Vor 35 Jahren: Ukraine verabschiedet Unabhängigkeitserklärung - und was ist daraus geworden

"Der erste Nagel in den Sarg des sowjetischen Imperiums", sagte an jenem Tag der US-Präsidentenberater Zbigniew Brzeziński. Vor 35 Jahren hat die Ukraine die Unabhängigkeitserklärung verabschiedet, und heute ist der Preis der Folgen so stark wie nie zu spüren.

Von Wiktor Schdanow

Auf einem schwierigen Weg

Dafür stimmten 355 Abgeordnete, dagegen waren nur vier. Nicht abgestimmt haben 26, Enthaltungen gab es keine. Am 16. Juli 1990 um 10:09 Uhr Kiewer Zeit hat der Oberste Rat der Ukrainischen SSR die Erklärung über die staatliche Souveränität der Republik verabschiedet.

Der Saal brach in Applaus aus. Auf der Bühne sprach der künftige Präsident der Ukraine, damals noch der zweite Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Leonid Krawtschuk. Wie alle war auch er in guter Stimmung. Seine Rede hielt er auf Ukrainisch, munter und ohne Spickzettel. Der Parteisekretär sprach in damals noch gewohnter sowjetischer Art:

"Die Souveränität der Ukraine ging einen schwierigen Weg in der Geschichte unseres Volkes bis zum heutigen Tag. Dieses historische Datum zeigt, dass sich das Volk der Ukraine darauf beharrlich und zielstrebig hinbewegte."

Krawtschuk betonte sogar, dass "Kommunisten nicht gegen das Volk, sondern immer mit dem Volk" gewesen wären. Nach knapp einem Jahr wird er für immer mit der kommunistischen Partei brechen und im Grunde die erste Welle der Dekommunisierung in der Ukraine anführen. Freilich ist es nicht die größte Diskrepanz zwischen seinen Worten und Taten.

Die UdSSR zerfiel rapide. Praktisch alle Teilrepubliken waren von nationalen, teilweise bewaffneten Konflikten erfasst. Nach knapp 70 Jahren der Existenz der Sowjetunion schienen alle plötzlich herausgefunden zu haben, dass sie zu viel an andere abgeben und zu wenig für sich selbst lassen.

Die Ukraine hatte mit 52 Millionen Menschen die zweitgrößte Bevölkerung unter den Sowjetrepubliken. Eine entwickelte Industrie und Landwirtschaft und der Zugang zum Schwarzen Meer waren leckere Häppchen für Anhänger der Unabhängigkeit. Demokratisierung und Glasnost brachten in den republikanischen Parlamenten Kommunisten, Liberale und Nationalisten zusammen. Alle sprachen sich für die Souveränität aus. Als erste Sowjetrepublik erklärte Litauen im Frühling 1989 seine Souveränität.

Gerade die ukrainische nationalistische Opposition, die "Volksrada", bestand darauf, dass in der Deklaration der Begriff "Ukraine" statt "Ukrainische SSR", wie von der KPU gewünscht, verwendet wurde.

Besonderer Status

Die britische Times schrieb am folgenden Tag:

"Die Ukraine ging nicht so weit, wie die baltischen Republiken und enthielt sich von der Forderung einer vollständigen Unabhängigkeit, allerdings weiter, als Moldawien, Usbekistan und die Russische Föderation, und behielt sich das Recht auf eigene Streitkräfte, innere Truppen und Sicherheitsorgane vor."

Für Nationalisten und Liberale war die Deklaration ein erster Schritt zum Bruch. Für Kommunisten war dies ein Versuch, einen Kompromiss zum Abschluss eines neuen Unionsvertrags zu finden.

In der Deklaration wurde die "national-kulturelle Wiedergeburt des ukrainischen Volkes" betont. Gleichzeitig hieß es, dass Kiew "allen Nationalitäten, die auf dem Gebiet der Republik leben, das Recht auf freie Entwicklung" garantiere.

Auch nuklearfreier Status und Neutralität wurden versprochen. Das Dokument verkündete:

"Die Ukrainische SSR verkündet feierlich die Absicht, in Zukunft zu einem ständig neutralen Staat zu werden, der an keinen Militärblöcken teilnimmt und an drei nuklearfreien Prinzipien festhält: keine Nuklearwaffen zu stationieren, herzustellen und zu erwerben."

