von Wladislaw Sankin
Legendär sind diese Worte Lenins:
Die Revolution der Arbeiter und Bauern, über deren Notwendigkeit die Bolschewiki schon immer gesprochen haben, hat sich ereignet!
Wladimir Iljitsch Lenin soll sie bei der Sitzung des Petrograder Sowjets am 25. Oktober 1917 gesagt haben. In den 100 Jahren, die seither vergangen sind, erlebte die Welt den Aufstieg und den Fall des ersten sozialistischen Staates. Aber die Auswirkungen der Machtergreifung der Bolschewiki auf die Weltordnung und gesellschaftliche Systeme weltweit waren revolutionär und setzten sich noch über Jahrzehnte fort.
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Seit der Gründung einer Vorläuferorganisation im Jahr 1896 brauchten die Bolschewiki gute 20 Jahre, um ihre Partei schlagkräftig zu machen und dann, die Gunst der Stunde nutzend, nach der Macht zu greifen. Einen vergleichbar langen Zeitraum brauchte Russland nach dem Ausstieg der US-Amerikaner aus dem Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen im Jahr 2002, um jene Waffen zu entwickeln, die nun auf absehbare Zeit die nukleare Parität wiederherstellen. Seit fast zwei Jahrzehnten spricht Putin mittlerweile von der strategischen Balance, die mit dem einseitigen Akt der USA von 2002 ruiniert wurde.
Neu entwickelten russisches Waffenarsenal stellt Gleichgewicht wieder her
Die multimediale Waffenschau des russischen Präsidenten, zielsicher platziert wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen, hatte für die Weltordnung eine vergleichbar revolutionäre Bedeutung: Die multipolare Welt, deren Eintreffen die russische Führung besonders in den letzen Jahren immer beharrlicher verkündet hatte, ist nun eine handfeste Realität. Es reicht nicht mehr der Wille eines offenbar korrupten Weltpolizisten, um irgendetwas durchzusetzen – sei es einen Regime-Change, Sanktionen gegen missliebige Staaten oder gar eine Invasion. Es gibt nun jemanden, der militärisch Paroli bieten kann.
Fast dreißig Jahre lang konnte die verbliebene globale hegemoniale Macht mit Zentrum in den USA im Genuss der herausragenden Stellung auf dem Podium der Geschichte bleiben – mit zunehmenden Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten, aus der Sicht des Hegemons wohl das Resultat von Destabilisierungsversuchen der "revanchistischen Mächte", nahmen seit der ersten Warnung – der Rede Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz in Februar 2007 - immer mehr zu: Georgien-Krieg 2008, Abspaltung der Krim 2014, russische Gegensanktionen gegen den Westen, die russische Teilnahme am Syrien-Krieg.
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Dabei bleibt festzuhalten, dass die Militärdoktrin Russlands, allen Beteuerungen der NATO-Mitglieder zum Trotz, eine defensive ist. Die Botschaft nach innen, die Putin mit der Waffenschau an die russischen Bürger verkündet hat, lautet: Ihr könnt in Ruhe Kinder kriegen und Euch auf das Modernisierungsprogramm im eigenen Land konzentrieren. Für mindestens eine Generation ist das grundlegendste Verteidigungsproblem - die Unfähigkeit, im Fall eines Nuklearangriffes gegen den Angreifer vernichtend zurückzuschlagen -, nun gelöst. Ohne diese Modernisierung macht allerdings auch eine gute Verteidigung langfristig keinen Sinn.
Auch der Westen wird kein monolithischer Block bleiben
Die Wirkungsstärke dieser Botschaft nach außen lässt sich erst nach Jahren messen. Die physische Anwesenheit zehntausender US-Soldaten auf US-Militärbasen in Europa, die nach den erfolgreichen Tests der neuen russischen Waffen keinen militärischen Sinn mehr haben, wird sie in den Augen der hiesigen Bevölkerung langsam in die Nähe einer Kolonialarmee rücken. Die Einheit und angebliche Geschlossenheit des Westens wird sich in flexibleren Bündnissen auflösen und viele bisherige Anführer der westlichen Welt werden auf anderen Plattformen nach anderen, nicht in Washington festgelegten Regeln mitspielen.
Der bisherige Außenminister Sigmar Gabriel verkörpert im Moment diese Strategie. Zwar schreiben die Koalitionäre der neuen Regierung immer noch die bedingungslose Treue zum Partner auf der anderen Seite des Atlantiks in ihrem Vertrag fest, jedoch schielen immer mehr deutsche Politiker in Richtung Groß-Eurasien, wo China und Russland gemeinsam an der Vernetzung der modernen logistischen Infrastrukturen arbeiten. Die USA wird von deutschen Politikern öffentlich immer öfter für ihre Sanktionswut gerügt, wenn auch aus höchst eigennützigen Gründen: Die Deutschen verzetteln sich allmählich im Dickicht der US-Sanktionen und das ärgert sie.
