Generalmajor a.D. Heinz Bilan war Politoffizier der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik. Er diente jahrelang als Stellvertreter des Chefs und Leiter der Politischen Verwaltung im Militärbezirk III (Leipzig). Zudem war er der stellvertretende Chef der Militärakademie "Friedrich Engels". Er studierte an der sowjetischen Woroschilow-Generalstabsakademie. Sein Diplom legte er bei dem legendären Feldherrn und Marschall der Sowjetunion Iwan Konew ab.
Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.
(Teil 1 des Interviews können Sie hier nachlesen.)
Nach dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung erhofften sich viele, dass weltweit eine neue Ära des Friedens beginnen würde. Das ist aber sichtlich nicht eingetreten. Worauf ist es zurückzuführen, dass diese Friedensversprechen nicht eingehalten worden sind?
Der Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Staaten wurde durch die Konterrevolution in den sozialistischen Staaten nicht aufgehoben, sondern nur erweitert. Der Kapitalismus kehrte in unsere Staaten zurück. Mit ihm kamen die Widersprüche des Kapitalismus, nicht nur volle Läden und Reisemöglichkeiten.
Viel schlimmer waren die vorhandenen Widersprüche. Sie wurden nach kurzer Zeit tragend für die Beziehungen zwischen den neuen kapitalistischen, ehemals sozialistischen Staaten und den alten kapitalistischen Staaten. Was blieb war die uralte Feindschaft der Großmächte untereinander, insbesondere die Feindschaft zu Russland. Das gilt vor allem für die USA und auch für das wiedererstarkte Deutschland.
Die USA werden dann Ruhe geben, wenn sie die Welt beherrschen. Diese Politik unter Trump heute – "America first" – ist nichts anderes als der Ausdruck dieser Tatsache. Was für eine Europäische Union ist das, wenn gegen Polen und Ungarn Verfahren durchgeführt werden? Das ist ein Ausdruck dieser kapitalistischen Widersprüche.
Es wird unter kapitalistischer Herrschaft niemals ewigen Frieden geben. Das, was Marx und Engels im kommunistischen Manifest beschrieben haben, hat fast hundertprozentige Gültigkeit bis auf den heutigen Tag. Der Kapitalismus hat in sich Krieg, Eroberung, Beherrschung anderer Völker.
Wenn Frau Merkel heute nach Afrika fährt, dann nicht mit dem Ziel, den afrikanischen Völkern zu helfen, sie materiell und finanziell zu unterstützen, damit sie sich eine eigene Industrie, eine selbsttragende Wirtschaft aufbauen, sondern nur mit einem Ziel: Die Interessen deutscher Konzerne und Banken dort zu erfüllen. Nur deshalb hat sie ja auch ein paar hundert Manager mit nach Afrika genommen.
Die NATO gibt an, ein defensives Bündnis zu sein. Während des Kalten Krieges war der angebliche potentielle Feind der Warschauer Pakt. Den gibt es aber seit dreißig Jahren nicht mehr. Warum gibt es aber noch die NATO und gegen wen ist sie gerichtet?
Zu sozialistischen Zeiten hatte der Warschauer Vertrag nur eine einzige Aufgabe: Einen Krieg zu verhindern. Das konnten wir nur erfüllen, wenn wir so gerüstet waren, dass ein Angriff auf uns tödlich gewesen wäre. Es bleibt für die deutsche Militärgeschichte die Tatsache bestehen, dass die Nationale Volksarmee der DDR die einzige deutsche Armee war, die niemals auf fremden Territorium mit feindlicher Absicht gewesen ist und die nie einen Krieg geführt hat.
Kaum gab es uns nicht, war die deutsche Bundeswehr im Jugoslawien-Krieg involviert und hat wieder Krieg geführt. Kriegführung ist eine Herrschaftsmethode des Kapitalismus. Alle Ausbeutergesellschaften haben bis jetzt Kriege geführt. Eine ausbeutungsfreie Gesellschaft wird ohne Kriege auskommen. Heute versprechen sich die NATO, die USA, die EU durch militärische Stärke, Einfluss auf alle Völker der Welt zu gewinnen.
Dem stehen aber einige gegenüber, vor allem die Volksrepublik China, aber auch Russland. Russland vertritt seine Interessen, völlig zurecht, z.B. die Wiedervereinigung mit der Krim oder die Einrichtung eines Militärbezirks in der Arktis.
Aber Russland – das sagt die neue Militärdoktrin eindeutig aus – hat keine Absicht, irgendjemand zu bedrohen oder gar zu überfallen. Gegenwärtig findet das große Manöver der NATO und der USA in Norwegen statt. Das soll drei Monate dauern. Solche Manöver hat es in der sozialistischen Geschichte nie gegeben. Alle 29 NATO-Staaten sind beteiligt, außerdem Schweden und Finnland. Gemacht wird es wo? An der russischen Grenze.
