Die Tinte unter dem Abkommen zwischen der US-Regierung und den afghanischen Taliban war noch nicht trocken, da hieß es bereits, dass sich letztere nicht an "die Vereinbarung" gehalten hätten. Der US-Luftschlag erfolgte demzufolge, weil die afghanischen Kämpfer im Bezirk Nahr-e Saradsch (Nahri Saraj) in der südafghanischen Provinz Helmand einen Posten des afghanischen Militärs angegriffen hatten. Zuvor sollen die Taliban Stadt zwei Kontrollpunkte in der Stadt Kundus angegriffen und mindestens 20 afghanische Soldaten und Polizisten getötet haben. Der Talibansprecher Kari Jusuf Ahmadi meldete seinerseits Angriffe in Helmand, Urusgan und Kandahar.
Das am Samstag in Doha im Golfemirat Katar abgeschlossene Abkommen zwischen der US-Regierung und den Taliban sieht einen Abzug aller US- und internationalen Truppen bis Ende April kommenden Jahres vor. Im Gegenzug sollen die Taliban demzufolge Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung aufnehmen. US-Präsident und Wahlkämpfer Donald Trump hatte sich erneut persönlich in die entsprechenden Gespräche eingeschaltet und diese forciert.
Eine Vorbedingung des Abkommens war eine "einwöchige Verringerung der Gewalt". Diese Phase endete offiziell am vergangenen Freitag. Der mutmaßliche Angriff der Taliban erfolgte erst in der Nacht zum Mittwoch, demnach also erst nach dem Auslaufen der im Abkommen vereinbarten Frist.
Während des siebentägigen Rückgangs der Gewalt, der dem Rückzugsabkommen vorausging, fielen die Angriffe der Taliban von einem Höchststand von 125 pro Tag auf etwa 15 pro Tag", berichten US-Medien.
Das am 29. Februar unterzeichnete Abkommen erlaubt es den US-Streitkräften jedoch, die afghanischen Regierungseinheiten und die Polizei des Landes militärisch zu verteidigen – Luftangriffe inbegriffen.
Der Rückgang der Gewalt ist jetzt beendet, und unsere Operationen werden normal weitergehen. Gemäß dem (USA-Taliban-)Abkommen werden unsere Mudschahedin keine ausländischen Streitkräfte angreifen, aber unsere Operationen werden gegen die Streitkräfte der Kabuler Regierung fortgesetzt", erklärte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid.
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Um einen Friedensvertrag im klassischen Sinn handelt es sich bei dem Abkommen nicht, da die afghanische Regierung nicht unmittelbar an den Gesprächen beteiligt war. Der wichtigste Teil des Abkommens besteht daher darin, dass die Taliban Verhandlungen mit der afghanischen Regierung erst zusagen – das würden dann die eigentlichen Friedensgespräche werden.
Die Gespräche sollen der Vereinbarung zufolge zu einem dauerhaften Waffenstillstand und einem politischen Fahrplan für die Zukunft Afghanistans führen. Den Beteiligten ist daher auch bewusst, dass es sich bei dem Doha-Abkommen lediglich um einen ersten Schritt hin zu einem dauerhaften Frieden in Afghanistan handeln kann. US-Außenminister Mark Esper gab folglich am Montag zu bedenken, dass es in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder zu Rückschlägen komme könne:
Das wird eine lange, kurvige und holprige Strecke", erklärte er vor Journalisten.
Ebenfalls am Montag gab Esper bekannt, dass das US-Militär "in diesen Tagen" mit dem Abzug erster Einheiten beginnen werde. Rund 8.600 US-Soldaten würden aber bis auf weiteres im Land bleiben und könnten bei Bedarf alle nötigen Einsätze durchführen.
Zudem erklärte der US-Generalstabschef Mark Milley vor dem Senatsausschuss für die US-Streitkräfte, dass es sich bei den jüngsten Angriffen lediglich um "begrenzte" Schläge der Taliban gehandelt habe:
Unterm Strich gab es in den letzten 24 bis 48 Stunden eine Vielzahl von Angriffen. Sie wurden alle zurückgeschlagen. Sie erfolgten auf kleine Außenposten. Wir haben zur Unterstützung unserer Verbündeten US-Luftstreitkräfte eingesetzt.
