von Ulrich Heyden, Moskau
Aleksandr Michailow, General des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB im Ruhestand, hat schon einiges erlebt. Doch jetzt ist Michailow als Experte im Fall Salisbury wieder gefragt. Unmittelbar nach dem angeblichen Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Geheimdienstmitarbeiter Sergej Skripal und dessen Tochter Julia in Großbritannien nahm Michailow gegenüber der russischen Internetplattform Sobesednik Stellung. Michailow, der mittlerweile Mitglied des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik ist, erklärte, Russland sei "schon schuldig gesprochen worden", obwohl - wie auch schon beim Fall von Aleksandr Litwinenko – "die Fakten fehlen".
Das habe Methode. Der ehemalige FSB-General erinnert an den deutschen Plutonium-Skandal der 1990er Jahre. Am 10. August 1994 wurden in einer Lufthansa-Maschine 330 Gramm Plutonium von Moskau nach München geschmuggelt. Michailow war damals an Treffen mit dem damaligen deutschen Geheimdienst-Koordinator, Bernd Schmidbauer, beteiligt, der infolge des Plutonium-Skandals Moskau besuchte.
Deutsche Politiker und Medien behaupteten schon damals, das Plutonium komme aus Russland. Um herauszufinden, wo das Plutonium produziert wurde, "braucht man ein halbes Jahr", sagte der General im Ruhestand. Die deutschen Behörden aber hätten das beschlagnahmte Plutonium damals in drei Tagen analysiert, obwohl Deutschland keine Atommacht ist und "keine Möglichkeiten für eine genaue Untersuchung hat".
"Die USA wollten Kontrolle über die russischen Atomanlagen"
Deutsche Medien und Politiker schürten 1994 eine regelrechte Panik-Stimmung wegen eines Handels mit illegalem nuklearen Material aus Russland, der Deutschland bedrohe. Es wurden schärfere Gesetze gefordert, welche den deutschen Geheimdiensten größere Vollmachten geben sollten. Im Fokus stand damals die "russische Mafia", die sich angeblich die Lage unterbezahlter Mitarbeiter nuklearer Anlagen in Russland zunutze mache, um an nukleares Material zu kommen. Nach der Beschlagnahme von 330 Gramm Plutonium auf dem Flughafen in München fantasierte die Bild gar, mit dem beschlagnahmten Plutonium könne man "das Trinkwasser in ganz Deutschland vergiften".
Insbesondere für die USA waren die Nichtverbreitung von Kernwaffen und die Gefahr, dass Plutonium aus Russland in die Hände von Terroristen gelangen könnte, damals die Hauptthemen. Dahinter steckte eine politische Absicht. "Die USA wollten die Kontrolle über alle russischen Anlagen, in denen spaltbares, nukleares Material produziert wird", sagte Aleksandr Michailow bei einem Treffen mit Journalisten im Redaktionsgebäude der Tageszeitung Moskowski Komsomolez am vergangenen Freitag.
Der Gedanke, dass die USA die russischen nuklearen Anlagen kontrollieren wollten, wirkt heute realitätsfern. Doch 1994 hofften einflussreiche Kräfte im Westen, das durch wirtschaftlichen Niedergang geschwächte Russland in umfassender Weise kontrollieren zu können. Berater aus den USA hatten in Moskau vertrauensvollen Zugang zur russischen Regierung. Die westlichen Länder galten unter Regierungsmitgliedern damals als Vorbild für Russland.
Bei dem Treffen mit Journalisten erklärte Michailow, nach einer Isotopen-Analyse habe sich herausgestellt, dass das 1994 in München beschlagnahmte Material "überhaupt kein russisches Plutonium war". Und im Fall Skripal müsse man an den britischen Geheimdienst ein paar ernste Fragen stellen, nämlich wie genau das gegen Skripal eingesetzte Giftgas nach Großbritannien gelangt sein soll und warum der britische Geheimdienst den Anschlag nicht verhindern konnte?
Wie kam der Plutonium-Skandal 1994 ins Rollen?
Als am 10. August 1994 der aus Moskau kommende Lufthansa-Flug 3369 in München landen sollte, warteten bereits die Beamten der deutschen Kriminalpolizei und des Geheimdienstes BND. Dass Plutonium aus Moskau kommt, war den Diensten offenbar schon bekannt. Die Beamten verhafteten einen dunkelhaarigen Mann aus Kolumbien mit einem Hartschalenkoffer. Am Abend des gleichen Tages wurde von einem Sondereinsatzkommando des LKA Bayern in einem Hotel der Münchener Innenstadt noch ein Angehöriger einer "internationalen Tätergruppe" verhaftet, die "illegalen Handel mit sensitivem Material" betrieben haben soll. Einer der Verhafteten war, so der Bericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses zum Plutonium-Skandal, im Besitz von angeblich 500 Gramm Plutonium und 200 Gramm Lithium-6.
