Auf der Sondersitzung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) kam es am Dienstag zu einem Schlagabtausch zwischen Russland und Großbritannien. London will das Mandat der Organisation erweitern. Nach dem Willen der britischen Regierung soll die OPCW künftig bei Chemiewaffenvorfällen auch Schuldige benennen können.
Bisher dürfe sie nur sagen, „wann und wo Chemiewaffen eingesetzt wurden, aber nicht wer verantwortlich dafür ist“, sagte der britische Außenminister Boris Johnson. „Dies ist der Moment, um den globalen Bann chemischer Waffen zu erneuern“, so Johnson. Er forderte die Mitgliedsstaaten auf, den britischen Antrag zu unterstützen. Dem kamen zwanzig Staaten nach, darunter die USA und Deutschland.
„Die Experten der OPCW müssen endlich auch Fakten darüber sammeln dürfen, wer hinter dem Einsatz von Chemiewaffen steckt“, sagte Außenminister Heiko Maas gegenüber Süddeutschen Zeitung.
Moskau sprach sich entschieden gegen den britischen Vorstoß aus. Denn ein solcher Schritt könnte die Organisation zu einem politischen Werkzeug machen und das gesamte internationale Sicherheitssystem untergraben, so Russlands Einwand.
Der britische Antrag stelle „eine direkte Invasion der exklusiven Vorrechte des UN-Sicherheitsrates dar“, sagte der Leiter der russischen Delegation Georgi Kalamanow in seiner Rede auf der Konferenz. Er fügte hinzu, dass damit auch „die Autorität der OPCW und die Integrität des CWÜ (Chemiewaffenübereinkommens)“ untergraben werde.
Der russische Vertreter kritisierte die Versuche des Vereinigten Königreichs, die OPCW von einem Gremium, das sich auf die „technische Unterstützung der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Anforderungen des CWÜ konzentriert“, in eine „quasi-staatsanwaltschaftliche, polizeiliche und forensisch-medizinische Struktur“ umzuformen.
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„Ein solcher Kurs hat unvorhersehbare Folgen“, warnte Kalamanow. „Führt das nicht zum Zusammenbruch des globalen Systems der Nichtverbreitung (chemischer Waffen) oder gar zum Zusammenbruch des gesamten internationalen Sicherheitssystems, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit der zentralen Rolle der UNO und ihres Sicherheitsrates in internationalen Angelegenheiten errichtet wurde?“, fragte der russische Vertreter.
Chan Scheichun und Moskaus Lehre aus der Vergangenheit
Selbst unter ihrem derzeitigen Mandat missbrauche und verletze die OPCW zuweilen ihre eigenen Regeln, stellte Kalamanow fest und erinnerte dabei an die Untersuchungen von Chemiewaffenvorfällen in Syrien. So habe die OPCW in einigen Fällen ihre Untersuchung „aus der Ferne“ durchgeführt, gegen das Kernprinzip der Beweismittelkette verstoßen und sich auf angebliche Beweismittel von voreingenommenen und unzuverlässigen Parteien gestützt, wobei andererseits die Argumente und Daten der Regierung in Damaskus völlig ignoriert worden seien.
Kalamanows Aussagen erfolgten vor dem Hintergrund der Erfahrung mit der Fact-Finding-Mission (FFM) des sogenannten Joint Investigative Mechanism (JIM), einem gemeinsamen Untersuchungsteam der Vereinten Nationen und der OPCW. Dieses hatte den Auftrag, die Verantwortlichkeit für den Giftgaseinsatz im syrischen Chan Scheichun im April 2017 festzustellen. Bei dem Vorfall starben über 80 Menschen. Die US-Regierung griff daraufhin einen Flugplatz der syrischen Luftwaffe mit Marschflugkörpern an.
Auch nach dem mutmaßlichen Giftgaseinsatz Anfang April dieses Jahres in Duma, bei dem vieles für eine Inszenierung durch die Aufständischen spricht, griffen die USA – im Verbund mit Großbritannien und Frankreich – syrische Einrichtungen aus der Luft an.
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Die mit der Untersuchung des Vorfalls in Chan Scheichun betrauten JIM-Ermittler zogen mit ihrem im Oktober 2017 veröffentlichten Bericht den Schluss, dass die syrische Armee für den Giftgaseinsatz verantwortlich war. Doch das JIM-Team ermittelte nie vor Ort; sammelte von islamistischen Aufständischen aus dem Umfeld Al-Kaidas Beweismittel ein, bei denen die Beweismittelkette nicht eingehalten wurde; berief sich auf weitere äußerst fragwürdige Quellen, darunter die Al-Kaida nahestehenden „Weißhelme“; ging Hinweisen nicht nach, die gegen eine Verantwortlichkeit der Armee sprachen; und störte sich auch nicht daran, dass die Aufständischen Beweismittel am mutmaßlichen Tatort vernichteten, während die Regierung umfänglich mit ihm kooperierte.
