Nach Gerhard Schröder und Andrej Hunko ist in der Datenbank des berüchtigten ukrainischen Internetprangers "Mirotworez" (dt.: Friedensstifter) ein weiterer prominenter Deutscher aufgetaucht: niemand Geringerer als Wolfgang Ischinger. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz schreiben Autoren des Projekts dem Journalisten und Diplomaten solche angeblichen Todsünden wie "Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine", "Teilnahme an Propagandaaktivitäten Russlands" und "Manipulation gesellschaftlich wichtiger Informationen" zu. Dabei ist Ischinger alles Andere als Russlandfreund und Putinversteher: Hier seine Twittermeldung zum Ausgang des letzten bisherigen Treffens im Normandieformat.
De facto akzeptieren Berlin und Paris die Aussicht auf einen eingefrorenen Konflikt. Damit hat Putin nicht verloren, und Selenskij nicht gewonnen. Gar nicht gut. Doch es könnte viel schlimmer sein.
Die Aufnahme Ischingers in die Datenbank von "Mirotworez" lässt mehrere äußerst interessante Folgerungen zu, die sich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Doch der Reihe nach.
Frieden im Jenseits
Zunächst einmal sollte hier betont werden, dass der Ausdruck "Todsünden" im Zusammenhang mit Vorwürfen seitens der selbsternannten Friedensstifter durchaus wörtlich zu nehmen ist: Mehrere Kritiker der aktuellen Politik der ukrainischen Regierung fanden sich zuerst in der Datenbank des Internetprangers und im Anschluss innerhalb nur kurzer Zeit im Jenseits wieder. Dazu gehört der ukrainische Patriot, Buchautor und Journalist Oles Busina, der den Maidan kritisierte und kurz nach seiner Aufnahme in die Datenbank am 16. April 2015 in Kiew auf der Straße niedergeschossen wurde. Ähnlich erging es dem Oppositionspolitiker und früheren Rada-Abgeordneten der Regionen-Partei Oleg Kalaschnikow.
Offizielle Abschussliste der ukrainischen Sicherheitsdienste
Genauso wichtig ist der offizielle Charakter von "Mirotworez". Wir erinnern uns: Die Internetseite wurde im Jahr 2014 auf Initiative von Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministers Arsen Awakow, eingerichtet.
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Als Partner wurden auf der Internetseite zudem bis zum 13. Mai 2016 auch der Geheimdienst SBU und weitere Sicherheitsstrukturen des Landes gelistet. Ob die anschließende Entfernung der Sicherheitsdienste aus der Partnerliste als Aufkündigung der Partnerschaft verstanden werden sollte, ist angesichts des Standes der Dinge mehr als zweifelhaft. Die beiden des Mordes an Oles Busina dringend verdächtigten Andrei Medwedko und Denis Polischtschuk sind längst auf freiem Fuß, obwohl keine abschließende Ermittlung stattgefunden hat. Die Absicht, eine solche Ermittlung wiederaufzunehmen, lassen die ukrainische Polizei und Staatsanwaltschaft nach wie vor nicht erkennen.
Ergebnisse der Münchner Sicherheitskonferenz in Bezug auf die Ukraine und Reaktion des Transatlantic Council
Was aber hat Wolfgang Ischinger als Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz denn nun geleistet, was ihm den Zorn der "Mirotworez"-Betreiber und ihrer Auftraggeber einbrachte? Ganz einfach.
Im Rahmen der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, die Ischinger leitet, wurde ein Zwölf-Schritte-Plan zur Beendigung des Krieges in der Ukraine veröffentlicht, der gemeinsam von drei internationalen Organisationen und dem Russischen Rat für Auswärtige Angelegenheiten entwickelt wurde. Gleich als Zweiter in der Liste der Unterzeichner ist Ischinger zu finden. Das Dokument wurde im Geiste der Minsker Vereinbarungen verfasst, bezweckt eine politische Lösung für den bewaffneten Konflikt im Südosten des Landes und eine Verbesserung der "Aussichten auf einen konstruktiven ukrainisch-russischen Dialog im weiteren Sinne".