Milley ergänzte:
Was aber für das Abkommen wichtig ist: Wir befinden uns am 4. Tag; es handelt sich um kleine Angriffe auf niedriger Ebene an Kontrollpunkten und dergleichen. Von Bedeutung ist: Es gibt keine Angriffe auf 34 Provinzhauptstädte; es gibt keine Angriffe in Kabul; es gibt keine hochkarätigen Angriffe; es gibt keine Selbstmordattentäter; (...) kein Angriff gegen die US-Streitkräfte; kein Angriff gegen die Koalition. Es gibt eine ganz lange Liste mit diesen Dingen, die nicht passieren.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg überzeugt all das freilich nicht:
Wir können unseren Teil des Deals nur erfüllen, wenn die Taliban ihren Teil des Deals erfüllen", erklärte Stoltenberg jetzt am Rande eines Treffens der EU-Verteidigungsminister in Zagreb.
Demnach hinge eine Reduzierung westlicher Truppen von einer deutlichen "Reduzierung der Gewalt" - durch die Taliban – ab. Das dies ganz offensichtlich bereits zu beobachten ist, was nach fast zwanzig Jahren Krieg einen immensen Erfolg darstellt, scheint Stoltenberg nicht zu beirren. Damit missachtet Stoltenberg auch die jüngsten Entwicklungen, anhand derer sich kein gravierendes und gegen das Abkommen verstoßendes Fehlverhalten der Taliban dokumentieren lässt.
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Auch die NATO hatte im Zuge des USA-Taliban-Abkommens zugesagt, ein Viertel ihrer Truppen aus dem Land abzuziehen.
Wir planen eine Reduzierung von derzeit 16.000 Soldaten auf 12.000 Soldaten", hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg gegenüber dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) erklärt. Bei rund der Hälfte der Soldaten handele es sich nicht um US-Einheiten. Zugleich unterstrich der Norweger, Bedingung für den Abzug der NATO-Kräfte sei es, dass die "militant-islamistischen Taliban" sich an die Vereinbarungen des Abkommens halten. Weitere Details nannte er nicht. Allerdings sieht mutmaßlich auch Stoltenberg "keine Alternative" zu Verhandlungen mit den Taliban.
Sollte das Abkommen von Doha halten, würde auch der deutsche Bundeswehreinsatz am Hindukusch nach über 19 Jahren enden. Damit wäre eine Kernforderung der Taliban erfüllt, die seit Beginn des Angriffskrieges den Abzug aller ausländischen "Invasoren" fordern. Doch nun schaltete sich auch Bundesaußenminister Heiko Maas in die diffizile Entwicklung ein – und warb für einen Verbleib der "Truppe" in dem umkämpften Land:
Maas betonte, die internationale Staatengemeinschaft dürfe Afghanistan gerade jetzt nicht allein lassen", zitiert der Öffentlich-rechtliche Rundfunk den deutschen Außenminister.
Die SPD-Fraktion im Bundestag will Afghanistan ebenfalls weiterhin "unterstützen". Demzufolge soll sich die Bundeswehr "weiterhin an der NATO-geführten Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission Resolute Support in Afghanistan beteiligen."
Nach dem Willen der Bundesregierung soll das Parlament das Bundeswehrmandat für Afghanistan bis zum 31. März 2021 verlängern. Eingesetzt werden sollen wie bisher bis zu 1.300 Soldaten.
Derweil berichtet das US-Magazin Politico, dass US-Präsident Trump in Washington aufgrund des anvisierten vollständigen Truppenabzugs aus Afghanistan unter Druck gerät. Demnach forderten Republikaner wie der US-Senator Lindsey Graham das Weiße Haus dazu auf, "US-Sondereinheiten und möglicherweise auch paramilitärische CIA-Offiziere" in Afghanistan zu belassen. Demzufolge solle dadurch der Druck auf die Taliban aufrechterhalten bleiben und die "Antiterroroperationen gegen Al-Qaida und den islamischen Staat" fortgesetzt werden.
Wir werden auf Jahre hinaus verbleibende Kräfte der USA und eine Präsenz zur Terrorismusbekämpfung brauchen, denn ich traue den Taliban nicht zu, Al-Qaida und den ISIS in Schach zu halten", ist Graham überzeugt.
Die Verhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung sollen nach bisherigem Stand am kommenden Dienstag beginnen.