Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan versucht in diesem Jahr erneut, was ihm im Jahr 2015 bereits geglückt war. Mit der Grenzöffnung machten sich damals Hunderttausende Menschen auf den Weg. Dieser Vorgang führte dazu, dass sich die EU alles andere als geeint zeigte und sich tiefe Risse mitten durch die Union und die Gesellschaften bildeten. Um den angerichteten Schaden nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, vereinbarte Brüssel mit der Türkei den Flüchtlingspakt im Wert von rund sechs Milliarden Euro im Jahr 2016.
Seitdem haben es die EU-Länder aber nicht geschafft, sich auf einen Konsens in der Migrationsdebatte zu einigen, geschweige denn eine Lösung zu finden. Während sich Deutschland mit anderen Staaten um einen automatischen Verteilschlüssel von Migranten stritt, die es irgendwie übers Mittelmeer nach Malta oder Italien geschafft haben, wuchs gleichzeitig in Ankara der Unmut darüber, dass man erneut auf sich allein gestellt ist.
Immer wieder drohte Erdoğan damit, die "Tore" zur EU zu öffnen, und warf Brüssel vor, den finanziellen Versprechungen nicht nachzukommen. Erst als in der syrischen Provinz Idlib am 27. Februar nach einem Luftschlag auf einen türkischen Kommandostab Dutzende Armeeangehörige der Türkei ums Leben kamen, veränderte sich die Ausgangslage auf dramatische Weise. Erdoğan erklärte, dass sein Land die Kosten nicht mehr selbst stemmen könne, und ordnete deshalb die Öffnung der Grenzen an.
Seitdem schwillt die Menschenmenge hauptsächlich an der türkisch-griechischen Grenze immer weiter an. Mit Bussen werden Migranten und syrische Flüchtlinge an die Grenze gebracht. Es gibt Berichte und Videos in sozialen Netzwerken, die regelrechte Hetzjagden aus verschiedenen türkischen Städten gegen syrische Läden und Bewohner zeigen. In einem Video wurde eine Situation aufgenommen, in der ein türkischer Beamter mit gezogener Waffe Migranten in einem Bus bedroht und sie auffordert, zur Grenze zu gehen.
Doch Griechenland denkt gar nicht daran, diese Menschen illegal und ungeordnet ins Land zu lassen. Und damit steht Athen nicht allein da. Die gesamte EU-Führung reiste am 3. März an die griechisch-türkische Grenze und stellte sich demonstrativ hinter die griechische Haltung. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sprach sogar von einem "Angriff der Türkei auf die EU".
Auch die deutsche Bundesregierung sucht nach einem Schuldigen für das Drama an der EU-Außengrenze. Allerdings sieht sie das Problem nicht bei der Türkei, die die Grenzen geöffnet hat und die Menschen in organisierter Form an die Grenzen bringt, sondern bei Russland.
Bereits am 3. März forderte Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, "den Druck auf Russland erhöhen" zu müssen, um so den "Flüchtlingen in der Türkei (zu) helfen". Am nächsten Tag meldete sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zu Wort und wiederholte nahezu dieselben Worte wie Röttgen zuvor. Zudem halte sie Sanktionen gegen Russland für denkbar, um so die Angriffe auf die hart umkämpfte Terroristenhochburg Idlib einzustellen. Auch Rainer Breul, Sprecher des Auswärtigen Amtes, betonte bei der Bundespressekonferenz am Mittwoch, dass man sich von Russland "wünsche", den "Kurs zu wechseln". Nur so könne die Situation an der EU-Außengrenze entschärft werden, ist man offensichtlich in Berlin der Überzeugung.
Mit dieser Haltung steht die Bundesregierung in der gegenwärtigen Krise ziemlich allein da. Nicht nur der österreichische Kanzler, auch die möglicherweise von einer Migrantenwelle betroffenen Länder in Südosteuropa erkennen ganz genau, was Präsident Erdoğan bezweckt, und scheuen nicht davor zurück, das Kind beim Namen zu nennen. Selbst Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian bezeichnete das türkische Vorgehen als "inakzeptable Erpressung", und EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas meinte:
Niemand kann die EU erpressen oder einschüchtern.
Solche Worte hat man von der Bundesregierung bisher noch nicht gehört. Stattdessen hält Kanzlerin Angela Merkel weiterhin an ihrer mit immens hohen Kosten verbundenen Anti-Russland-Politik fest. Dafür paktierte Berlin bereits in der Ukraine offen mit Rechtsradikalen wie Oleh Tjahnybok und ignorierte Neonazis des Rechten Sektors oder des Asow-Bataillons, die einen Krieg gegen die eigene russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes führen.
In Syrien ist das Bild nicht anders. In der Provinz Idlib gibt man vor, der "Opposition" helfen zu wollen, die die Regierung von Präsident Baschar al-Assad in Damaskus bekämpft – wohlwissend, dass es sich dabei um salafistische Dschihadisten handelt, die aus Syrien einen islamistischen Gottesstaat nach saudi-arabischem Vorbild erstellen wollten.
Dazu kommt, dass diese Dschihadisten oftmals auch Angehörige von Terrorgruppierungen sind, die selbst in Deutschland als solche eingestuft sind. Trotzdem werden sie offiziell von der Türkei unterstützt und kämpfen Seite an Seite mit der türkischen Armee gegen syrische Regierungstruppen. Und de facto auch gegen Russland, das auf der Seite der Syrer steht. Für Merkel, Röttgen oder Kramp-Karrenbauer reicht das offensichtlich vollkommen aus, um Moskau für die Situation an der EU-Außengrenze verantwortlich zu halten.
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