Als ehemaliger Kommandeur der Eliteeinheit Schajetet 13 und Oberbefehlshaber der israelischen Marine sowie Geheimdienstchef des Schin Bet weiß Ami Ajalon ganz genau, welche Methoden Israel anwendet, um das Land vermeintlich sicher zu halten. Aber es sind auch diese Methoden, insbesondere in den palästinensischen Gebieten und auch im Süden Libanons, die Hass schüren und entsprechende Reaktionen hervorrufen. In dem Dokumentarfilm "Töte zuerst" wurde zum ersten Mal einem internationalen Publikum die Tür zu den Machenschaften des Inlandsgeheimdienstes ein Stück weit geöffnet, bei dem auch unter anderem Ajalon zu Wort kam.
Regisseur Dror Moreh wollte eigentlich einen Film schaffen, der eine Art Spiegelbild der israelischen Gesellschaft darstellt, in den die Öffentlichkeit schauen und sagen sollte: "Das sind wir, so sehen wir aus." Doch Moreh gab zu, dass das, was dabei herauskam, ihn am Ende selbst schockierte. Der Schin Bet sollte das Feuer löschen, das die Politiker gelegt haben, sagten die Direktoren des Geheimdienstes in dem Dokumentarfilm. "Wir gewinnen zwar jede Schlacht, verlieren aber den Krieg", sagte einer von ihnen.
Bei einer Veranstaltung der jüdischen Organisation "J Street" in der US-Hauptstadt Washington D. C. am 26. Oktober hielt auch Ami Ajalon eine Rede. Darin ging er darauf ein, weshalb Israel den Krieg verliert und dass dies noch viel schlimmere Konsequenzen habe als unmittelbare sicherheitsrelevante Bedrohungen für den Staat Israel.
Was man von außen sieht, ist, wie wir zwei separate, völlig unterschiedliche Kriege führen. Der erste ist tatsächlich ein gerechter Krieg, ein Krieg zur Errichtung Israels innerhalb der 1967er-Grenzen, die auf internationalen Resolutionen beruhen. (…) Wir führen einen zweiten Krieg fort, einen Krieg zur Ausdehnung unserer Grenze nach Osten, um mehr Siedlungen zu bauen und um die Gründung eines palästinensischen Staates nebenan zu verhindern. Dieser zweite Krieg ist kein gerechter Krieg. Er spricht den Palästinensern das Recht zur Selbstbestimmung ab, das durch die internationale Gemeinschaft anerkannt wurde. (…) Dieser zweite Krieg zur Ausdehnung unserer Grenzen wird Israel noch weiter isolieren und den Antisemitismus in der Welt fördern. Aber das Wichtigste, das Gefährlichste (daran) ist, dass dieser Krieg das Ende jenes Israels sein wird, das die Gründerväter des Zionismus im Sinne hatten. Ich bin hier, um euch zu sagen, dass die Frage, in welchen Krieg wir unsere jungen Männer schicken, die israelische Gesellschaft auseinanderbrechen lässt. (…) Ihr seht diese Realität. Wir in Israel weigern uns, das zu sehen. Wir können es nicht sehen.
Israels "ungerechte" Kriege haben also laut dem ehemaligen israelischen Geheimdienstchef auch unmittelbare Auswirkungen auf den Antisemitismus. Dieser Aspekt gilt allerdings als ein Tabuthema, das mehr von Staaten wie den USA oder Deutschland rigoros unterdrückt wird als innerhalb Israels selbst. Dabei ist Ajalon weder der Erste noch der Einzige, der einen Zusammenhang zwischen steigendem Antisemitismus und der Israelpolitik seit 1967 sieht.
Schon kurz nach dem verhängnisvollen Sieg Israels im Junikrieg 1967, als es in einem militärischen Husarenstück die Armeen Ägyptens und Syriens in einem "Präventivschlag" größtenteils zerstörte und sein Staatsgebiet nahezu verdreifachte, warnte der israelische Gelehrte Jeschajahu Leibowitz vor den Folgen. In dem 1968 verfassten Essay "Die Territorien", gemeint waren die von Israel besetzten Gebiete, schrieb er die schon fast prophetischen Worte:
Die Araber werden das arbeitende Volk sein und die Juden die Verwalter, Inspektoren, Behörden und Polizei, hauptsächlich Geheimpolizei. Ein Staat, der über eine Bevölkerung von 1,5 bis 2 Millionen Ausländer herrscht, wird zwangsweise ein geheimer Polizeistaat werden, mit allem, was es für die Bildung, freie Meinungsäußerung und demokratischen Institutionen bedeutet. Die korrupte Charakteristik jedes kolonialen Regimes wird auch im Staat Israel vorherrschen. Die Verwaltung wird auf der einen Seite den arabischen Aufstand unterdrücken, auf der anderen arabische Quislinge fördern. Es gibt auch gute Gründe zu befürchten, dass die Israel Defense Force (IDF), die bis jetzt eine Volksarmee war, als Resultat (der Besatzung/Anm.) sich in eine Armee der Besatzung verwandelt, degeneriert, und seine Kommandeure werden Militärgouverneure werden.
Leibowitz meinte weiter, dass Israel seine Soldaten in den besetzten Gebieten in "Judeo-Nazis" verwandeln werde und dass eine lange israelische Herrschaft über die Palästinenser zu einer "Katastrophe für das ganze jüdische Volk" führen werde. Die Welt würde die Juden daran beurteilen, wie Israel sich gegenüber den Menschen verhält, über die es herrscht. Die israelische Regierung hätte es demnach selbst in den Händen gehabt, ob der Antisemitismus wieder um sich greifen würde.
Vieles davon, wovor Jeschajahu Leibowitz gewarnt hatte, ist tatsächlich auch eingetroffen. Das bestätigt auch Ami Ajalon in seiner Rede in Washington, die durchaus als Hilferuf zu verstehen war. Ein Hilferuf dafür, damit jene Regierungen, die sich als Freunde und Unterstützer Israels bezeichnen, auch entsprechend handeln und Verantwortung übernehmen. Die bisherige Politik der uneingeschränkten Solidarität und Bagatellisierung von verschiedensten Verbrechen, so gut gemeint sie vielleicht auch war, hat am Ende aber diese negative Entwicklung in Israel, den besetzten Gebieten und selbst in der Region begünstigt.
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