In der Staatstheorie beschreibt der Begriff "imperiale Überdehnung" die Tendenz mächtiger und geographisch einflussreicher Staaten, ihre Kräfte durch den gleichzeitigen Einsatz personeller und materieller Ressourcen an einer Vielzahl von Einsatzorten zu überfordern.
In diesem Licht ist wohl die Absicht von US-Verteidigungsminister Mike Esper zu betrachten, eine Restrukturierung der weltweit stationierten US-Streitkräfte vorzunehmen. Esper erklärte Ende Januar, dass er jedoch keinen festen Zeitplan für den Abschluss der sogenannten "verteidigungsweiten Überprüfung" aufzustellen beabsichtige.
Ich möchte ziemlich schnell vorankommen", verriet der US-Verteidigungsminister knapp.
Vor allem US-Experten sind der Ansicht, dass eine entsprechende Truppenerhebung dringend geboten sei, da etwa China enorme militärische Fortschritte getätigt habe, während Washington sich militärisch vor allem auf die "Terrorismusbekämpfung im Irak, Afghanistan und anderswo" fokussiert habe.
Strategisches Ziel der weltumspannenden Überprüfung ist die Freisetzung bislang gebundener Streitkräfte und Ressourcen, um sich ganz den von Washington ausgemachten US-Rivalen im "globalen Wettbewerb der Mächte" widmen zu können – China und Russland.
Insbesondere Befürworter des US-Engagements in Lateinamerika und Afrika fürchten nun, dass der dortigen Sorge Washingtons um Freiheit, Menschenrechte und Demokratie in Zukunft nicht mehr genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden könnte. Ohnehin handelt es sich bei Afrika und Lateinamerika um Weltregionen die – für US-amerikanische Verhältnisse – demnach bislang eine militärische Nebenrolle spielen.
Ein besorgter US-Beamter formuliert es wie folgt:
Nur eine Anekdote: Wenn Sie vor zehn Jahren für Geheimdienstinformationen hierherkamen, hatten wir eine Kolumbien-(Geheimdienst-)Abteilung. Eine Abteilung von Analytikern, die in Kolumbien tätig waren. Im Moment haben wir zwei Analysten, die in Kolumbien arbeiten", gab der Beamte unter Zusicherung von Anonymität zu Protokoll.
Derweil beeilte sich Esper zu betonen, dass eine Erhebung der weltweiten US-Kräfte nicht zwingend gleichbedeutend sei mit deren jeweiliger Reduzierung.
Jeder geht immer davon aus, dass, wenn wir von Überprüfungen sprechen, dies eine Reduzierung bedeutet. Nicht unbedingt. Das ist eines der Dinge, die ich versucht habe zu zerstreuen. Es mag zwar die Anpassung der Größe bedeuten, aber es könnte auch die Hinzufügung von Streitkräften in eine Region bedeuten, wenn wir sie brauchen", präzisierte Esper das Pentagon-Vorhaben.
In Sachen Afrika stand zunächst gar ein vollständiger US-Rückzug im Raum, um dort eingesetzte Kräfte und Ressourcen andernorts einsetzen zu können. Doch der Überfall der al-Shabaab bei dem Anfang Januar drei US-Soldaten des 3rd Marine Raider Battalion in Kenia ums Leben kamen, weckte demnach die Skepsis von "Sicherheitsexperten" hinsichtlich einer Reduzierung von Truppen auf dem europäischen Nachbarkontinent.
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Tatsächlich erklärte der US-Verteidigungsminister und ehemalige Vizepräsident für Regierungsbeziehungen beim US-Rüstungskonzern Raytheon nun gegenüber Journalisten im Pentagon, dass zumindest ein kompletter Rückzug der US-Truppen aus Afrika nicht mehr zur Debatte stehe.
