung geht es also nicht um Gewerkschaften an sich, und ich behaupte auch nicht, dass es keine Probleme im russischen Gesundheitssystem gibt. Es gibt viele. Stattdessen geht es um eine Gruppe von Aktivisten, die sich als "Gewerkschaft" verkleiden und nicht aktiv versuchen, das Leben von Ärzten zu verbessern. Statt tatsächlich zu helfen, scheinen Wassiljewas Mitarbeiter eher daran interessiert zu sein, die Aufmerksamkeit des Westen auf sich zu ziehen.
Am 3. April brachen Wassiljewa und elf weitere Kollegen in die russische Region Nowgorod auf, die etwa 400 Kilometer von Moskau entfernt ist, um angeblich dringend benötigte Personenschutzausrüstung für überlastete Ärzte zu liefern. Um Kisten mit der Ausrüstung – Masken, Atemschutzgeräte und Anzüge – in zwei örtliche Krankenhäuser zu bringen, brach Wassiljewas Gruppe strenge Quarantänebestimmungen, die die Ausbreitung von COVID-19 eindämmen sollten. Entsprechende Gelder wurden im Rahmen eines neuen Projekts mit dem Namen "Allrussische medizinische Inspektion" gesammelt, das nach eigenen Angaben darauf abziele, Ärzte mit lebenswichtiger Ausrüstung zu versorgen.
Bei der Einfahrt in die Stadt Okulowka, direkt an der Grenze zur Region Nowgorod, wurde der Konvoi der "Ärzte-Allianz" aus vier Wagen mit jeweils drei Personen an Bord (so viel zum Thema "soziale Distanzierung") von der örtlichen Polizei aufgegriffen und zur Polizeistation eskortiert, wo die Beteiligten über Nacht festgehalten wurden.
All das, weil Wassiljewa die prominenteste Kritikerin von Russlands Umgang mit dem Coronavirus ist?
Nun, das könnte man denken, wenn man sich bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage auf westliche Medien verlassen würde.
In Wirklichkeit lief die Geschichte ganz anders ab.
Wassiljewa verließ ihr Haus in Moskau, einer Stadt, die unter strenger Quarantäne steht und in der mehr als 6.000 COVID-19-Ansteckungen gemeldet wurden, unter dem Vorwand, medizinische Versorgung zu transportieren. Da sie in der Region Nowgorod (in der zwölf COVID-19-Fälle registriert wurden) nicht registriert ist, wusste sie schon vor dem Überschreiten der regionalen Grenze, dass sie gegen das Gesetz verstoßen würde. Es wurde öffentlich verbreitet, dass Nowgorod derzeit aus Angst vor weiteren Ansteckungen gesperrt ist.
Es ist also klar, dass Wassiljewa sich vollkommen bewusst war, dass sie verhaftet wird. Tatsächlich verrät die Zusammensetzung ihres Teams aus elf Kollegen im Wesentlichen diese Tatsache: Es beinhaltete einen Anwalt, einen ausländischen Reporter und drei Kameramänner und nicht etwa eine ganze Reihe von arbeitenden, gewerkschaftlich organisierten Ärzten.
Abgesehen von der Verletzung der Quarantäne-Regeln wurde sie auch der Missachtung einer Aufforderung eines Polizeibeamten beschuldigt – sie weigerte sich, aus ihrem Auto zu steigen und sich zur Polizeiwache zu begeben, um ein Erklärungsschreiben zu verfassen. Nach Ansicht der "Ärzte-Allianz" entsprach ihre Verhaftung "echtem Faschismus".
Wenn das Ziel nur darin bestünde, Ausrüstung in ein Krankenhaus zu schicken, hätte sie es ruhig tun können, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen und ein Drama zu fabrizieren. Alles, was sie hätte tun müssen, wäre gewesen, elektronisch Geld an örtliche Freiwillige zu schicken oder eine Sonderzustellung zu arrangieren. Es ist jedoch klar, dass es hier um reine PR ging.
