von Zlatko Percinic
Im historischen Rückblick fragt man sich oft, wie dieses oder jenes geschehen konnte. Wie konnte beispielsweise die deutsche Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus diese Politik und sogar den Holocaust mittragen? Wie konnten die US-Amerikaner – und mit ihnen einige Europäer – nach dem 11. September 2001 die vollständige Verwandlung einer relativ freien Gesellschaft zu einem Überwachungsstaat hinnehmen?
Die Antwort ist immerzu dieselbe: Die Regierung benutzte stets aktuelle Entwicklungen, um der Bevölkerung durch gezielte Propaganda Angst einzujagen, und produzierte Feindbilder, die am Ende die Realität ersetzten.
Ähnliches kann man auch in der gegenwärtigen Corona-Krise beobachten. Wir haben ein Virus, das sich rasend schnell ausbreiten konnte und zu einer Pandemie führte. Tatsache ist, dass die Menschen für diesen Virustyp über keinerlei Antikörper verfügen und sich deshalb schneller anstecken können. Während er bei der absoluten Mehrheit der Fälle nur leichte bis milde Symptome hervorruft, gehören die Senioren und Menschen mit schweren Vorerkrankungen zur Risikogruppe, bei denen die durch das Virus ausgelösten Komplikationen zum Tod führen können.
Soweit die Faktenlage. Man kann sich nun darüber streiten, ob man diese oder jene Maßnahme hätte früher einleiten sollen, um die Verbreitung einzudämmen. Oder ob es sinnvoll oder notwendig war, die Wirtschaft herunterzufahren und die Menschen in ihre Wohnungen zu verbannen, während gleichzeitig noch Wochen später Flüge aus Ländern wie China, dem Iran oder Italien landen und die Fluggäste ungehindert einreisen konnten.
Solche Fragen stellen sich, wenn man den Umfragen Glauben schenken darf – aber nur den allerwenigsten. Politik und Polizei melden seit Tagen, dass die seit drei Wochen geltenden Ausgangsbeschränkungen größtenteils eingehalten werden, ohne dass es auf deutschen Straßen eines Großaufgebots von bewaffneten Polizisten, Militärs oder sonstigen Freiwilligenverbänden bedurft hätte. Dass das so ist, hat natürlich etwas mit der realen Gefahr einer Ansteckung zu tun, aber auch mit der massiven Medienkampagne #WirBleibenZuhause und der vernichtenden Kritik gegenüber abweichenden Meinungen, selbst wenn sie von Experten kommen.
Dass dabei die Grundrechte auf eine Weise beschnitten werden, die bis vor Kurzem kaum vorstellbar war, scheint nicht wirklich zu stören. Dass der Bevölkerung vonseiten der Regierung quasi Hausarrest erteilt wurde und all jene Rechte suspendiert wurden, für die andere Menschen in den vergangenen 70 Jahren auf die Straße gegangen sind, hat man stillschweigend akzeptiert. Die eingetrichterte Angst vor dem unsichtbaren Feind war so allumfassend, so allgegenwärtig, dass sich die Bevölkerung mit den Erklärungen des alles andere als souverän und überzeugend auftretenden Präsidenten des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, zufriedengab. Es ist schließlich kein Krieg, es fallen keine Bomben, sagte mir eine Überlebende des Dresdner Feuersturms 1945.
Das stimmt, es fallen keine Bomben. Jugendliche, denen man ansonsten nachsagt, von rebellischer Natur zu sein, und die in den vergangenen Jahrzehnten die Protestbewegungen anführten, sitzen nun stumm vor ihren Handys und gehorchen ausnahmsweise den Anweisungen ihrer Eltern. Noch vor wenigen Monaten waren sie zu Hunderttausenden auf den Straßen und protestierten lautstark für mehr Klimaschutz. Auch in den vergangenen Jahrzehnten waren es die Jugendlichen und Studenten, die immer wieder auf die Straße gingen und sich für ihre Freiheit einsetzten.