Vor dieser Kulisse wirken auch eigene, im Jahr 2014 ebenso auf Druck der USA beschlossene antirussische Sanktionen immer deplatzierter. Wie sichtbar erleichtert wirkte Sigmar Gabriel nach der Ankündigung Wladimir Putins, im September 2017 eine UN-Blauhelmtruppe im Donbass installieren zu wollen! Seitdem reist Gabriel unermüdlich in die Ukraine, um eine Lösung auszuloten. UN-Truppen könnten den Unterhändlern helfen, "das Gesicht beim Abbau der Sanktionen zu wahren", der in deutschen Wirtschaftskreisen immer mehr im Gespräch ist. Die Erkenntnis, dass sie Russland eventuell sogar genutzt, während sie der eigenen Wirtschaft geschadet haben, hat sich in den letzten Monaten endgültig durchgesetzt.
Putin sprach noch vor Föderalen Versammlung, als der Ost-Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Büchele und die Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries am gleichen Tag auf der Russland-Konferenz der Auslandshandelskammer zu einer gesichtswahrenden Lösung aufriefen, zu der "alle Parteien" im Konflikt um die Ukraine einen Beitrag leisten müssten. Dann könnten die lästigen Sanktionen, gegen die 94 Prozent der deutschen Unternehmen eintreten, "schrittweise" fallen.
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Medialer Drei-Minuten-Hass auf Putin wirkt immer lustloser
Den Stimmungswandel in der deutschen Elite drücken auch die verhaltenen Reaktionen auf die "fantastische" Waffenschau des russischen Präsidenten aus. Die Talkrunden nach Art "Was will Putin?!" sind ausgeblieben, eine relativ lustlose Hysterie beschränkte sich auf den überschaubaren Wirkungskreis der Bild-Zeitung. Man kennt das ja anders. Hat man Putin endlich zugehört? Sein Ziel ist wohl, die Amerikaner zurück an den Verhandlungstisch zu holen und über neue Sicherheitsgarantien zu verhandeln. Die deutschen Medien, sonst stramm NATO-treu, baten sich da zum Teil überraschenderweise sogar als Vermittler an:
Dieser Weg muss durch Verhandlungen schnell eingeschlagen werden [...] Die NATO und Russland müssen zu der Befriedungs- und Abrüstungspolitik der Jahrtausendwende zurückkehren und um die Spirale des gegenseitigen Wettrüstens zu durchbrechen, braucht es eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Diese Sicherheitsarchitektur muss ein gemeinsames Interesse der Rüstungskontrolle als Grundlage haben. Denn in der heutigen Zeit misst sich das Gefahrenpotenzial durch den technischen Fortschritt nicht mehr an der Größe der Armee. In den falschen Händen kann eine kleine Gruppe oder ein kleines Land zur immensen Bedrohung für den Weltfrieden werden. Dem müssen Russland und die NATO gemeinsam vorbeugen", schrieb T-Online.
Was ist da los? Redet da nicht etwa Sahra Wagenknecht? Gleiche Maßstäbe für NATO und Russland sind in deutschen Medien ein Novum. Und das ist erst der Anfang. Deutschland will in der neuen multipolaren Welt nichts verpassen. In München ist bereits für 23. März eine Konferenz "Europa und die Welt im Wandel – Deutsch-Russische Wirtschaftsbeziehungen und ihr Einfluss auf die Weltordnung" anberaumt. Der bekannte russische Experte Prof. Sergej Karaganow, Vordenker eines "Groß-Eurasiens", ist eingeladen. Die Fragestellung, die die letzten vier Jahre die Gesprächsrunden dominiert hatte, nämlich ob Russland zu Europa gehöre oder ob es gar ein Feind sei, ist ad acta gelegt. Das sind erstmal hochrangige Wirtschaftsvertreter und Experten, die sich da treffen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis der deutsch-russische Zusammenschluss auch von der Politik als gegeben wahrgenommen wird.
Putin will offenes und modernes, aber auch selbstbestimmtes Russland
Wladimir Putin hat in seiner zweistündigen Rede Russland nicht als von Feinden umschlossenen Bunker präsentiert, sondern als ein weltoffenes, nach hohem Lebensstandard, effektiver Verwaltung und Modernität strebendes Land. Eine Ankündigung eines Kalten Krieges mit verhärteten Fronten war seine Botschaft nicht. Es geht nun aber darum, ob auch seine Adressaten in Washington in der Lage sind, sich der neuen Weltordnung in einer für alle schmerzlosen Weise anzupassen. Das wirtschaftlich-politische Modell, auf dem die bisherige US-Dominanz basiert, wird auch noch weiterhin unweigerlich schrumpfen. Bis jetzt zeigt Washington wenig Kooperationsbereitschaft. Eine Zunahme der Turbulenzen ist daher durchaus noch zu erwarten. Wichtig ist nur, dass die US-Kontrolle über Nuklearwaffen im Zuge dieser Turbulenzen in sicheren Händen bleibt. Aber während man wie medial gewöhnt woanders hinschaut, werden in diesen Märzwochen in Deutschland die Weichen dafür gestellt, welchen Platz das Land im sich gerade formierenden, neuen multipolaren Weltsystem einnehmen wird.
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