von Hasan Posdnjakow
Eines ist unumstritten: Die Weltpolitik ist in einer Umbruchphase. Zukünftig wird die Macht der USA deutlich geringer werden. Dagegen geht der Stern der alternativen Kräfte wie Russland und China langsam auf. Wie reagiert die deutsche Außenpolitik darauf, beziehungsweise wie sollte sie darauf reagieren? Diese Frage wird derzeit heftig diskutiert – sowohl in Kreisen der offiziellen Politik als auch in den alternativen Medien.
Der Publizist Otto Köhler war sich auf der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz sogar sicher: Deutschland werde zukünftig zu der stärksten und bedrohlichsten westlichen Großmacht. Er ist nicht der Einzige, der solche Gedanken vertritt. So erklären andere etwa, dass die Forderung eines deutschen NATO-Austritts falsch sei, da dadurch die aggressiven, expansionistischen Bestrebungen Deutschlands sich erst recht entfalten würden.
Während eine derart tiefgründige "Analyse" sicher zunächst nur zum Schmunzeln ermuntert, ist die Lage dennoch ernst zu nehmen. Solche Einschätzungen verbreiten sich und führen zu einer Desorientierung in der Friedensbewegung. Aktionen gegen US-Basen in Deutschland werden von manchen kritisch beäugt; neue Formen des Protests gegen die NATO-Kriegspolitik, etwa der Friedenswinter, werden als vermeintlich rechts diffamiert; die Solidarität mit von der westlichen Großmachtpolitik bedrohten Staaten wie Russland, Venezuela und Syrien wird eingeschränkt. In ihrer extremen Form ist diese Deformation linker Politik nichts Weiteres als eine Variante des Anti-Deutschtums, die "Linke" ins extreme rechte Lager führt. Diese kuriosen Deutungen der deutschen Außenpolitik können letztendlich nur dazu dienen, den Widerstand gegen die aggressive Politik der westlichen Staaten zu spalten und zu schwächen.
Im Gegensatz zu diesen ideologisierenden Beiträgen mancher vermeintlich linker Theoretiker fokussieren sich die bürgerlichen außenpolitischen Experten auf eine weitgehend sachliche Analyse der derzeitigen internationalen Lage und den Optionen der deutschen Außenpolitik. Wobei der kritische Leser über die permanenten Seitenstiche gegen Russland und China hinwegsehen muss.
In der außenpolitischen Fachzeitschrift Internationale Politik (IP) etwa wurden in den letzten zwei Ausgaben jeweils mehrere Beiträge von namhaften Experten veröffentlicht, einerseits über die "Optionen deutscher Außenpolitik" und andererseits über die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union, die die bürgerlichen Experten, Dutzende Millionen Europäer in Nicht-EU-Staaten missachtend, einfach "Europa" nennen. Es fällt auf, dass es in den Beiträgen durchgängig darum geht, den derzeitigen wirtschaftlichen Status Deutschlands zu erhalten und wenn überhaupt nur kleine Schritte in Richtung außenpolitischer Selbständigkeit zu unternehmen. Von einer, wie es Köhler auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz genannt hatte, "nächsten imperialistischen Hauptmacht" ist in den Beiträgen nichts zu spüren.
Die Experten erkennen an, dass Deutschland innerhalb der EU über eine äußerst große Macht verfügt, die sich hauptsächlich auf seine wirtschaftliche Kraft und die undurchsichtigen politischen Verhältnisse in Brüssel stützt. Doch sie räumen auch die militärische Schwäche Deutschlands im Vergleich zu den USA ein und vermuten, dass das noch für lange Zeit so bleiben wird. Echte Ambitionen, eine eigene EU-Armee aufzubauen, die mit den US-Streitkräften vergleichbar wäre und weltweit militärische Macht projizieren könnte, gibt es nicht.
Constanze Stelzenmüller, Senior Fellow an der Brookings Institution in Washington, spricht zum Beispiel davon, dass Deutschland bezogen auf die EU ein "ratloser Hegemon" sei, und warnt davor, dass das "Wunder", also die für die Bundesrepublik und andere westeuropäische Staaten vorteilhafte Zeitphase nach 1945, endet. Sogar ein "zyklischer Abschwung in der Weltpolitik" drohe. Zugleich sei die EU gekennzeichnet von "Lähmungs- und Überforderungserscheinungen". Differenzen zur US-Politik werden sichtbar, wenn sie schreibt:
Die Außen- und Sicherheitspolitik der US-Regierung ist auch da zu einem Risikofaktor für unseren labilen Kontinent geworden, wo sie nicht direkt auf Europa abzielt."
Genannt werden dann als Beispiele die Nahost-, Russland- und Asien-Politik der USA.
All das destabilisiert Europa."
Die Autorin beklagt zwar, dass "Europa" in Nahost, Afrika und Asien "allenfalls in homöopathischer Dosierung präsent" sei, dennoch sei Deutschland der "Hauptgegner" für die "Feinde einer regelbasierten Weltordnung" und der "offenen Gesellschaft". Angesichts dieser Bedrohungen könne sich Deutschland jedoch nicht in seine eigenen vier Wände zurückziehen:
Unser Schicksal ist mit Europa existenziell verbunden; es zu stützen und zu schützen ist in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse."
Deutschlands Macht, erklärt Stelzenmüller, begründe "eine Fürsorgeverantwortung für Europa". Wie genau die Verantwortung zum Tragen kommt, kann man Serbien oder Griechenland fragen. Sie spricht sich dafür aus, die militärischen Kapazitäten Deutschlands auszubauen. Gleichzeitig stellt sie aber klar:
Eine 'strategische Autonomie' ist eine Illusion. Europa braucht Amerika (gemeint sind nur die USA) weiterhin an seiner Seite, nicht zuletzt im Umgang mit China."