Es regte sich erst ein zaghafter Widerstand, als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) durch die Hintertür eine Handyüberwachung ins neue Infektionsschutzgesetz einschreiben wollte und somit einem Überwachungsstaat Tür und Tor geöffnet hätte. Dieser Punkt wurde dann vorerst zu den Akten gelegt, und man setzt nun auf die freiwillige Bereitschaft der Bevölkerung, sich kontrollieren zu lassen. Kein Wunder, schlagen Experten wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgericht, Hans-Jürgen Papier, Alarm. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) sagte er:
Was Sie da einmal angeleiert hätten, würden Sie nicht mehr los. Dann sind wir in einer total überwachten Gesellschaft. Es klingt ja erst mal ganz verlockend, also immer noch besser, als den Leuten das Ausgehen zu verbieten. Aber ich warne vor solchen Tendenzen hin zu einem totalen Überwachungsstaat, von den Gefahren für die Datensicherheit einmal ganz abgesehen.
Einer, der diese Verwandlung nach dem 11. September 2001 in den USA miterlebt und aktiv mitgestaltet hat, ist Edward Snowden. Er warnte davor, dass nun im Zuge der Corona-Krise das Gleiche passiert wie in den USA nach 9/11. Aus seinem Moskauer Exil sagte er:
Ein Virus ist schädlich, aber die Auflösung von Rechten ist tödlich. Das ist eine permanente Sache, die wir nicht zurückbekommen. Wenn wir ein Recht verlieren, für das wir in einer Revolution gekämpft haben, für das es eine Bewegung gab, das uns hundert Jahre Mühe kostete: Und dann verlieren wir es in einem Moment der Panik. Das ist der Zusammenhang mit 9/11.
Damit hat Snowden natürlich vollkommen recht. Ob es das ist, was die Regierung plant oder nicht, sei mal dahingestellt. Was zählt, ist das, was nach Ende der Pandemie übrig bleibt. Und das sind genau die Dinge, die in der Krise als vermeintliches Mittel zur Bekämpfung derselbigen eingeführt und ins Gesetzbuch eingetragen werden. Was man erst mal angeleiert hat, wird man nicht mehr los, sagte selbst der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Wie schnell das gehen kann, dass die Bevölkerung plötzlich in einem ganz anderen Land aufwacht, zeigt die gegenwärtige Krise augenscheinlich. So ließ beispielsweise Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nichts anbrennen, als er bereits Mitte März den Vorschlag unterbreitete, Grundgesetzänderungen vorzunehmen, damit Gesetze auch dann verabschiedet werden können, falls der Parlamentsbetrieb eingestellt würde. Das ging dann – glücklicherweise – den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen doch zu weit und sie lehnten diesen Vorschlag ab.
Ein weiteres Phänomen der Corona-Krise ist die "Militarisierung der Pandemiebekämpfung", wie es der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Linke) nennt. So gibt es in einigen Kommunen Pläne, die Bundeswehr mit polizeilichen Aufgaben zu betrauen, was vom Verteidigungsministerium unter Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) forciert wird. Mit dieser "schleichenden Vermischung der Kompetenzen für innere und äußere Sicherheit" werde die strikte Trennung der Sicherheitsorgane aufgeweicht, heißt es in einem Positionspapier.
Dabei ist das längst keine Entwicklung mehr, die nur auf Deutschland beschränkt ist. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron sogar einen Krieg gegen das Coronavirus ausgerufen, was eigentlich so lächerlich ist wie der "Krieg gegen den Terror", den der damalige US-Präsident George W. Bush nach 9/11 ausgerufen hatte. Man kann keinen Krieg gegen den Terror führen, und noch viel weniger kann man einen Krieg gegen ein Virus führen.
Trotzdem verfolgt auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell genau diese Strategie. Die EU-Staaten sollten sich stärker über Einsatzmöglichkeiten ihrer Armeen im Kampf gegen das Coronavirus austauschen, sagte Borrell am 6. April nach einer Videokonferenz mit den Verteidigungsministern der Union. Eine Arbeitsgruppe, die in seinem Büro angesiedelt wäre, könnte demnach mit dieser Aufgabe betraut werden und überprüfen, welche Möglichkeiten es für die Armeen gibt.
Eines scheint aber festzustehen: Die Veränderungen, die jetzt vorgenommen werden, bedeuten am Ende nicht mehr Freiheit und Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger, sondern vermutlich weniger. Die Menschen sollten ganz genau darauf achten, welche Realität sie an jenem Tag vorfinden werden, wenn sie wieder aus ihren Wohnungen heraus und in den Alltag zurückkehren dürfen.
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