Während der Spiegel 1994 zunächst noch die Angst vor "vagabundierendem Plutonium" aus Russland schürte, machte das Wochenmagazin im April 1995 - Helmut Kohl und die schwarz-liberalen Regierungsparteien hatten die Wahl knapp gewonnen - eine Kehrtwende. In der Spiegel-Titel-Story vom 10. April 1995 heißt es zum Münchner Plutonium-Skandal nun plötzlich, das Ganze sei "ein großangelegter Schwindel, [um] Moskau unter Druck zu setzen - inszeniert vom Bundesnachrichtendienst in Pullach". Die Operation trage den Decknamen "Hades". Das Wochenmagazin ging noch weiter:
Seit es den Feind im Osten nicht mehr gibt, steckt der Geheimdienst in einer Sinnkrise. War der Plutoniumdeal eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für wilde Abenteurer? (Der Spiegel, 18.12.1995)
In seiner Titel-Story vom April 1995, "Der Bomben-Schwindel des BND", hatte der Spiegel detailliert aufgedeckt, wie der Geheimdienst BND über V-Leute in Spanien den Kauf von Plutonium einfädelte und auch das für den Ankauf der heißen Ware nötige Geld organisierte.
Offizielle Vertreter der deutschen Geheimdienste rechtfertigten die Beteiligung der deutschen Dienste an dem Schmuggel damals damit, dass es darum gehe, dem internationalen Handel mit nuklearen Material auf die Schliche zu kommen und diesen zu stoppen.
Den Skandal nutzte Helmut Kohl für seine Wiederwahl
Am 16. Oktober 1994 waren Bundestagswahlen. Der damalige Amtsinhaber, Bundeskanzler Helmut Kohl, nutzte den Skandal ausgiebig, um für seine Wiederwahl zu trommeln. Ex-FSB-General Aleksandr Michailow erinnert sich:
Kanzler Kohl sollte für eine weitere Amtszeit gewählt werden, als ein Mensch, der sich um die Zukunft der Menschheit kümmert.
An seinen Freund, den russischen Präsidenten Boris Jelzin, schrieb Helmut Kohl, doch bitte dafür zu sorgen, dass "kein spaltbares Material in der Welt herumvagabundiert". Wenige Wochen vor der Bundestagswahl schickt Kohl den Koordinator der deutschen Geheimdienste, Staatsminister Bernd Schmidbauer, nach Moskau.
Der ehemalige FSB-General Aleksandr Michailow erinnert sich an das Treffen mit Schmidbauer. Man habe sehr wohl gewusst, dass es sich bei dem Plutonium-Skandal um eine von den deutschen Diensten eingefädelte Aktion handelte, berichtet Michailow bei dem Treffen mit Journalisten am Freitag vergangener Woche in Moskau. Russland sollte an den Pranger gestellt werden. "Wir verstanden sehr gut, welche Ziele sie verfolgten", sagt Michailow, "aber mit Rücksicht auf die guten Beziehungen zwischen Boris Jelzin und Kohl haben wir auf den [deutschen, U.H.] Geheimdienst keinen Druck ausgeübt."
Das Thema beschäftigte uns acht Monate", erinnert sich Michailow. Man habe sich mit den deutschen Sicherheits-Experten in Moskau und in Deutschland getroffen. "Wir versuchten den Vertretern der deutschen Geheimdienste den Unterschied zu erklären zwischen Uran 235 und Uran 238. Wir hatten es zu tun mit Menschen höherer Bildung, aber sie verstanden den Unterschied nicht."
Das Verhalten der russischen Seite in den Gesprächen mit den deutschen Sicherheitsexperten damals beschreibt der ehemalige FSB-General mit nüchternen Worten: "In einem bestimmten Moment haben wir mitgespielt. Kohl wurde zum Kanzler gewählt." Aber immerhin – so Michailow – habe der damalige Geheimdienst-Koordinator Bernd Schmidbauer seinen Posten aufgeben müssen. Das geschah allerdings erst 1998. Ein Strafverfahren gegen Geheimdienst-Koordinator Schmidbauer wurde zudem eingestellt. Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Plutonium-Skandal stellte seine Arbeit 1998 ohne Ergebnis ein.
Der Spiegel: "Abenteuerlichste Aktion des BND seit 40 Jahren"
Der Spiegel bezeichnete die Geschichte um den "weltgrößten Plutonium-Schmuggel" in seiner Titel-Story vom April 1995 als "eine der abenteuerlichsten Aktionen, die der deutsche Geheimdienst in seinen fast 40 Dienstjahren angezettelt hat". Die so genannte Operation Hades sollte "beweisen, dass die neue unheimliche Gefahr aus dem Osten tatsächlich besteht", schreibt das Blatt. Seit es den "Feind im Osten" nicht mehr gibt, "steckt der Geheimdienst in einer Sinnkrise.
