von Dr. Kamran Gasanow
Am 30. Januar hat der Kongress des Nationalen Dialogs zu Syrien in der russischen Kurstadt Sotschi seine Arbeit beendet. Die Delegierten verschiedener politischer Gruppen, die Regierung, die Opposition und diejenigen, die vor allem sich selbst vertraten, erzielten einen wichtigen Konsens – über die Errichtung einer Verfassungsreformkommission, die das Grundgesetz Syriens entweder abändern oder vollständig neu schreiben soll. Wenn man diesen Erfolg des Kongresses in Sotschi würdigt, muss man gleichzeitig die ernsthaften Probleme einräumen, die den Reformern ihre Arbeit erschweren. Von einer umfassenden Beilegung des mittlerweile siebenjährigen Konflikts ganz zu schweigen.
Interventionsmächte von außen nach wie vor bedeutsam
Der Präsident der Industrie- und Handelskammer von Damaskus, Mohammed Ghassan Al-Qalaa, der den Kongress eröffnete, verkündete vom Podium die Parole: "Hände weg von Syrien." Der Ausspruch, der tatsächlich zum Symbol des Treffens wurde, weist auf das zentrale Problem des Konflikts hin. Heute, nach sieben Jahren, gibt es kaum Experten, der die syrische Krise nicht im Kontext geopolitischer Intrigen betrachtet, in denen ein kleines Syrien zum Opfer oder Pfand in den Händen der "Mächtigen" wird.
Teilweise ist das ein Kampf der konkurrierenden Gaspipelines - zwischen Iran-Irak-Syrien und dem katarisch-saudischen Projekt -, eingekleidet in eine religiöse Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten. Dazu kommen auch die Ambitionen der neo-osmanischen Türkei, die Maschrek [arabische Gebiete östlich von Ägypten; RT] als das Objekt einer historischen Wiederbelebung betrachtet. Und natürlich eine Konfrontation im Geiste des Kalten Krieges zwischen dem in Syrien etablierten Russland und den Vereinigten Staaten, die alles Mögliche tun, um pro-russische Elemente auf der ganzen Welt zu ersetzen. Und natürlich Israel. Die Regierung in Jerusalem befürchtet das Anwachsen von Islamisten und schiitischen Gruppen wie der Hisbollah in der Region, aber ist auch immer noch daran interessiert, den Einfluss Syriens im benachbarten Libanon zu verhindern.
Das ist genau das, worüber der "syrische Älteste" Al-Qalaa und viele andere Delegierte referierten. Aber sind die Syrer in der Praxis tatsächlich in der Lage, die vom Führer der Moskauer Plattform, Qadri Dschamil, geäußerte Formel "Wir kommen selbst zurecht" umzusetzen?
Unfähigkeit zu Kompromissen verstärkt Pattsituation
Bei allen Wünschen schaffen die Syrer es nicht, einen Modus vivendi miteinander abzumachen. Auf dem Territorium Syriens, wo Dschamil vorschlug, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen und dem Krieg ein Ende zu setzen, wird nach wie vor alles mit Gewalt entschieden. Wer besser kämpft, erweist sich als der "Richtige" und ist weniger bereit für Zugeständnisse. Am Rande des Treffens in Sotschi sagte mir einer der Assad-nahen Journalisten, dass der syrische Präsident nach den militärischen Erfolgen in Aleppo, Palmyra, Deir ez-Zor und teilweise in Idlib weniger kompromissbereit sei als noch vor einem Jahr. Noch weniger dazu bereit wären die im Krieg verletzten Generäle, die viele ihrer Kameraden verloren haben. Unabhängig davon, wie die Verfassung am Ende zurechtgezerrt wird, ist es kaum möglich, über die Schlüsselfrage "Zukunft von Assad" ohne Druck von außen zu verhandeln. Die pro-türkische Freie Syrische Armee (FSA) und das pro-saudische und von den USA und der EU unterstützte High Negotiations Committee (HNC) fordern immer noch den Rücktritt von Assad.
Sind Ankara, Washington und Riad aber bereit, ihre Marionetten von Konzessionen zu überzeugen? Oder Russland und Iran dazu, Assad zum Rücktritt zu überreden? Das syrische Volk ist weit entfernt von diesen geopolitischen Machenschaften und interessiert sich nur für eine Sache - Frieden und das Ende des Krieges. Nach Schätzungen der Weltbank sind für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Syriens 500 Milliarden US-Dollar erforderlich. Der ehemalige russische Botschafter in Algerien, Alexander Aksenenkow, sagte in Sotschi, dass das Vorkriegsniveau des BIPs im besten Fall im Jahr 2030 erreicht werden kann. Aber in der Weltpolitik ist für einige Autoritäten so manches wichtiger als der Frieden. Keiner der von außen gekommenen Akteure, die kolossale militärische und ökonomische Mittel in Syrien investiert haben, will "auf die Nase fallen". Für den Iran zum Beispiel wäre ein Abgang von Assad, für den die besten Generäle der IRGC gefallen sind, eine "Demütigung" gegenüber den sunnitischen Monarchien.