Durch diesen Schuldspruch ohne Beweise sah Washington seine Militärschläge im Nachhinein legitimiert. Aufgrund der einseitigen und gegen seriöse Ermittlungsstandards verstoßenden Arbeitsweise der FFM legte Russland im November 2017 ein Veto im UN-Sicherheitsrat gegen eine Mandatsverlängerung des Joint Investigative Mechanism ein.
Moskau fürchtet, dass die nun von den Briten geforderte Ausweitung des OPCW-Mandats lediglich dem Zweck dient, Vorwände für weitere Angriffe auf Syrien in der Zukunft zu schaffen.
„Das Vereinigte Königreich hofft im Bündnis mit den USA, dass die OPCW in der Lage sein wird, Schuld zuzuweisen und somit eine Begründung für künftige Angriffe der USA und Großbritanniens zu liefern“, kommentierte der Investigativjournalist Rick Sterling gegenüber RT den Vorgang.
Eines der Probleme ist, dass die OPCW in einigen Fällen nicht bereit war, zu den Tatorten zu gehen und Beweisen nachzugehen, die den westlichen Behauptungen widersprechen. Die OPCW hat der syrischen Regierung in der Vergangenheit in verschiedenen Fällen die Schuld zugewiesen, aber wenn man sich ihre Berichte ansieht, verlassen sie sich tatsächlich auf Zeugen, die ihnen von der Opposition zur Verfügung gestellt werden. Daher ist es sehr logisch, die Objektivität und Unabhängigkeit der OPCW in Frage zu stellen“, so Sterling.
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OPCW-Praxis: Ferndiagnose statt Vor-Ort-Untersuchung
Russland hatte wiederholt kritisiert, dass sich die OPCW in ihren jüngsten Berichten zu mutmaßlichen Giftgasvorfällen in Syrien vornehmlich auf öffentliche Quellen schützt, anstatt gemäß eigenen Standards vor Ort zu ermitteln.
So heißt es in einem Mitte Mai veröffentlichten OPCW-Bericht über einen mutmaßlichen Giftgaseinsatz in der von Dschihadisten kontrollierten Stadt Saraqib in der Provinz Idlib, man habe „festgestellt, dass Chlorgas, freigesetzt durch mechanische Einwirkungen auf den Zylinder, wahrscheinlich am 8. Februar 2018 im Stadtteil Al Talil in Saraqib als chemische Waffe eingesetzt wurde“.
Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete diesen Bericht als „zutiefst verwirrend“. In einer Stellungnahme des Ministeriums vom Mai heißt es:
Der Bericht selbst besagt, dass die Experten nicht in der Lage waren, den Ort des angeblichen Chemiewaffenangriffs zu besuchen, da die Provinz Idlib unter der vollständigen Kontrolle terroristischer Gruppen steht. Die von der OPCW erhaltenen Beweise umfassen nur einige Fotos von einigen Kanistern, WhatsApp-Meldungen sowie einige Bodenproben vom angeblichen Tatort, die von einigen anonymen ‚Aktivisten' übergeben wurden.
Der OPCW-Bericht stelle zudem „eindeutig“ fest, dass alle Informationen über den Saraqib-Angriff „von einigen NGOs stammen, einschließlich der berüchtigten Weißhelme“, heißt es weiter in der Erklärung.
Zuvor hatte bereits der ehemalige britische Botschafter in Syrien den OPCW-Bericht als „ernsthaft irreführend“ und „zutiefst beunruhigend“ bezeichnet. Gegenüber RT merkte Peter Ford zudem an, dass die Weißhelme „als Dschihadisten-Hilfskraft bekannt sind, die an Enthauptungen teilnehmen und für ihre Propaganda berüchtigt sind“.
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Die Mission sollte Fakten finden, aber wenn man die 34 Seiten des Berichts liest, stellt man fest, dass es keine Fakten gibt – nicht eine Tatsache, die von unabhängigen Beobachtern unterstützt wird“, sagte Ford.
Es sei das ultimative Ziel der USA und ihrer Verbündeten, die OPCW in ein „von den USA kontrolliertes Instrument der Manipulation zu verwandeln, um politischen Druck auf Syrien auszuüben“, so das russische Verteidigungsministerium.