Laut Esper könnten die USA im Rahmen des U.S. Africa Command (AFRICOM) ihre Streitkräfteposition in Bereichen erhöhen, in denen sich der "große Wettbewerb der Mächte" besonders bemerkbar mache. In Folge würde sich demzufolge der bislang vermeintlich auf "Antiterroroperationen" liegende Schwerpunkt offiziell verschieben. Die USA sind aktuell mit gut 6.000 Soldaten auf dem gesamten afrikanischen Kontinent präsent.
Wir werden unsere Streitkräfte nicht vollständig aus Afrika abziehen. Ich weiß, dass dies die Sorge vieler Menschen ist, aber ich möchte noch einmal sagen, dass noch keine Entscheidungen getroffen wurden, dies ist ein Prozess", gab Esper zu Protokoll.
Wie der US-Verteidigungsminister hinzufügte, sei noch keine endgültige Entscheidung über die laufende Überprüfung und Neuausrichtung der weltweiten US-Truppen auf der ganzen Welt getroffen worden.
Auch die französische Verteidigungsministerin Florence Parly erklärte gegenüber Reportern bei einer gemeinsamen Pressekonferenz im Pentagon, dass die US-Unterstützung in Westafrika und der Sahelzone essentiell sei. Im Rahmen der Operation Barkhane verfügt Frankreich über knapp 4.500 Soldaten. Ihr Mandat sieht demnach den Kampf gegen militante islamistische Gruppen vor, die seitdem von der NATO forcierten Zusammenbruch Libyens in immer größerer Zahl vor Ort operieren.
Wir danken den Vereinigten Staaten für die Unterstützung, die sie unseren Operationen in den letzten sieben Jahren gewährt haben. Aber ich hatte die Gelegenheit, noch einmal zu sagen, dass die Unterstützung der USA für unsere Operationen entscheidend ist und dass ihre Reduzierung unsere Wirksamkeit gegen Terroristen stark einschränken würde", appellierte Parly im Pentagon an das US-Militär.
Im Vorfeld hatte sich insbesondere Frankreich aufgrund einer möglichen Reduzierung der US-Truppen in Afrika alarmiert gezeigt. Parly warnte Esper, dass die gemeinsamen Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung in Westafrika durch eine mögliche Kürzung der US-Militärhilfe für das AFRICOM beeinträchtigt würden.
Während einer Kongressanhörung erklärte der Leiter des US-Afrika-Kommandos, dass ein voreiliger Entzug der Unterstützung Frankreichs in der Sahelzone bedeuten würde, dass die Bemühungen im Kampf gegen militante Gruppen "nicht in eine gute Richtung gehen würden".
Laut Esper bestünde sein Hauptziel in der Umsetzung der Nationalen Verteidigungsstrategie und die Adressierung der wachsenden globalen Konkurrenz.
Wenn ich mir diese Strategie anschaue, ist es mein Ziel, Zeit, Geld und Arbeitskräfte rund um den Globus freizusetzen, so dass ich sie entweder auf diese Region [China und Russland, Anm. d. Red.] ausrichten oder zweitens die Streitkräfte in die Vereinigten Staaten zurückbringen kann, um sie darauf zu trainieren, besser vorbereitet zu sein und ihre Bereitschaft zu verbessern", so Esper.
Laut dem Stabschef der US-Armee General James C. McConville beschreibt die Nationale Verteidigungsstrategie Washingtons die vom Verteidigungsministerium vorzunehmenden Maßnahmen, um im wahrgenommenen Wettbewerb mit Russland und China erfolgreich zu sein, sagte der Stabschef der Armee.
Mit zwei Worten: Die nationale Verteidigungsstrategie besteht darin, stark und innovativ zu sein, um vor Konflikten abzuschrecken oder um zu gewinnen, wenn Diplomatie und Abschreckung versagen", erklärte McConville nach Angaben des US-Verteidigungsministerium vor dem Atlantic Council.
Laut dem US-General verfüge das US-Militär nicht über genügend Soldaten, um gleichzeitig an allen Orten der Welt zu sein, an denen es gebraucht würde.
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