Russland bietet Moratorium für Mittelstreckenraketen mit Kontrollen an – die NATO lehnt ab

Russlands Präsident hat zahlreichen Staatschefs – auch von NATO-Staaten – in Briefen eine Sperrfrist für die Stationierung von Mittelstreckenraketen vorgeschlagen und bot darin auch Beratungen über neue Kontrollmechanismen an. Die Reaktionen sind bisher sehr verhalten.

Ehrlich gemeinter Vorschlag stößt auf Unverständnis

Am 19. September sandte Russlands Präsident Wladimir Putin eine Botschaft an die Regierungen von mehreren Dutzend Ländern, darunter auch von NATO-Mitgliedsstaaten. Darin schlug er ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (für Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometer) in Europa und anderen Regionen der Erde vor. Darüber berichtet die russische Zeitung Kommersant mit Verweis auf einen Diplomaten eines NATO-Staates, mit dem Journalisten dieser Zeitung am Rande der UN-Generalversammlung in New York ein Gespräch führen konnten.

Demzufolge erhielten alle Länder der Nordatlantischen Allianz NATO ähnliche Schreiben. Die gleiche Botschaft, die der Redaktion der Zeitung vorliegen soll, sei auch an eine Reihe von Nicht-NATO-Ländern, wie zum Beispiel an die Volksrepublik China, verschickt worden. Ähnliche Schreiben seien ferner an Federica Mogherini, die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, sowie an den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gegangen.

Schon zuvor hatte Russland der NATO vorgeschlagen, eine derartige Vereinbarung zu verhandeln – doch das NATO-Bündnis hatte keinerlei Interesse gezeigt. Der besagte Diplomat, der anonym bleiben wollte, erklärte: Die NATO nimmt den Vorschlag Moskaus nicht ernst, weil man im Bündnis glaubt, dass Russland solche Raketen bereits auf seinem Staatsgebiet stationiert hat. Die Begründung lautet:

Die russische Regierung bietet uns ein Moratorium für die Stationierung von Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite an, während [Russland] selbst solche Waffen bereits in seinem europäischen Teil stationiert hat. Das ist Unsinn.

Jedoch geht aus dem Schreiben von Präsident Putin eindeutig die Bereitschaft hervor, dass Moskau, wo solche Anschuldigungen stets und nach wie vor abgewiesen werden, bereit sei, sich geeigneten Verifizierungsmaßnahmen zu unterziehen – die dann ebenso für alle Unterzeichnerstaaten gelten sollen.

In seiner Botschaft schreibt Wladimir Putin insbesondere:

Russland hat bereits seine Entscheidung angekündigt, keine Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite in Europa oder anderen Regionen zu stationieren, solange [auch] die US-Amerikaner davon absehen. Wir haben die USA und ihre Verbündeten aufgefordert, analoge Verpflichtungen einzugehen, aber noch keine Erwiderung unseres Interesses beobachtet. Wir fordern Sie auf, unsere Bemühungen zu unterstützen, indem Sie für die Verhängung eines Moratoriums für eine Stationierung landgestützter Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite im Rahmen der NATO eintreten – analog zu demjenigen, das Russland bereits verhängt hat.

Die Bereitschaft, tatkräftig Beweise für die INF-Konformität neuer und zukünftiger Waffen zu erbringen, bekräftigte Russlands Staatschef in seinem Schreiben:

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Umsetzung eines solchen [Rüstungskontroll-]Systems zusätzliche Verifizierungsmaßnahmen erfordert, insbesondere unter Bedingungen, als bereits auf europäischem Territorium Abschussanlagen für Mittelstreckenraketen disloziert wurden. Wir sind bereit, die relevanten technischen Aspekte zu diskutieren.

Experte: Putins "neue Formel" für Europas Sicherheit

"Ich kann mir gut vorstellen, dass die Telefonleitungen zwischen Washington und den anderen Hauptstädten der NATO wegen des Schreibens richtig heiß laufen: 'Wie soll man auf das friedfertige Angebot Putins reagieren?' Wahrscheinlich wird die NATO erstmal eine Pause nehmen, um die überraschende Initiative zu verdauen. Die US-Amerikaner werden versuchen, sich eine List einfallen zu lassen, wie die Friedfertigkeit von Putins Aufruf zu hintertreiben ist", erklärte Militärexperte der Zeitung Komsomolskaja Prawda Viktor Baranez im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Sputnik.

Putins Schreiben könne die NATO-Leute aus der Fassung bringen, so der Experte weiter. Doch "Wird Putins Aufruf erhört, kann er maßgeblich zu Europas Sicherheitsgarantie beitragen." Immerhin sei er so etwas wie eine "neue Formel" für Europas Sicherheit:

Im Grunde ruft Putin Europa dazu auf, das eigene Gebiet zu 'entminen' – von den US-Raketen zu räumen, die bereits vorhanden und in Kürze zu erwarten sind. Dies ist ein Aufruf Moskaus an die europäische Welt, damit Europa ein Friedens- und kein Kriegskontinent wird.

Haltlose Anschuldigungen und billige Ausreden der NATO-Staaten

Es sei hier nochmals daran erinnert, dass die USA bekanntlich am 2. Februar 2019 ihren Rückzug aus dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) von 1987 binnen der vertraglich festgelegten Frist von 6 Monaten verkündeten und dafür zwei Begründungen angaben.