Darüber hinaus hat der Cheerleader der "Ärzte-Allianz", Alexei Nawalny, in seinem persönlichen Online-Blog ein Dokument des Notfallministeriums veröffentlicht, in dem die Probleme der medizinischen Einrichtungen in jeder Region aufgelistet sind. Die PDF-Datei enthält detaillierte Angaben zu den Problemen in vielen verschiedenen Gebieten des Landes – von leichten bis hin zu ziemlich schweren – und zeigt offen die Schwierigkeiten, denen Russland im Kampf gegen das Coronavirus gegenübersteht. Doch was ist mit der Region Nowgorod, in die Wassiljewa geeilt ist? Es wurden keine Engpässe gemeldet. Vermutlich sind Regionen wie Tomsk, Archangelsk und Astrachan – die offenbar dringend Hilfe benötigen – zu weit entfernt, als dass sich der Aufwand für diese Aktivisten lohnen würde.
Nach der Geschichte nahm Wadim Ladjagin, der Chefarzt des Borowitschi-Krankenhauses (eines der beiden von Wassiljewa belieferten Krankenhäuser), ein Video auf, in dem er erklärte, dass ihm die ursprüngliche Quelle der Ausrüstung nicht bekannt sei. Er sagte:
Anastasija kam aus der Stadt Moskau, in der Massenquarantänemaßnahmen bezüglich der Infektion von COVID-19 gelten, ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen. Gleichzeitig brachte sie angeblich humanitäre Hilfe in Form von medizinischen Masken mit. Auch hier ist nicht klar, aus welchen Lagerhäusern diese Masken stammen. Sie hatten weder Zertifikate noch Registrierungsunterlagen.
Eine andere leitende Ärztin der Region Nowgorod, Natalja Usatowa vom Zentralen Bezirkskrankenhaus Waldai, sagte der regionalen Webseite 53 News, dass die Ärzte vor Ort das Vorgehen Wassiljewas nicht verstanden hätten. Sie bemerkte:
Wenn wir tatsächlich keine ausreichende Schutzausrüstung hätten, könnte man das auf andere Weise machen. Das ist eine Provokation – es gibt keinen anderen Namen dafür. Wir, die Ärzte, haben diesen Trick nicht verstanden. Selbst wir erlauben uns nicht, uns in der Region zu bewegen. Es ist immerhin möglich, mit dem Minister zu klären, was wir brauchen, und Freiwillige in diese Arbeit einzubeziehen. Der gesamte Prozess in der Region zur Bekämpfung des Coronavirus wird vom Minister und vom Gouverneur persönlich kontrolliert.
Westmedien immer dabei?
Trotz dieser Tatsachen benutzte Wassiljewa ihre Verhaftung sofort als Vorwand, um mit ausländischen Medien in Kontakt zu treten.
Wassiljewa sprach mit der Associated Press, die ihren Beitrag unkritisch mit dem Titel "Russland hält Aktivisten fest, die versuchen, inmitten des Virus einem Krankenhaus zu helfen" betitelte. Sie sagte der Nachrichtenagentur, dass es bei der Verhaftung "darum ging, [sie] zu brechen".
Als Nächstes plauderte Wassiljewa mit der Moscow Times – die trotz des Namens eine niederländische und keine russische Zeitung ist. Sie sagte dieser, dass sie die Arbeit der Regierung in die eigenen Hände nehmen werde.
Auch die New York Times griff Wassiljewas Geschichte auf, deren Schlagzeile darauf hinweist, dass sie aufgrund der Hinterfragung offizieller Zahlen inhaftiert wurde – und ignorierte dabei die illegale und gefährliche Verletzung der Quarantäne durch die Aktivistin.
Die "Ärzte-Allianz" nahm auch schnell Kontakt zu den staatlichen US-Medien auf. Es überrascht nicht, dass Radio Free Europe (beziehungsweise Radio Liberty) Wassiljewa als Heldin feierte.