Vor allem aber scheint den Auftraggebern von "Mirotworez" die im Dokument unter anderem vorgeschlagene Schaffung einer Freihandelszone in der Ukraine unter Einschluss Russlands sowie eine Stärkung des Dialogs zwischen der EU und Russland für ein "gezieltes Management" mit dem Zweck, das Minsker Abkommen umzusetzen, ein Dorn im Auge zu sein.
In ihrer Argumentation stellen die Autoren der Internet-Abschussliste fest, dass dieses Dokument "auf die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland abzielt – ohne eine Aufhebung der Krim-Besatzung und ohne die Erfüllung der Anforderungen der Ukraine an den Donbass –, sowie auf eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und auf eine Annäherung zwischen Russland und der Europäischen Union".
Jenseits des Atlantiks protestierten auch die Experten der US-Denkfabrik Atlantic Council einhellig gegen dieses Dokument, dem sie ein eigenes Dokument entgegenstellten. Unter den Unterzeichnern finden sich 27 Namen von US-Experten. Ihr Einfluss und der von ihnen ausgeübte Druck ist nicht zu unterschätzen: Bereits am Freitagnachmittag, dem 14. Februar 2020, verschwanden die "Zwölf Schritte" von der Webseite der Münchner Konferenz. Ab diesem Zeitpunkt war das Dokument lediglich auf den Webseiten der MSC-Partner European Leadership Network und RIAC abrufbar. Erst in der Nacht zum Sonntag wurde es wieder zugänglich gemacht.
Geistige Umnachtung der ukrainischen Sicherheitsdienste oder Ausdruck doppelzüngiger US-Außenpolitik?
Welche Schlüsse kann man anhand dieses Kontexts aus der Aufnahme Ischingers in die Abschussliste der ukrainischen Sicherheitsdienste ziehen?
Der erste: Das ukrainische Establishment rutscht zusehends in den Zustand geistiger Umnachtung ab. Denn einen prominenten deutschen Diplomaten auf "Mirotworez" zu listen, könnte nur die mögliche Folge haben, dass die Europäische Union und die NATO – und allen voran deren Mitglied Deutschland –, mit denen die ukrainische Regierung eine Partnerschaft aufbauen will und mit denen sie eine Mitgliedschaft anstrebt, vergrault werden.
Immerhin sehen die vernünftigeren Kräfte vor allem in den europäischen Ländern in einem Weiterschwelen und erst recht in einem möglichen Wiederaufflammen des Konfliktes im Südosten der Ukraine ernst zu nehmende Gefahren für ihre Wirtschaft und ihre Sicherheit. Und bei einer gegenüber Russland betriebenen Realpolitik in Ischingers Auffassung ginge es gerade darum, ein solches Wiederaufflammen zu vermeiden und den Konflikt soweit wie möglich zu begrenzen. Eine solche Folgerung ist natürlich nicht komplett auszuschließen, da es in der ukrainischen Regierung mit Kompetenzen auch ansonsten nicht besonders weit her ist.
Eine zweite Folgerung ist allerdings wahrscheinlicher: Es sind Teile der US-Elite mit Verbindungen zu den US-Geheimdiensten, die sich eine Schwächung der partnerschaftlichen Bindungen der Ukraine mit den Ländern jenseits ihrer Westgrenzen wünschen. Im Interesse derselben Eliten wäre die Aufrechterhaltung des Konfliktes im Südosten der Ukraine; auch eine Eskalation würde ihren Interessen entsprechen. Diesen Kräften ist es zuzutrauen, in einer entsprechenden Weise auf den ukrainischen Sicherheitsdienst SBU zu wirken. Dieser könnte seinerseits, ob direkt oder indirekt, über das ukrainische Innenministerium einen entsprechenden Auftrag an die Betreiber des Internetprangers "Mirotworez" geleitet haben.
Darüber, dass der SBU spätestens seit dem Maidan im Jahr 2014 zu einer Filiale des CIA geworden ist, gab der Augenzeuge und bislang größter Whistleblower innerhalb der ukrainischen Sicherheitskräfte, der ehemalige Oberstleutnant des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU Wassili Prosorow, bei einer Pressekonferenz am 25. März in Moskau zum Abschuss der MH17 Auskunft. Er war von Anfang des Bürgerkrieges in der Ostukraine bis Ende 2017 Stabsoffizier und wusste über die internen Vorgänge bestens Bescheid.