Wie können zehn Milliarden Euro einfach so verschwinden? Diese Frage müssen dieser Tage belgische Banken und Behörden beantworten: Libysche Vermögen, die nach dem NATO-Angriff gegen das nordafrikanische Land 2011 auf belgischen Banken eingefroren wurden, haben sich auf wundersame und bislang ungeklärte Weise verringert - von 16,1 Milliarden Euro im Jahr 2013 waren 2017 nur noch rund fünf Milliarden Euro übrig.
Bereits im November 2013 enthielten vier Euroclear-Bankkonten der Libyan Investment Authority (LIA) und ihrer Tochtergesellschaft Libyan Foreign Investment Company (LAFICO) in Bahrain und Luxemburg rund 16,1 Milliarden Euro an gesperrten Vermögenswerten. Als die Behörden jedoch 2017 versuchten, die Gelder zu beschlagnahmen, stellte sich heraus, dass auf den entsprechenden Konten nur noch knapp über fünf Milliarden Euro verblieben waren, wie eine Untersuchung der Wochenzeitung Le Vif ergab.
"Auf den vier bei der Euroclear Bank SA eröffneten Konten verblieben etwas weniger als fünf Milliarden Euro", sagte Denis Goeman, ein Sprecher der Brüsseler Staatsanwaltschaft, der belgischen Zeitung. Die verbliebenen Gelder seien immer noch beschlagnahmt, aber bisher habe sich Euroclear geweigert, die Konten zu übergeben, was die Staatsanwaltschaft dazu veranlasste, der Institution mit "Zwangsmaßnahmen" zu drohen, es sei denn, Euroclear gibt die restlichen libyschen Gelder "innerhalb einer bestimmten Frist" frei.
Hat Belgien die UNO-Vorschriften ignoriert?
Berichten zufolge haben die belgischen Justizbehörden das Verschwinden im Herbst 2017 bemerkt, als der Untersuchungsrichter Michel Claise, der für die Untersuchung mutmaßlicher Geldwäsche in Muammar al-Gaddafis engstem Kreis zuständig war, die Beschlagnahme der eingefrorenen libyschen Gelder forderte. Diese Vermögenswerte sind seit März 2011 gemäß der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates eingefroren. Belgien hat das "Auftauen" dieser Vermögenswerte jedoch nie genehmigt, sagte Florence Angelici von der Generalverwaltung des Schatzamtes gegenüber Le Vif.
Dem Papier zufolge gebe es viele "Anzeichen" dafür, dass Belgien die UNO-Vorschriften über das Einfrieren von Vermögenswerten auf bestimmten libyschen Konten bei lokalen Banken nicht eingehalten habe. Vor dem "Aufstand" von 2011 und dem folgenden Krieg, in dessen Folge Gaddafi sein Leben verlor, war Libyen ein wichtiger Ölexporteur. Um den Geldfluss aus dem Land mit Afrikas größten nachgewiesenen Ölreserven besser zu bewältigen, gründete die Regierung 2006 die libysche Investitionsbehörde, um den Reichtum des Landes im Ausland investieren zu können.
Mit dem Angriff der NATO im Jahr 2011 führte die UNO auch finanzielle Sanktionen gegen die libysche Regierung ein und beschlagnahmte etwa 67 Milliarden Dollar aus der LIA, die in ganz Europa und Nordamerika gehalten wurden. In der EU haben die nationalen Regierungen jedoch nur die ursprünglichen Beträge eingefroren, während die Zinsen und Dividenden, die nach 2011 erwirtschaftet wurden, unangetastet blieben.
Flossen Zinsen rund um den Globus?
Durch eine im vergangenen Monat von der Brüsseler Wochenzeitung Politico durchgeführte Recherche wurden "große, regelmäßige Abflüsse von Aktiendividenden, Anleiheneinkünften und Zinszahlungen" aus den 16 Milliarden Euro, die Gaddafi-Fonds in Belgien halten, entdeckt - was auf eine "Lücke im Sanktionsregime" schließen lässt.
Laut Politico flossen Zinsströme aus dem Fondsvermögen rund um den Globus. Das Medium zitiert dazu ehemalige Geschäftsführer der LIA. Die Euroclear Bank bestätigte zudem die Zahlung monatlicher Dividenden aus den vier eingefrorenen Vermögenswerten. Dem E-Mail-Verkehr zwischen einem Euroclear-Mitarbeiter und dem belgischen Finanzministerium zufolge seien die Zinsen einmal im Monat auf ein "HSBC-Konto in Luxemburg, das zu LIA gehört, und auf mehrere andere LIA-Konten bei der Arab Banking Corporation, einer Bank mit Sitz in Bahrain, deren Hauptaktionär die libysche Zentralbank ist, freigegeben" worden, berichtet Politico.
Während das belgische Finanzministerium darauf besteht, dass die Zinszahlungen rechtmäßig gewesen seien, legt die am Donnerstag veröffentlichte Recherche von Le Vif nahe, dass die Behörden nun mehrere entscheidende Fragen beantworten müssen, wobei die wichtigste lautet: Wohin sind die zehn Milliarden Euro verschwunden?
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