Am beeindruckendsten ist jedoch Wassiljewas Vorliebe dafür, ausländische Journalisten auf ihre Reisen mitzunehmen. Auf ihrer Reise nach Okulowka nahm sie Steven Derix vom NRC Handelsblad mit, einer bekannten Zeitung in den Niederlanden. Laut Derix fuhr sie ohne die richtigen Papiere, vermutlich habe sie einfach vergessen, diese mitzunehmen.
Im Januar nahm die "Ärzte-Allianz" einen weiteren westlichen Journalisten mit auf eine Reise: Marc Bennetts von der Times of London. Wassiljewa brachte Bennetts in die kleine Stadt Bogdanowitsch in der Region Swerdlowsk im Ural, wo es (zufällig) zu einem weiteren Zusammenstoß mit der Polizei kam. Vor ihrer Ankunft dort berichtete sie öffentlich über die Absicht von Krankenhausbeschäftigten, als Reaktion auf schlechte Arbeitsbedingungen einen Streik zu beginnen.
In Wirklichkeit gab es überhaupt keinen Streik des medizinischen Personals – nur vier Wäschereiarbeiter in ihrer zugegebenermaßen schrecklichen und heruntergekommenen Waschküche. Nach Angaben der Krankenhausleitung und der Beamten des regionalen Gesundheitsministeriums gab es auch keine Beschwerden von Ärzten. Sogar das Video von Nawalny selbst ließ die geringe Größe der verärgerten Belegschaft und ihres "Streiks" erkennen.
Wie so viele russische Krankenhäuser – vor allem in ärmeren, abgelegenen Städten –, ist auch das von Bogdanowitsch eindeutig reparaturbedürftig. Auch wenn niemand behauptet, dass das russische Gesundheitssystem keinen großen Aufschwung braucht, bleibt doch die Frage offen: Wenn die "Ärzte-Allianz" wirklich eine Gewerkschaft ist und das Ziel darin besteht, die Massen auf die Probleme des Gesundheitssystems aufmerksam zu machen, warum bringt man dann nicht einen russischen Journalisten mit?
Die Einbeziehung von Bennetts auf Wassiljewas Ausflug in den Ural könnte den Eindruck erwecken, dass die "Ärzte-Allianz" gar keine Gewerkschaft ist – sondern ein Vehikel, um Ausländern zu zeigen, wie schlimm es in Russland zugeht.
Denn wie kann ein Artikel – der nicht auf Russisch, sondern auf Englisch geschrieben ist – in einer britischen Zeitung die Verbesserung der Gesundheitsversorgung im Ural, Tausende von Kilometern von London entfernt, voranbringen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Times of London ein zahlungspflichtiges Medium ist und ihr Inhalt nur Abonnenten zur Verfügung steht.
Wie viele Menschen in Moskau, geschweige denn in der Region Swerdlowsk, würden den Bericht wahrscheinlich zu lesen bekommen?
Der Elefant im Raum
Russland hat einige riesige und etablierte Ärztegewerkschaften, warum also drängen die westlichen Medien eine Randgruppe von Aktivisten mit einer winzigen Mitgliedschaft in den Vordergrund?
Wie in vielen Ländern gibt es auch in Russland mehrere Berufsgewerkschaften, die für die Rechte ihrer Mitglieder kämpfen. Gewerkschaften sind zweifellos eine gute Sache für die Arbeitnehmer und bieten einen starken Schutz gegen illegale Entlassungen und Missbrauch am Arbeitsplatz.
In der Regel sind die Gewerkschaften stärker, wenn sie eine höhere Mitgliederzahl haben. Eine breitere Basis bedeutet mehr Tarifverhandlungsmacht, effektivere Streiks und einen größeren Topf mit Geld für die Rechtsverteidigung. Je größer eine Gewerkschaft ist, desto mehr politische Macht hat sie im Allgemeinen und desto mehr Presseberichterstattung erhält sie. Warum wird also über die "Ärzte-Allianz" und ihre nach eigenen Angaben "kleine" Mitgliederbasis in den westlichen Medien weit mehr berichtet als zum Beispiel über den Berufsverband der im Gesundheitswesen Beschäftigten der Russischen Föderation (BGBRF) – eine der größten Gewerkschaften des Landes?
