Benannt nach dem österreichischen Holocaust-Überlebenden und späteren Nazijäger Simon Wiesenthal, wurde das gleichnamige Zentrum 1977 in Los Angeles gegründet. Es hat es sich zur Aufgabe gemacht, weiter für die Verfolgung von untergetauchten Nazis zu kämpfen und sie nach Möglichkeit vor ein Gericht zu bringen. Außerdem setzt sich das Simon Wiesenthal Center für den Schutz von Juden weltweit ein und führt Aufklärungsarbeit über den Holocaust, der Umfragen zufolge immer mehr in Vergessenheit gerät.
Nebst einigen weiteren Tätigkeiten führt es zudem eine Top-Ten-Liste der schlimmsten antisemitischen Vorfälle des Jahres. Auch ein Deutscher landete nun auf Platz sieben dieser Liste. Es handelt sich allerdings nicht etwa um einen Nazi, sondern um den UN-Botschafter Christoph Heusgen. Man fragt sich, was Heusgen getan oder gesagt haben muss, um es auf eine Liste der "schlimmsten antisemitischen Vorfälle" geschafft zu haben. Sein "Verbrechen"? Er sprach sich bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates im März für die Einhaltung des Völkerrechts aus, um Zivilisten sowohl in palästinensischen Gebieten als auch in Israel zu beschützen.
Wir glauben, dass das Völkerrecht der beste Weg ist, um Zivilisten zu beschützen und es ihnen zu ermöglichen, in Frieden und Sicherheit zu leben und keine Angst vor israelischen Bulldozern oder Raketen der Hamas zu haben.
Als ergänzende Rechtfertigung für diese Entscheidung führte das Simon Wiesenthal Center die deutsche Boulevardzeitung Bild an, die "Heusgen in einem Artikel der 'reinen Bosheit' gegen den jüdischen Staat beschuldigt." Am Ende des Eintrags heißt es lakonisch:
Kanzlerin Angela Merkel hat bekanntermaßen in einer Rede 2008 vor der israelischen Knesset erklärt: 'Die Sicherheit von Israel ist für mich als deutsche Kanzlerin niemals verhandelbar.' Es scheint, dass Heusgen diese Memo nie erhalten hat.
Dass es überhaupt soweit kommen konnte, dass ein deutscher Top-Diplomat des Antisemitismus beschuldigt wird, weil er die Einhaltung des Völkerrechts für den besten Schutz von Zivilisten hält, liegt ironischerweise an der deutschen Politik selbst. Indem berechtigte Kritik an Israels Menschenrechtsverstößen in palästinensischen Gebieten offiziell mit Antisemitismus gleichgesetzt werden kann, untergräbt Berlin (und andere Länder wie beispielsweise Frankreich) den moralischen Anspruch, sich für Menschenrechte einzusetzen. Nebenbei bringt das auch noch die eigenen Diplomaten in Verruf, die sich genau dafür öffentlich aussprechen.
Dabei sagt ein weiteres berühmtes jüdisches Institut, das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, dass "Kritik an Israel oder an der Politik der israelischen Regierung nicht automatisch antisemitisch ist". Erst kürzlich haben sich 129 jüdische und israelische Gelehrte in einem offenen Brief an das französische Parlament gewandt. Sie kritisierten die verabschiedete Resolution, die Antizionismus mit Antisemitismus gleichstellte.
Nebst einigen weiteren Erklärungen führten die Gelehrten unter anderem diesen Aspekt in ihrer Kritik an:
Antizionismus ist ein legitimer Standpunkt in der jüdischen Geschichte, der eine lange Tradition hat, einschließlich in Israel. Einige Juden sind aus religiösen Gründen gegen den Zionismus, andere aus politischen oder kulturellen Gründen. Viele Holocaust-Opfer waren Antizionisten. Der Antrag entehrt sie und schändet ihr Andenken, indem er sie rückwirkend Antisemiten nennt.
In Deutschland kommt hingegen die besondere Rolle der Medien im Umgang mit Israel hinzu. Bei den Blättern des Springer-Verlags (Bild, Welt) gehört eine pro-israelische Berichterstattung zu den fünf Unternehmensgrundsätzen, zu der sich die Redakteure verpflichten müssen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Politik wird unterbunden und vermittelt der deutschen Bevölkerung somit ein völlig verzerrtes Bild der Situation. Es ist daher auch kein Zufall, dass das Simon Wiesenthal Center ausgerechnet einen Artikel der Bild als ergänzende Rechtfertigung zitiert, um Botschafter Heusgen auf diese Liste zu setzen.
Auf Platz eins "schaffte" es übrigens die britische Labour-Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn. Als Begründung heißt es dafür:
Niemand hat mehr getan, um den Antisemitismus in den Mainstream des politischen und sozialen Lebens einer Demokratie zu rücken als die von Jeremy Corby geführte Labour Partei.
Rabbi Marvin Hier, der Leiter des Zentrums, war sich dann auch nicht zu schade, um in der britischen Daily Mail dem ebenfalls zum Mainstream gewordenen historischen Revisionismus bezüglich des Zweiten Weltkrieges zu bedienen:
Wenn Winston Churchill und Großbritannien nicht den Kampf gegen den Nazismus im Zweiten Weltkrieg angeführt hätten, wer weiß, ob dann die Alliierten gewonnen hätten? (…) Großbritannien stand an der Spitze zum Sieg über Hitler, und jetzt, zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, fördert die Person, die in Winston Churchills Sessel in No. 10 sitzen will, den Antisemitismus. Sollte Herr Corbyn gewinnen, wird er Großbritannien zu einem Paria auf der Weltbühne machen. Es wird ein Desaster für die Demokratie werden.
Ganz abgesehen davon, dass diese so prominente Attacke gegen Jeremy Corbyn wenige Tage vor den Wahlen eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Großbritanniens darstellt, unterschlug Rabbi Hier die Millionen sowjetischen Opfer, ohne die ein Sieg über Hitler niemals möglich gewesen wäre. Es waren ebenso sowjetische Truppen, die der Judenvernichtung in Auschwitz ein Ende bereitet haben.
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