Auch der Beitrag von Daniela Schwarzer, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), geht in ähnliche Richtung. Der Titel "Europas Selbstbehauptung" ist bombastisch gefasst, täuscht aber. Denn auch für sie ist klar:
Bei der Verteidigung geht es nicht darum, die Zusammenarbeit der Europäer 'gegen Washington' zu fördern […]. Es geht darum, im Kontext der NATO die Fähigkeiten der Europäer zu stärken und damit ihren Beitrag in der Allianz zu erhöhen."
Nichts anderes fordern die USA – übrigens nicht erst seit Trump – mit dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär auszugeben.
Schwarzer zufolge kann Deutschland nur "international mitgestalten", indem es "durch die EU hindurch" wirkt – sie qualifiziert diese Bemerkung zusätzlich mit der Einschränkung "wenn überhaupt."
Die internationale Lage sieht sie düster:
Die wahrgenommene Stärke Chinas ist auch Ausdruck der Schwächen Europas. Deutschland und die EU verlieren tendenziell Innovationskraft und investieren zu wenig."
Sie beklagt, dass Deutschland beziehungsweise die EU keine weit angelegten Investitionsprogramme verfolgen, wie das etwa China mit seinem Megaprojekt der Neuen Seidenstraße tut. Europa drohe, im Bereich der KI und Biotechnologie "gegen die USA und China den Anschluss zu verlieren". Zudem müsse Deutschland den anderen EU-Staaten auf wirtschaftlichem Gebiet Zugeständnisse machen.
Der Preis dafür wird angesichts des enormen Vorteils, den Deutschland aus dem Euro und dem Binnenmarkt zieht, vertretbar sein."
Volker Stanzel, Vizepräsident der DGAP, plädiert vor allem für den Einsatz derjenigen Mittel, die in der politikwissenschaftlichen Fachsprache "soft power" genannt werden, also verhältnismäßig sanfte, nichtmilitärische Mittel in der Außenpolitik. Dazu rechnet er:
Die Autorität einer wirtschaftlich starken Allianz, die für die Einhaltung des internationalen Regelwerks steht, und der intelligente Einsatz von Sanktionen."
Auch Stefan Mair, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, spricht sich einerseits dafür aus, wirtschaftliche Mittel zu nutzen, um die außenpolitischen Interessen Deutschlands zu wahren, andererseits rät er, die deutsche Außenpolitik so zu gestalten, dass die wirtschaftliche Macht Deutschlands weiter gestärkt wird. Der Lobbyist der Großkonzerne räumt freimütig ein, dass
... der Einsatz außenpolitischer Mittel, um die Wirtschaftskraft des eigenen Landes zu steigern, zum Standardrepertoire selbst der prinzipienfestesten marktwirtschaftlichen Staaten [gehört]."
Er erklärt, dass die wirtschaftliche Stärke zur "geoökonomischen Macht" werde, wenn man sich ihrer strategisch bediene. In diesem Zusammenhang nennt er China als erfolgreichstes Beispiel. Dagegen bemängelt er, dass Deutschland keine "geostrategische Vision" habe.
Der BDI-Verantwortliche rät Berlin dazu, "seine wirtschaftliche Stärke" zu erhalten, "Abhängigkeiten entgegenzuwirken" und "Strategien zu entwickeln, um seine wirtschaftliche Stärke zu nutzen". Dabei müsse die deutsche Politik im Auge behalten, dass die deutsche Industrie auf den EU-Strukturen beruhe und von ihnen abhängig sei.
In einem Beitrag, der sich um die Militarisierung der EU dreht und sich für einen weiteren Ausbau der EU-eigenen militärischen Strukturen ausspricht, erklären die Autorinnen Sophia Besch und Dr. Jana Puglierin zugleich:
Berlin sollte nicht nur die EI2 (Anm.: Macrons Europäische Interventionsinitiative) unterstützen, sondern sich auch noch stärker dafür einsetzen, die Kooperation zwischen NATO und EU weiter auszubauen. Die europäische Sicherheitslage erfordert ein 'Alle Mann an Deck'."
Die staatsnahen außenpolitischen Experten stimmen völlig überein, dass Deutschland nicht an der Schwelle steht, die USA als Führungsmacht in der Welt zu ersetzen. Sie zeichnen ein viel vorsichtigeres Bild der derzeitigen Lage und machen auf die vielfältigen Probleme, denen sich die EU unter deutscher Führung stellen muss, aufmerksam. Dabei orientieren sich die sogenannten Eliten weiterhin auf ein umfassendes militärisch-geostrategisches Bündnis mit Washington bei gleichzeitiger Einordnung Russlands und Chinas als Feinde.
Wo die US-Politik allerdings die direkten deutschen Interessen (hauptsächlich wirtschaftliche) durchkreuzt, etwa im Falle des Iran, ist die Bundesrepublik zumindest zu rhetorischem Protest bereit. Die US-Sanktionen sind zwar für die betroffenen Unternehmen ärgerlich, aber nicht dramatisch genug, um Berlin-Brüssel dazu zu bewegen, das transatlantische Bündnis generell in Frage zu stellen.
Die Kosten eines tiefgreifenden Bruchs mit Washington und des rapiden Aufbaus eigener militärischer Fähigkeiten, die einen solchen Bruch begleiten würden, sind zu hoch. Das hierarchische Verhältnis unter den westlichen Mächten wird uns also noch einige Zeit begleiten. Berlin setzt darauf, sich in der Europäischen Union einen Hinterhof einzurichten. Wirtschaftlich ist dies schon weit vorangeschritten. Doch Deutschland steht auch auf dem eigenen Kontinent vor schweren Herausforderungen.
Im zweiten Teil des Artikels wird die Debatte um die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union bewertet.
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