von Thomas Schwarz
Den Boykott der Fußball-WM in Russland fordern in einem Offenen Brief 60 überwiegend aus EVP- und Grünen-Fraktion stammende Abgeordnete des EU-Parlaments. Mit dem Sport Brücken zu bauen, sei prinzipiell zu begrüßen, im Falle Russlands könne man aber "nicht so tun, als sei diese Weltmeisterschaft ein Sportereignis wie jedes andere".
Der von der Grünen Rebecca Harms initiierte Aufruf nimmt es mit der Wahrheit nicht allzu genau. Warum auch – schließlich haben die westlichen Leitmedien und die deutsche Regierung in den letzten Tagen am Beispiel Syrien vorexerziert, dass man auch zweifellos völkerrechtswidrige Bombardements als legal bezeichnen kann, ohne dass die Verbreitung solcher Unwahrheiten Konsequenzen hätte. Denn wo kein Kläger, da kein Richter: Da fast alle großen deutschen Medien im Falle Syrien die gewissenhafte Arbeit weitgehend eingestellt haben, muss man weder als Redakteur noch als Politiker Angst haben, öffentlich auf die Widersprüche in der eigenen Propaganda hingewiesen zu werden.
Bedingungslose Wahrheitsliebe scheint nicht zu den "europäischen Werten" zu gehören
Die Autoren des Briefs fühlen sich dementsprechend von lästigen Fesseln der Seriosität befreit und fordern von den EU-Ländern, "es den Regierungen von Island und dem Vereinigten Königreich gleichzutun und nicht an der Fußball-WM 2018 in Russland teilzunehmen". Der dann folgende Absatz fasst das auf reinen Behauptungen beruhende westliche Medien-Konstrukt des "feindlichen Russlands" noch einmal in seiner ganzen Pracht zusammen:
Der Giftgasanschlag in Salisbury ist nur das neueste Kapitel von Wladimir Putins Verhöhnung unserer europäischen Werte: willkürliche Bombenangriffe auf Schulen, Krankenhäuser und Wohngebiete in Syrien; die brutale militärische Invasion der Ukraine; systematische Hackerattacken; Desinformationskampagnen; Wahleinmischung; Versuche, die EU zu schwächen und destabilisieren - all das steht nicht auf der Visitenkarte eines guten WM Gastgebers.
Hier steht in so wenigen Worten so viel Unbewiesenes, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll - und genau diese Wirkung wird durch die hier angewandte mediale "Stapel"-Technik angestrebt, die gegenüber Russland weit verbreitet ist: Man türme Vorwurf auf Vorwurf, damit man als Konsument gar nicht dazu kommt, die einzelnen Vorgänge zu hinterfragen. Von weitem ergibt sich so ein pseudo-beeindruckendes Gebäude aus "ernsten" Anklagen, das jedoch bei der kleinsten Nachfrage zusammenbrechen würde - wenn denn jemand nachfragte.
Primat der Propaganda
"Auch wir sind der Überzeugung, dass Sport helfen kann, metaphorische Brücken zu bauen", beginnen die Autoren vielversprechend, um dann umso mehr zu enttäuschen: "Aber solange Putin echte Brücken in Syrien in die Luft sprengt, können wir nicht so tun, als sei diese Weltmeisterschaft ein Sportereignis wie jedes andere."
Abgesehen von der verkürzten und unhaltbaren Sicht, die hier auf die Vorgänge in Syrien geworfen wird, beweisen die Kalten EU-Krieger, dass sie das wichtige Prinzip eines nicht durch politische Propaganda missbrauchten Sports missverstanden haben: Gerade mit den Nationen, mit denen man politisch oder militärisch über Kreuz liegt, sollte friedlich Sport getrieben werden. Bei Nationen, mit denen man sich auf einer Linie befindet, stellte sich die Frage nach einem Boykott doch erst gar nicht.
Der Offene Brief sagt viel über das intellektuelle und politische Niveau der Unterzeichner und vor allem der Initiatorin Rebecca Harms aus - und über ihre Verzweiflung: "Drei Tage nach der Winterolympiade [gemeint sind die Olympischen Spiele] 2014 in Sotschi ist Putin in die Ukraine einmarschiert." Seit Jahren werden die Bürger mit solcher Art Propaganda bearbeitet, ohne dass diese bei der Bevölkerung Wirkung entfalten würde, wie Umfragen zur deutsch-russischen Sehnsucht beweisen. Wer jetzt immer noch solche Sätze schreibt, will krampfhaft eine längst entlarvte Deutung des Geschehens am Leben halten. Die Autoren des Briefes wollen nicht aufklären, sondern zerstören: die Völkerverständigung und den Fußball.
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