Der Schweizer Militäranalytiker Ralph Bosshard äußerte sich anlässlich einer Podiumsdiskussion der Modrow-Stiftung in Berlin zu der Möglichkeit einer Deeskalation im Baltikum. Der Bürgerdialog trug den Titel "Europa zwischen Krieg und Frieden – Wird Deutschland zum Schlachtfeld?" Weitere Teilnehmer waren der Journalist Patrik Baab sowie die beiden aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen ranghohen Bundeswehroffiziere Harald Kujat und Kay-Achim Schönbach.
Auf die Frage eines Journalisten, wie man das Pulverfass Baltikum entschärfen könnte, antwortete Bosshard, dass das Baltikum ein Raum sei, der wie kein zweiter einen Vertrag über konventionelle Streitkräfte benötige, und das rasch. Bosshard zufolge bildet sich gerade eine neue Demarkationslinie zwischen den Mächten. Westlich und östlich davon seien die geografischen Vorbedingungen völlig unterschiedlich.
Bosshards Empfehlung, um eine drohende Eskalation dieser verfahrenen Situation zu verhindern: eine vertragliche Festlegung zwischen Russland und Weißrussland auf der einen Seite und den Ostseeanrainern auf der anderen Seite, die dazu führt, dass ein militärisches Gleichgewicht erreicht wird. Natürlich mit dem Ziel, dass der Umfang der stationierten Streitkräfte in den kommenden Jahren parallel reduziert wird. Dies wäre laut Bosshard ein Ansatzpunkt, der auf ganz Eurasien ausstrahlen könnte, von Westeuropa bis nach Südostasien. Er rate den westeuropäischen Regierungen, sich an die neuen (multipolaren) Realitäten anzupassen, weil sonst die übrigen eurasischen Staaten den Westen abhängen würden. Die Frage sei ohnehin, ob man den Westen, der seine Bedeutung bereits jetzt verliere, überhaupt noch anhören wolle, selbst wenn er gute Überlegungen einbringe.
Bosshard ist Oberstleutnant im Generalstab, war in der Vergangenheit Berufsoffizier der Schweizer Armee, u. a. Ausbilder an der Generalstabsschule und Chef der Operationsplanung im Führungsstab der Armee. Nach der Ausbildung an der Generalstabs-Akademie der russischen Armee in den Jahren 2013/14 in Moskau diente er als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei der OSZE, als Senior Planning Officer in der Special Monitoring Mission to Ukraine und als Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe der OSZE. Zivilberuflich ist Bosshard Historiker mit einem Magister an der Universität Zürich.
Am Ende seiner Ausführung vor dem Publikum in Berlin sagte der Experte, dass es die Aufgabe eines Generalstabsoffiziers sei, gute Überlegungen in verständlicher Form für die Politik zu präsentieren. Dies sei aber auch in der Schweiz immer seltener der Fall, denn die hohen Militärs sagten nur das, "was die Politiker hören wollen".
Sein Ansatz erinnert an die Vorschläge von Oberst a. D. Wolfgang Richter, der bereits 2019 ein "subregionales Stabilitätsregime" mit Rüstungskontrolle im Baltikum vorgeschlagen hatte. Ähnlich wie Bosshard hatte Richter damals die Hoffnung gehegt, eine dortige Einigung könnte zum Ansatzpunkt für Sicherheit und Stabilität im gesamten OSZE-Raum werden. Auch Richter hatte in seiner Analyse die geografischen Grundlagen des baltischen Raumes berücksichtigt. Russland habe – so Richter – einerseits einen strategischen Vorteil, weil es im Ernstfall aus der Tiefe des Raumes heraus angreifen könne, andererseits sei es durch die Exklave Kaliningrad sehr exponiert. Die NATO wiederum verfüge zwar über eine konventionelle Überlegenheit in Europa, dafür seien aber ihre Nachschublinien ins Baltikum gefährdet.
Richter war damals der Auffassung gewesen, dass ein regionaler Konflikt im Baltikum nicht eingegrenzt werden könne, sollte er ausbrechen. Angesichts der militärischen Möglichkeiten beider Lager außerhalb der baltischen Subregion müssten die angezielten Stabilitätsmaßnahmen (also etwa Truppenbeschränkungen) weitere Gebiete als nur diejenigen unmittelbar an der Grenze liegenden umfassen. Die Rede war 2019 von bis zu 600 Kilometern in beide Richtungen gewesen. Richters Vorschläge bezüglich einer konventionellen Rüstungs- und Stationierungskontrolle wurden allerdings nie verwirklicht, stattdessen verschärften sich spätestens mit der Ausweitung des Ukraine-Konflikts 2022 die Spannungen im Baltikum.
Derzeit allerdings verläuft die Entwicklung im Baltikum weiterhin in Richtung Eskalation. Die baltischen Staaten sowie Finnland und Polen bereiten gerade den Austritt aus der Ottawa-Konvention vor, die den Einsatz von Antipersonenminen verbietet, oder sind bereits teilweise ausgetreten (RT DE berichtete). Und die Stationierung von NATO-Truppen im Baltikum, allen voran die Bundeswehr mit der Panzerbrigade 45 in Litauen, schreitet voran. Die Balten wiederum befürchten, dass die Neuordnung von Russlands Militärbezirken zu einer Stationierung russischer Truppen in grenznahen Gebieten führen könnte.
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