Der Verband mit geschätzten drei Millionen Mitgliedern ist Teil des Europäischen Gewerkschaftsverbandes für den Öffentlichen Dienst (EGÖD), einer Vereinigung, die Gewerkschaften aus ganz Europa zusammenführt, um die Politik und die Entscheidungen der Regierungen auf dem ganzen Kontinent zu beeinflussen. Besser noch, Russlands Gesundheitspersonal spielt nicht nur eine symbolische Rolle in der europaweiten Gewerkschaft – einer ihrer Vizepräsidenten ist Michail Kusmenko, der Vorsitzende des BGBRF.
Eine schnelle englischsprachige Google-Suche nach dem BGBRF (auf Englisch: Health Workers Union of the Russian Federation, HWURF) bringt wenig hervor, doch eine Suche nach der "Doctors Alliance" (zu Deutsch: "Ärzte-Allianz") führt zu Tausenden von Ergebnissen. Warum das so ist? Die Antwort ist einfach: Die "Ärzte-Allianz" ist eine Aktivistengruppe, die von Nawalnys sogenannter "Anti-Korruptions-Stiftung" unterstützt wird, was zum Narrativ passt, das die westlichen Medien gerne über Russland kultivieren.
Im letzten Monat wurde die Gruppe von mehreren Medien wie der Washington Post, dem National Public Radio, der Times und dem New Yorker als "unabhängige Vereinigung" gesalbt, und es gelang ihnen sogar, Lotte Leicht, die EU-Direktorin von Human Rights Watch, zum Narren zu halten.
Fairerweise muss man sagen, dass einige Publikationen die regierungsfeindliche Voreingenommenheit der "Gewerkschaft" gelegentlich offen angesprochen haben. Ein Artikel der New York Times vom 25. Mai 2019 erwähnte die Verbindung der Gruppe zu Nawalny – und nannte ihn "Russlands wichtigsten Oppositionspolitiker". Natürlich retweetete Nawalny dieses Kompliment in seinem Twitter-Profil.
Wer also SIND Anastasija Wassiljewa und die Leute von der "Ärzte-Allianz"?
Eine oberflächliche Yandex-Suche (auf Russisch) bringt schnell viele Abstriche über Wassilijewa und ihre PR liebenden Ärzte zutage. Ich werde diese hier nicht anführen, denn es geht hier nicht um sie, sondern um die Berichterstattung der westlichen Medien über sie. Bleiben wir also bei den bekannten Fakten.
Im Jahr 2017 wurde Alexei Nawalny von einem Mann angegriffen, der ihn mit einem grünen Antiseptikum besprühte. Der verwerfliche Angriff war ein schlechter Moment für Nawalny, aber eine Gelegenheit für Wassiljewa, die als seine Augenärztin arbeitete. Laut Wassiljewa wurde ihre Mutter Anfang 2018 von ihrer Stelle an einer medizinischen Forschungsuniversität in Moskau entlassen, und sie ging zu Nawalny, um um Hilfe zu ersuchen. Nawalny bot seine Anwälte an, und ihre Mutter bekam ihre Stelle zurück. Dies war der Beginn einer brandneuen Partnerschaft, sie schlossen sich zusammen, um die "Ärzte-Allianz" auf das ganze Land auszudehnen.
Es scheint jedoch, dass echte Ärzte einfach nicht so sehr an der Arbeit dieser "Gewerkschaft" interessiert sind. Laut einem Artikel des Economist vom Mai 2019 hat die Vereinigung nur 500 Mitglieder, und auf ihrer Webseite heißt es, dass sie 31 verschiedene Zweigstellen im ganzen Land besitzt. Was die Zahl der Freiwilligen angeht, so scheint die Organisation zu wenige von ihnen zu haben. Als Beispiel von ihrer Webseite kann man eine Anastasija Tarabrina anführen, die als regionale Vertreterin für mindestens 15 der 31 Zweigstellen – von Kamtschatka bis zur Krim und von Kaliningrad bis Magadan – angegeben ist. Die Entfernung zwischen den beiden letztgenannten Zweigstellen beträgt über 11.000 Straßenkilometer. Es gibt keine echte Gewerkschaft auf der Welt, die von einem "lokalen Organisator" erwarten würde, dass er ein solches Gebiet abdeckt. Dies ist ein klares Beispiel dafür, warum die "Ärzte-Allianz" keinen praktischen Nutzen im Inland hat.
