Von Elem Chintsky
Der Nördliche Seeweg (Northern Sea Route – NSR) als globale Handelsroute "taut" immer weiter auf. Politico schrieb vor einigen Tagen darüber, wie der Klimawandel in der Arktis dazu führt, dass die Eiskappen stetig schmelzen. Neben der Tatsache, dass der Meeresspiegel bis ans Kinn jedes zweiten EU-Klimaretters reicht, wird somit zusätzlich die arktische Handelsroute immer befahrbarer.
Laut dem neuesten Expertenkonsens wärmt sich die Arktis drei bis viermal schneller auf als der Rest der Erde. Folglich nutzte China die Gelegenheit und schickte am 20. September sein Containerschiff "Istanbul Bridge" in Begleitung von (höchstwahrscheinlich russischen, nuklear betriebenen) Eisbrechern auf eine 18-tägige Reise vom Ningbo-Zhoushan-Hafen nach Felixstowe, in Großbritannien. Die US-amerikanische Tageszeitung möchte so unvoreingenommen wie möglich darauf hinweisen, dass das Ziel sei, "einen regelmäßigen Linienverkehr entlang Russlands Nördlichen Seewegs zu etablieren, die zahlreiche Häfen in Asien und Europa verbindet".
Da Washington, D. C., und viel mehr noch Brüssel (für Selenskij ein Schock, aber das kleingeistige Kiewer Regime ist auch inbegriffen) bei diesem kolossalen Logistikprojekt nahezu vollkommen ausgeklammert sind, gebe es potenzielle Indizien für kommende Erschütterungen geopolitischer sowie weltwirtschaftlicher Natur. Mit 18 Tagen ist die Transportdauer fast doppelt so schnell wie die Route über den Suezkanal. Die Kosten-Nutzen-Rechnung im direkten Vergleich fällt äußerst überzeugend für den NSR aus. Zumal die geopolitische Stabilität der Route selbst um Längen verlässlicher ist als der Suezkanal: keine Seepiraterie, keine Genozide, keine militärischen Konflikte oder regionalen Kriege und somit keine Lieferbeeinträchtigungen.
Über noch genauere Attribute des Nördlichen Seewegs haben wir bereits vor fast drei Jahren berichtet, aber der Gründer des Arktischen Instituts, Malte Humpert, weiß das Wesentlichste über den Nördlichen Seeweg zusammenzufassen:
"Der Großteil des Welthandels läuft über den Suezkanal, das Mittelmeer und Singapur. Die arktische Route ist jedoch 40 Prozent kürzer und weist deutlich weniger geopolitische Unsicherheiten auf … und könnte sich daher zu einer alternativen Handelsroute entwickeln. Die Frage ist, wird es wirklich zustande kommen? Und wie schnell?"
Für Herrn Humpert ist es zwar noch einen Konjunktiv wert, aber das liegt an der westlichen Perspektive. Denn misst man an der finanziellen Teilhabe der Chinesen, die Infrastruktur entlang der arktischen Gewässer für den Nördlichen Seeweg auszubauen, ist Peking bereits überzeugt, dass es sich um eine vollwertige und sogar überlegene Alternative zum Suezkanal handelt. Weit über die Hälfte der milliardenschweren Investitionen liefert schon seit Jahren die Volksrepublik China.
Aber so ähnlich wie auch die russisch-deutschen Nord-Stream-Pipelines "weniger geopolitische Unsicherheiten aufweisen" und trotzdem der Vorsicht halber 2022 gesprengt worden sind (und in den US-Medien ähnliches für die russisch-chinesische Pipeline "Kraft Sibiriens 2" vorgeschlagen wurde), wäre auch hier auf den zweiten Blick doch ein Dorn im Auge des Westens zu erkennen. Dieser nämlich hat nahezu kein Mitspracherecht bei der Gestaltung und Nutzung des Nördlichen Seewegs, der sich weitestgehend entlang der russischen Arktisküste zieht. Auch der Ausbau des sogenannten "Transarktischen Transportkorridors" Russlands spielt dabei eine synergetische Rolle, von dem Präsident Putin auf dem Östlichen Wirtschaftsforum 2025 forderte, er müsse "ein ganzjähriger Korridor werden".
Ein anderer westlicher Experte rät davon ab, von den russisch-chinesischen Initiativen in der Arktis allzu eingeschüchtert zu sein.
"Was sie da gerade in Betrieb genommen haben, entspricht ungefähr einem Prozent der Handelsroute Fernost – Nordeuropa. […] In der Polarregion lebt niemand. Die einzige Möglichkeit, wettbewerbsfähig zu bleiben, besteht darin, dass zusätzliche Kapazitäten und kürzere Transitzeiten die höheren Frachtraten überwiegen", erklärt der Chefanalytiker der Logistikfirma Xeneta, Peter Sand.
Wäre es ein NATO-EU-Projekt in der Arktis, würde derselbe Experte den bisher negativ konnotierten Klimawandel verharmlosen sowie zu seiner Beschleunigung aufrufen und von einem Jahrhundertprojekt schwärmen, das pausenlos unzählige neue Arbeitsplätze und Wohlstand für die nächsten 25 Jahre generieren würde und, das die abhanden gekommene, westliche Unipolarität wiederherstellt.
Das derzeit vermeintlich gut fundierte Allgemeinwissen in der BRD besagt, dass die profitgierigen, globalistischen Neoliberalen die böse Erderwärmung aus ausschließlich altruistischen Impulsen und inniger Liebe zur Flora und Fauna heraus zu stoppen trachten. Oder will der Westen etwa die Hitze am Nordpol lindern, weil er vereiteln will, dass sich die weltweiten Handelsrouten zugunsten der BRICS-Player – vor allem des bösen Russen und Chinesen – diversifizieren? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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