Erstens, so Washington, verstoße Moskau angeblich bereits seit mehreren Jahren gegen die Verpflichtung, "keine bodengestützten Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern herzustellen und zu testen sowie keine Abschussvorrichtungen für solche Raketen zu besitzen und zu produzieren". Die US-Seite betrachtet die Entwicklung des Marschflugkörpers 9M729 durch das Versuchs- und Konstruktionsbüro Novator als einen Verstoß gegen den INF-Vertrag.

Zweitens, wie John Bolton – damals noch nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten – in einem Interview im Oktober 2018 erklärte, sei Washington überzeugt, dass es an der Zeit wäre, China in Rüstungskontrollabkommen einzubeziehen. In Beijing war man zu diesem Thema jedoch noch nicht einmal für eine Diskussion bereit. Sechs Monate später, am 2. August 2019 lief damit der INF-Vertrag folglich aus.

Jedoch bekräftigte sowohl Russlands Regierung wie auch das Militär stets und wiederholt, dass die Reichweite des Marschflugkörpers 9M729 die angegebenen 480 km nicht überschreiten kann und man bot den USA und ihren Verbündeten an, einer Demonstration eben dieser technischen Möglichkeiten des Systems 9M729 beizuwohnen. Doch die westlichen Militärs verweigerten sich auch diesem Angebot: Eine solche Demonstration sei nicht informativ, hieß es ihrerseits.

Das Argument, Beijing müsse in das Rüstungskontrollregime des INF-Vertrages einbezogen werden, hielt Moskau wiederum für an den Haaren herbeigezogen:

Nach Angaben der russischen Regierung haben die USA nur nach einem Vorwand gesucht, um die bestehenden eigenen Beschränkungen durch den INF-Vertrag zu beseitigen. Bestätigt wurden die russischen Beamten in ihrer Einschätzung schließlich, als die USA lediglich wenige Wochen nach dem Ablauf des INF-Vertrages bereits Raketen mit zuvor verbotenen Reichweiten testeten und der Pentagon-Chef Mark Esper deutlich machte, dass er es für angemessen hielt, neue Flugkörper mittlerer Reichweite zu entwickeln und in Asien zu stationieren. Zuvor berichteten bereits US-Medien (z.B. The Wall Street Journal am 31. Januar dieses Jahres), dass Russland angeblich bereits vier Divisionen seiner Raketenbrigaden mit neuen Marschflugkörpern ausgestattet habe – Beweise dafür lieferten indes niemand, ebensowenig für deren angeblich gegen den INF-Vertrag verstoßende Reichweite über 500 km.

Das Ende des INF-Vertrages – kein neuer Vertrag in Sicht?

Hier sei auch noch einmal daran erinnert, dass Russland und die USA nach der Unterzeichnung des INF-Vertrags 1987 und bis Anfang der 2000er Jahre – wie vertraglich detailliert geregelt – sehr wirksam und transparent gegenseitige Kontrollen zur Umsetzung des Vertrages durchgeführt hatten. Dabei wurde sichergestellt, dass die jeweils verbotenen Flugkörper in engen Fristen zerstört und neue mit nicht vertragskonformen Eigenschaften nicht produziert oder in Bereitschaft genommen wurden. Seit Anfang der 2000er Jahre – nach Abschluss der Vernichtung der verbotenen Waffen – wurden jedoch keine Inspektionen im Rahmen dieses INF-Vertrages mehr durchgeführt, dagegen wurden die Sitzungen der vertraglich vorgesehenen Besonderen Beratungskommission jedoch weiterhin periodisch einberufen.

Gemäß der Botschaft von Wladimir Putin ist Russland auch ohne den INF-Vertrag weiterhin bereit, sich mit den NATO-Ländern auf bestimmte Verifizierungsmaßnahmen zu einigen.

Beachtenswert ist auch, dass Moskau vor einem Jahr, als nämlich klar wurde, dass der INF-Vertrag wohl bald Geschichte sein würde, vorgeschlagen hatte, mit Washington zusammen eine gemeinsame Erklärung auf höchster Ebene zu verabschieden, um einen Atomkrieg zu verhindern und die strategische Stabilität zu stärken. Der Entwurf dieses Dokuments wurde der US-amerikanischen Seite bereits im Oktober 2018 vorgelegt. Darin heißt es auch:

Es kann keine Gewinner in einem Atomkrieg geben, und er sollte nie entfesselt werden.

Derartige Erklärungen wurden auch schon lange zuvor verabschiedet – während des Kalten Krieges. Doch heute gibt es wiederum noch keine Reaktion der USA auf die neue Initiative Russlands. Auch die jüngste Botschaft des Präsidenten der Russischen Föderation wurde bisher weder von den USA noch von ihren Verbündeten beantwortet.

Zumindest sieht ein weiterer von Sputnik befragter Experte, der Militäranalytiker Boris Roschin vom Zentrum für militär-politischen Journalismus, die Sache deutlich pessimistischer als sein Kollege von Komsomolskaja Prawda:

Auf einen Stopp des Wettrüstens werden sich die Vereinigten Staaten und die NATO-Führung nicht einlassen. Sie haben doch das Wettrüsten entfacht – ganz bestimmt nicht mit dem Ziel, sich Einschränkungen auferlegen zu lassen, die der INF-Vertrag für Sie bedeutete.

Zu erwarten sei weitere Erosion bestehender Rüstungsabkommen, erklärte der Experte:

Wir werden mit einer weiteren Eskalation des Wettrüstens konfrontiert. Was dann folgt, ist der Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem New START-Abkommen – mit der fadenscheinigen Begründung, Russland habe das Abkommen verletzt und die USA wollten nur das Gleichgewicht wiederherstellen. Höchstwahrscheinlich wird Putins Aufruf ohne vernünftige Antwort verhallen.

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