von Hans-Ueli Läppli
Welches Buch liest du gerade? Heute wirkt diese Frage fast wie eine knifflige Aufgabe bei einem Bewerbungsgespräch. Die Realität ist ernüchternd. Endlose TikTok-Feeds auf Smartphones haben längst die Rolle der Bücher übernommen. Jugendliche greifen kaum noch zu Printmedien, Zeitungen oder Magazinen. Den Zugang zu ihnen findet man eher beim Zahnarzt als im Alltag. Und doch wirkt das Aufschlagen eines Buches beinahe wie ein Akt der Rebellion. In der Londoner Metro etwa zelebrieren manche junge Menschen das Lesen wie einen Fashion-Trend, ein Statement zwischen Alltagshektik und digitaler Dauerberieselung.
Für die heutige TikTok-Generation, jene, die zwischen Algorithmen und deren subtiler Manipulation nach dem Sinn des Lebens sucht, ist Lesen kein Zeitvertreib mehr, sondern nur noch ein Schatten seiner selbst. Studien zeichnen ein düsteres Bild. In den USA ist das tägliche Lesen aus Vergnügen um über 40 Prozent eingebrochen. In Großbritannien erreicht die Freude am Lesen ihren tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten. Selbst in den deutschsprachigen Ländern, wo die Lage weniger dramatisch wirkt, zeigt sich wachsende Apathie. Zu wenige junge Menschen greifen freiwillig zu Büchern, und jene, die es tun, tun dies meist nur halbherzig.
Stellen Sie sich einen 15-Jährigen vor, der stundenlang durch TikTok scrollt, während ein Roman unbeachtet im Regal liegt. In Großbritannien genießen nur 32,7 Prozent der 8- bis 18-Jährigen das Lesen überhaupt, und täglich greifen lediglich 18,7 Prozent zu einem Buch. Mädchen lesen zwar häufiger als Jungen, doch die Zahlen insgesamt sinken seit Jahren. In den USA berichtet die National Assessment of Educational Progress, dass unter 13-Jährigen die tägliche Lese-Freudigkeit von 27 auf 14 Prozent gefallen ist. Viertklässler liegen zu 60 Prozent unter dem Basisniveau, bei Achtklässlern sind es zwei Drittel. Und auch Highschool-Absolventen erreichen ihre schlechtesten Ergebnisse seit 1992.
Auch in Deutschland, der Schweiz und Österreich zeigen Studien ähnliche Tendenzen, wenn auch nicht so dramatisch. Nur ein Drittel der Jugendlichen in Deutschland liest regelmäßig, in der Schweiz rund die Hälfte. Besonders ältere Teenager und Jungen fallen zurück, während jüngere Mädchen teilweise noch regelmäßig Bücher aufschlagen, meist motiviert durch Fantasy-Serien oder BookTok-Hypes, weniger aus reiner Leidenschaft.
Warum diese Abkehr? Digitale Plattformen locken mit schnellen, kurzweiligen Inhalten. TikTok, Instagram-Reels und YouTube-Shorts bieten unmittelbare Belohnung, wo Bücher Geduld verlangen. Freizeit wird zudem durch andere Hobbys, Nebenjobs und familiäre Verpflichtungen aufgebraucht, besonders schwer wiegt dies in ärmeren Haushalten. Bibliotheken sind weit entfernt, und viele Jungen meiden Genres wie Fantasy, die ihnen als "mädchenhaft" erscheinen. Experten warnen, dass der Preis hoch ist. Fehlende Lesekompetenz mindert Empathie, schwächt schulische Leistungen, steigert Stress und vertieft soziale Unterschiede.
Der Verlust des Lesegenusses zieht weitreichende Folgen nach sich. Jugendliche können immer schlechter lesen und schreiben. In Deutschland verstehen 25 Prozent der Zehnjährigen Texte nicht mehr grundlegend, ein Anstieg seit 2006. Schreiben wird vernachlässigt, Fehler häufen sich, da zu Hause keine Übung stattfindet. In der Schweiz scheitert fast die Hälfte der 15-Jährigen in Lesetests, während Reformen Kreativität über die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten stellen. Österreich zeigt ähnliche Probleme, verschärft durch Migration und pandemiebedingte Schulschließungen.
Die Ursachen liegen auf der Hand. Fehlende Vorbilder, digitale Dauerbeschallung, zu kurze Inhalte, die keine Tiefe zulassen, und Förderung, die die Schwächsten vergisst. Die Folgen sind ernst. Risiken für Ausbildung, Beruf und demokratische Teilhabe in Zeiten von Fake News steigen. Doch es gibt Hoffnung. Frühe Förderung, Eltern, die vorlesen, digitale Bibliotheken, strukturierte Schulprogramme und gezielte Trainings zeigen Wirkung. Kleine Rituale wie das tägliche 20-Minuten-Lesen, Verknüpfungen von Büchern mit Serien oder interaktive Leseförderung können Jugendliche wieder erreichen.
Lesen und Schreiben sind keine Relikte der Vergangenheit, sondern unverzichtbare Werkzeuge gegen die Fragmentierung unserer Welt. Ignorieren wir den Ruf, verblassen nicht nur Seiten, sondern auch die Stimmen, die das Gewebe unserer Gesellschaft ausmachen. Es ist Zeit, die Tinte neu zu mischen.
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