In Russland ignoriert
Mit ihrem fortwährenden Versuch, die Aufmerksamkeit des Westens zu gewinnen, würde man es jemandem nachsehen, der dieses Thema nur oberflächlich verfolgt, wenn er glauben würde, dass die "Ärzte-Allianz" bereits ganz Russland erobert hat und die internationale Aufmerksamkeit die nächste Grenze darstellt. Das ist natürlich nachweislich falsch. Obwohl Nawalny und Wassiljewa westliche Korrespondenten in Moskau auf Abruf haben, scheinen die russischen Medien nicht sonderlich interessiert zu sein.
Während ausländische Journalisten lautstark darum betteln, ellenlange Porträts von Wassiljewa und ihren Mitstreitern zu schreiben, scheinen sie in russischen Medien nur aufzutauchen, wenn sie Provokationen inszenieren. Selbst oppositionelle Medien wie Echo Moskwy und Nowaja Gaseta scheinen kein Interesse an ihnen zu haben. So war zum Beispiel der Echo-Moskwy-Artikel über Wassiljewas jüngsten Gerichtsprozess nur zwei Absätze lang, obwohl sie recht häufig im Schwesterradiosender auftaucht. Der Artikel der New York Times über ihre Verhaftung? 29 Absätze lang.
Was ist mit den gewöhnlichen Russen im Internet? Nun, trotz ihrer ausgefeilten Online-Präsenz pflegt die "Ärzte-Allianz" einen etwas aggressiven Umgang mit jenen, die Fragen stellen – vor allem mit jenen, die ihre Finanzierungen hinterfragen. Ein Nutzer des russischen sozialen Netzwerks VKontakte wurde von der vermeintlichen Gewerkschaft blockiert, nachdem er nach den Namen der Ausrüstungslieferanten und Einsicht in die Quittungen fragte.
Trotz ihrer Zwielichtigkeit und ausbleibender Unterstützung im Inland scheint das Ziel Nawalnys und Wassiljewas erreicht worden zu sein: internationale Anerkennung und Popularität. Die Notlage der "Gewerkschaft" hat auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit erregt.
Der ehemalige estnische Präsident und ehemalige US-Staatsmedienreporter Toomas Hendrik Ilves bekundete seine Unterstützung für Wassiljewa via Twitter und deutete an, dass ihre Verhaftung im April 2020 darauf zurückzuführen sei, dass sie die offiziellen COVID-19-Zahlen des Kremls in Frage gestellt hatte.
Auch die britische NGO Amnesty International wurde von der Aktivistengruppe getäuscht, da sie der Meinung war, dass die russischen Behörden "Kritik mehr fürchten als die tödliche COVID-19-Pandemie". Ein entsprechender Amnesty-Artikel ließ viele kritische Aspekte des Falles aus und verzerrte das Bild zugunsten Wassiljewas.
Während die "Ärzte-Allianz" in Russland im Wesentlichen unbekannt ist, ist ihr Ruhm in der Anglosphäre global geworden. Trotz der Tatsache, dass sie in der medizinischen Gemeinschaft wenig Unterstützung findet und keine wirkliche Veränderung erreichte, haben Wassiljewa und die "Ärzte-Allianz" gewonnen. Die westliche Presse frisst ihnen aus der Hand, und das ist das eigentliche Ziel. Noch einmal: Es gibt zwei Russlands – das eine, in dem 146 Millionen Menschen leben, und die Fantasieversion, die die westlichen Medien ihren Lesern präsentieren.
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