Ebenda wurde die proeuropäische Orientierung festgehalten: Die Ukraine nehme "unmittelbar am gesamteuropäischen Prozess und europäischen Strukturen" teil. Darüber hinaus erkannte Kiew den Vorrang von "allgemeinmenschlichen Werten" über Klassenwerte und des internationalen Rechts vor dem Staatsrecht.

Krummer Spiegel

Im Jahr 1991 wurde der erste Jahrestag der Verabschiedung der Deklaration in der gesamten Ukraine mit feierlichen Blumenniederlegungen an Lenin-Denkmälern begangen. Doch den sowjetischen Traditionen blieben nur wenige Wochen.

Eine Parade der Souveränitäten folgte. Obwohl sich 80 Prozent der Bevölkerung der Ukrainischen SSR bei einem Referendum für den Erhalt der Sowjetunion aussprachen, geriet der Prozess des Verfassens eines neuen Unionsvertrags in Gorbatschows Residenz in Nowo-Ogarjowo ins Stocken. Nach dem Augustputsch in Moskau war der Zerfall des Landes schon unabwendbar.

Gleich nach dem Scheitern des Staatskomitees für den Ausnahmezustand in Moskau verabschiedete die Werchowna Rada der Ukraine am 24. August die Unabhängigkeitserklärung im Rahmen der Umsetzung der Deklaration aus dem Vorjahr. Heute ist das der Unabhängigkeitstag der Ukraine.

Dieses Dokument bildete die Grundlage der gegenwärtigen ukrainischen Konstitution und bestätigte die Deklaration der Souveränität, die immer noch als vorrangig gilt. 

Krawtschuk weigerte sich, über irgendetwas in Nowo-Ogarjowo zu verhandeln. Am 1. Dezember wurde ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt, auf dem sich 90 Prozent dafür aussprachen. Nach einer Woche wurden die Belowescher Vereinbarungen unterzeichnet, die die Sowjetunion auflösten. Jahre später räumte Krawtschuk ein:

"Viele unserer Leute dachten so: 'Wenn wir uns von der UdSSR lösen, werden wir gleich reich'. Heute ist es offensichtlich, dass jene, die so dachten, inzwischen dagegen stimmen würden."

Wladimir Olentschenko, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für europäische Studien des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, bemerkte in einem Gespräch mit RIA Nowosti, dass sich die Deklaration über die Souveränität der Ukraine in das Denkmal an ein Land verwandelt habe, das hätte sein sollen, aber niemals gebaut wurde. Der Experte erklärt:

"Das Dokument wurde immerhin von Menschen verabschiedet, die in der Sowjetunion aufgewachsen und aufgezogen wurden. Sie gingen von Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung aus. Das heißt, was einst Slogans waren, wurde ganz aufrichtig ausgesprochen. Die Deklaration spiegelte die Lage in einem Vielvölkerstaat wider, in dem Nachbarn mit Respekt behandelt wurden und sich um das Wohlergehen der Menschen gekümmert wurde. In den Folgejahren bezogen sich die Staatschefs in Kiew auf dieses Dokument und würdigten es, allerdings nur in Worten. In der Praxis war alles anders. Stellt man die Deklaration als Spiegel vor, würde sich die heutige Ukraine darin nicht wiedererkennen."

Laut dem ehemaligen Rada-Abgeordneten Oleg Zarjow hat Kiew die Bedingungen gebrochen, unter denen es die Unabhängigkeit erhalten hat, und trägt damit die Schuld an der Ukraine-Krise. Er betont:

"Wladimir Putin hatte ganz recht, als er sagte, dass die Deklaration Bedingungen beinhaltete, auf deren Grundlagen die Ukraine ihre Souveränität erhielt. In erster Linie sind es neutraler und blockfreier Status. Nach dem Bruch dieser Bedingungen wurde die Unabhängigkeit infrage gestellt."

Auch heute ignoriert Kiew weiterhin die Grundlage der eigenen Verfassung. Vor nicht allzu langer Zeit behauptete Selenskij vom Brüsseler Podium aus: "Entweder wird die Ukraine Kernwaffen haben oder sie muss irgendeiner Allianz angehören." Die ukrainische Regierung erinnert sich nicht mehr daran, was sie jenen Menschen versprach, die damals bei dem Referendum abstimmten. Was ihnen bleibt, sind nur der Feiertag im Kalender und pathetische Reden mit realitätsfernem Inhalt.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 16. Juli.

Mehr zum Thema Was für ein Nachbar Russlands wird die Ukraine nach dem Friedensschluss sein?