Diplomatie oder Vernichtungskrieg
In dieser Situation gibt es zwei Möglichkeiten: eine einfachere und längerfristig stabile Lösung die, aber auch die teuerste wäre. Dies ist in jeder Hinsicht der absolute Sieg einer der Parteien. Die Armee von Assad, die 65 Prozent des Territoriums und fast 75 Prozent der syrischen Bevölkerung wieder unter ihre Kontrolle gebracht hat, ist am ehesten dazu in der Lage. Der aktive Angriff der SAA in Idlib erregte Ärgernis beim türkischen Außenministerium, in das der russische und der iranische Botschafter einbestellt wurden. Im Gegensatz zur Türkei, die zusammen mit der FSA das Dreieck Azaz-Jerablus-El-Bab hält und die Offensive in Afrin führt, ist Saudi-Arabien mittlerweile das schwächste Glied auf dem Feld geworden. Ihr einziges militärisches Bollwerk - die Dschabhat al-Nusra - verliert ihre Kraft in Idlib und gibt an Assad Meile für Meile ab. All das geschieht mit stillschweigender Zustimmung Ankaras, des einstigen Verbündeten Riads.
Das zweite Szenario ist eine Manifestation diplomatischen Genies auf einer Höhe von Metternich, Talleyrand oder Gortschakow - eines Diplomaten, der in der Lage sein wird, die inkompatiblen Positionen von Assad, FSA, HNC und anderer so genannter gemäßigter Oppositionsgruppen wie der "Moskauer Plattform" zu kombinieren. Zum Beispiel in Form der Bildung einer Regierung mit Assad und einer Opposition für eine Übergangszeit, an deren Ende Neuwahlen stehen. Aber auch bei einem solchen optimistischen Szenario hängt der Erfolg vom jeweiligen Kräfteverhältnis ab.
Wird es möglich sein, die Formate Genf und Astana zu kombinieren?
Nach dem Treffen in Sotschi sagte Sergei Lawrentjew, der Vertreter des russischen Präsidenten, dass die Ergebnisse des Kongresses nach Genf übertragen werden sollen, wo der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura eine Verfassungskommission bilden soll. Das Hauptproblem dieser diplomatischen Lösung ist die Kombination des so genannten Astana-Sotschi-Formats mit Genf. Man muss daran erinnern, dass das HNC von der Schweiz aus den Kongress in Sotschi boykottiert hatte. Zudem kamen 100 Vertreter der FSA nicht aus dem Flugzeug und flogen zurück in die Türkei. Die Saudis und Amerikaner werden Druck auf de Mistura ausüben, um möglichst viele Mitglieder des HNC in die Verfassungskommission aufzunehmen und den Einfluss der Baath-Partei zu schwächen. Assad, der in eine verletzliche Position gebracht werden könnte, wird gezwungen sein, die Ergebnisse in Genf abzulehnen. Das gäbe dem HNC einen zusätzlichen Grund, Assad in den Augen der Vereinten Nationen zu diskreditieren.
Russland und die USA versuchen, das Verhandlungskomitee als Summe von Puzzlesteinen zu sammeln und zu einem gemeinsamen Format zu vereinigen. Mit Ausnahme von Terroristen und Al-Nusra muss eine politische Einigung zwischen Assad, dem HNC, der gemäßigten Moskauer Opposition und der FSA erzielt werden. Bisher lassen diese sich nicht am selben Tisch versammeln. Und es gibt noch eine andere Gruppe, die 25 Prozent des Territoriums Syriens kontrolliert und unter US-Schirmherrschaft steht.
Der "Wermutstropfen" - die kurdische Frage
Die "Demokratische Union" (PYD), die de facto die syrischen Kurden vertritt, wurde bislang zu keiner der internationalen Verhandlungen über Syrien eingeladen. Die Türkei blockiert die Gruppe und betrachtet die PYD und deren militärischen Flügel, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als der Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), mit der Ankara auf seinem eigenen Territorium Krieg führt. Die Situation der PYD wurde mit dem Beginn der Operation "Olivenzweig" in Afrin, wo die türkischen Streitkräfte YPG-Posten beseitigen, noch komplizierter. Am selben Tisch zu sitzen wie der "Feind" FSA, der Dorf für Dorf von der YPG übernimmt, ist für die Kurden kaum vorstellbar. Und die Türkei wird es ihnen auch nicht erlauben, zumindest nicht in Sotschi, wo Ankara zusammen mit Moskau und Teheran zu den Garanten gehört.
Das Problem wird auch dadurch komplizierter, dass die YPG von den USA, Ankaras NATO-Verbündeten, unterstützt werden. Und genau das hemmt die Lust der Türkei, mit Washington über Syrien zu verhandeln. Der Einsatz von Recep Tayyip Erdogan in Afrin macht es den Kurden jedoch weiterhin unmöglich, sich am syrischen Beilegungsprozess zu beteiligen. Aber ohne sie wird die Chance für den Frieden, selbst wenn eine Einigung erreicht wird, was ich sehr bezweifle, bestenfalls 70 Prozent betragen. Es sei denn natürlich, dass die türkischen Streitkräfte zusammen mit den russischen Luft- und Weltraumkräften und den iranischen IRGC das gesamte nördliche Syrien von kurdischen Milizen säubern.
Während die Verfassungskommission in Genf arbeiten wird, werden die Kämpfe in Syrien fortgesetzt. Für die FSA und die Türkei ist die Vertreibung der YPG aus Afrin heute viel wichtiger als ein diplomatisches Jonglieren unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen. Genau wie es für Assad und den Iran vordringlich ist, Idlib von Terroristen zu reinigen und für die Saudis, um jeden Preis die letzte Bastion eigenes Einflusses, vertreten durch Al-Nusra, zu retten. Was die Vereinigten Staaten anbelangt, besteht ihre Priorität darin, eine Niederlage der Kurden zu verhindern, die der einzige Verbündete und Garant eines Nachkriegsaufenthalts des Pentagons auf syrischem Boden bleiben. Die Europäische Union und China werden hingegen lange warten müssen, bevor sie ihre Investitionen akkumulieren und die zerstörte syrische Wirtschaft wiederaufbauen können.