Die wahre Absicht ist nicht nur eine Bedrohung Russlands, sondern ist z.B. in der Tatsache zu finden, dass ein Teil des Geräts in Norwegen verbleibt. Damit sie im Fall eines Krieges nur das Personal heranführen müssen. Die zweite Aufgabe, die sie gleichzeitig erfüllen, ist die Aufklärung ihrer späteren möglichen Handlungsräume.
Die Russen machen auch Großmanöver, etwa Sapad und jetzt Wostok. Aber auf eigenem Territorium! Das ist der Unterschied. Nicht an der Staatsgrenze der USA. Russland ist natürlich auch ein kapitalistischer Staat, aber mit einer ganz anderen Geschichte als die USA. Die USA wissen gar nicht, was richtiger Krieg ist. Im Zweiten Weltkrieg hatten sie 350.000 Menschen verloren. Das ist genauso viel, wie sie in fünf Jahren auch an Verkehrstoten haben. Und die Russen? 27 Millionen. Die wissen, was Krieg ist.
Welche Rolle spielt Deutschland, die Bundewehr, gegenwärtig bei der Konfrontation mit Russland? Wie ist die Tatsache zu bewerten, dass im Baltikum das erste Mal seit 70 Jahren wieder deutsche Soldaten an der Staatsgrenze zu Russland stehen?
Die deutsche Politik, gleich unter welcher Führung, hat sich sehr stark an die USA gelehnt. Die Bundesrepublik Deutschland ist der treueste Vasall der USA. Niemand in der NATO ist so treu mit den US-Amerikanern verbunden wie die Bundeswehr. Die Bundeswehr hat mit der Teilnahme am Krieg gegen Jugoslawien ihre Unschuld verloren. Sie begann, wieder die alte deutsche Militärpolitik fortzusetzen.
Der Schwur der Deutschen im Jahr 1945 "Nie wieder Krieg!" hat in den Führungskreisen der Bundesrepublik nie Fuß gefasst. Das konnte ja auch nicht sein, denn an der Wiege der Bundeswehr standen alte Nazi-Generäle: etwa Speidel und Heusinger. Heusinger, der zusammen mit Paulus den ganzen Barbarossa-Feldzug geplant hatte, der auf vielen Bildern neben Hitler zu sehen ist, ist der Gründungsvater der Bundeswehr.
Sie sind mit uns, der National Volksarmee, überhaupt nicht vergleichbar. Bei uns gab es solch hervorragende Menschen wie Heinz Hoffmann, Kämpfer der freiwilligen Deutschen gegen Franco im spanischen Bürgerkrieg, Admiral Verner, Widerstandskämpfer in Dänemark, Heinz Keßler und viele andere, die durch die Nazis zum Tode verurteilt wurden. Solche Menschen haben uns, die nachfolgenden Generationen in der NVA, zu Frieden erzogen. Ihre Devise uns gegenüber war immer: Je besser ihr euer Handwerk beherrscht, desto eher verhindern wir einen Krieg. Wir haben alles getan, um unser Endziel als Militärs im Sozialismus zu erfüllen: Dass eines Tages kein Krieg mehr sein wird, wie es Lenin gefordert hatte.
Diese verlogenen Versprechungen gegenüber Gorbatschow sind alle vergessen. Wir haben uns im Traditionsverband der NVA sehr gewundert, als wir gesehen haben, dass deutsche Panzer wieder nach Osten rollen, dass Kolonnen US-amerikanischer Soldaten an die russische Staatsgrenze über das Territorium der DDR marschieren. Es ist eine Schande, dass heute wieder deutsche Panzer an der russischen Grenze sind.
Diese jungen Leute, die in den Panzern sitzen, haben vergessen, mit welchen Nasen ihre Großväter aus dem Feldzug gegen die Sowjetunion zurückgezogen sind. Ich mache diesen Jungs noch nicht einmal irgendwelche Vorwürfe. Woher sollten sie es wissen? Es wird ihnen ja nicht beigebracht. Weder in der Schule noch an den Offiziersschulen wird ihnen gelehrt, welche Niederlagen die Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion erlitt. Sie wissen das doch gar nicht. Sie werden politisch von einer Führung, die die Interessen der Konzerne und Banken in Deutschland buchstabengetreu erfüllt, irregeführt. Mir tun die Bundeswehrsoldaten leid.
Aber eins sollten sie wissen: Die russischen Menschen haben das Jahr 1941 nicht vergessen, als deutsche Armeen in die Sowjetunion eingefallen sind und im ersten Kriegsjahr 2,5 Millionen Russen und andere Sowjetbürger gestorben sind. Solch eine Anfangsperiode wird es nie wieder geben. Deshalb hat Russland Streitkräfte, die in der Lage sind, eine adäquate Antwort zu geben. Deshalb die neue Militärdoktrin.