Der Journalist und Buch-Autor Helmut Lorscheid, war als Fraktionsreferent der Grünen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Plutoniumskandal tätig. In einem vor einigen Tagen bei Heise.de veröffentlichten Forums-Beitrag erinnert er sich:
Was mir auffiel, war, dass es nur einen einzigen Wissenschaftler gab, der zudem über einen übrigens von keinem Parlament kontrollierten 'eigenen' Plutonium-Vorrat in der Kernforschungsanlage Karlsruhe verfügte. Er allein hat festgestellt und bekundet, dass es sich sowohl bei der Probelieferung als auch später bei den rund 330 Gramm um Plutonium handelte und um irgendwas anderes. Wer die Lieferanten in 'Moskau' waren, bliebt unklar. Klar wurde aber, es gab für diesen ganzen Schmuggel von radioaktivem Material keine wirklichen Abnehmer. Die einzigen 'Kunden' waren Journalisten, V-Leute der Nachrichtendienste und Polizei, sowie Polizisten und Nachrichtendienstler.
Warnung aus dem Auswärtigen Amt
Nach 30-monatiger Arbeit legte der Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Plutonium-Skandal am 28. Mai 1998 einen Abschlussbericht vor, der jedoch keine konkrete Empfehlung enthielt. Trotz der Enthüllungen des Spiegel heißt es in dem Bericht, "weitere Konsequenzen" seien nicht nötig.
Auch auf die Frage, woher das in München beschlagnahmte Plutonium genau stammt, gibt der Ausschuss-Bericht keine Antwort. In dem Bericht heißt es auf Seite 194 nur nebulös, dass "das fragliche Material mit großer Wahrscheinlichkeit in Anlagen auf dem Gebiet der Russischen Föderation hergestellt wurde. Da jedoch jeweils mehrere Anlagen als potenzielle Herstellungsorte in Betracht kommen, kann aus diesen Erkenntnissen nicht auf die konkreten Entwendungsorte geschlossen werden. Hierzu wäre ein Abgleich mit den 'Fingerabdruckkarteien', d. h. den Produktionsprotokollen und Spaltstoffüberwachungsdokumenten der jeweiligen Anlagen erforderlich".
Vertreter der russischen Sicherheitsbehörden hatten Beschuldigungen gegen Russland damals zurückgewiesen. Am 8. Mai 1997 erklärte der Pressesprecher des FSB, Aleksandr Sdanowitsch, das in München beschlagnahmte Plutonium stamme "nach abschließenden Ergebnissen der Untersuchungen nicht aus Russland".
Der Bitte aus Moskau, Russland eine Probe des beschlagnahmten Plutoniums zu überstellen, entsprach die Bundesregierung nicht.
Der Bericht des Bundestages-Untersuchungsausschusses enthält einige interessante Details. Dazu gehört der Abschnitt über Dr. Auer, einen Mitarbeiter des deutschen Auswärtigen Amtes. Der Bericht zitiert aus einem Bericht von Dr. Auer, der am 11. Oktober 1994, nach Gesprächen mit drei Mitarbeitern des BND, an seine Vorgesetzten schrieb, es sei problematisch, "dass dieser Fall - auch nach eigener Darstellung des BND - von unseren Diensten nicht nur aufgedeckt, sondern weitgehend herbeigeführt wurde". (Bericht des Untersuchungsausschusses S. 182/183) Weiter gibt der Bericht des Untersuchungsausschusses eine Aussage von Dr. Auer wie folgt wieder: "Schließlich habe es im Münchener Plutoniumfall zwar einen Anbieter, nicht aber einen wirklichen 'Nachfrager' gegeben. Als (Schein-)Aufkäufer seien vielmehr nur staatliche Stellen in Erscheinung getreten". Das sichergestellte Plutonium wäre nach seinem Eindruck
ohne die Dienste nicht nach München gelangt.
Äußerst peinlich für den BND war auch das im Juli 1995 gefällte Urteil des Landgerichts München gegen die drei im August 1994 festgenommenen Plutonium-Schmuggler. In seinem Urteil stellte die 9. Strafkammer des Landgerichts fest, bei dem Plutonium-Fall habe es sich um eine "klassische polizeiliche Tatprovokation" gehandelt.
Wie lange hält sich Theresa May?
Dass es zwischen Salisbury 2018 und München 1994 Parallelen gibt, liegt für den ehemaligen Geheimdienst-General Michailow auf der Hand. "Was wir jetzt im Fall Skripal sehen, ist das gleiche Schema." Wie damals werde Russland "als der größte Feind der Menschheit dargestellt, weil wir angeblich Menschen auf der ganzen Welt vergiften". Michailow ist sich sicher, dass "der britischen Führung ein ähnliches Schicksal widerfahren wird wie dem damaligen deutschen Geheimdienst-Koordinator Schmidbauer". Man könne schon Wetten abschließen,
wie lange Theresa May auf ihrem Posten bleibt: drei Monate, sechs Monate?
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