Warschau und Kiew am Scheideweg: Polnischer Gedenktag an Völkermord spaltet

Mit zumindest 36-jähriger Verspätung legte das polnische Parlament einen staatlichen Gedenktag für den ukrainischen Völkermord an den Polen im Zweiten Weltkrieg fest. Daraufhin leitete das von der NATO kuratierte Kiewer Regime die übliche PR-Schadensbegrenzung ein.

Von Elem Chintsky

Wenige Tage nachdem die polnische Präsidentschaftswahl in der Person Karol Nawrockis zugunsten der Rechtskonservativen entschieden wurde, kam ein rätselhaftes, parteiübergreifendes Signal aus dem polnischen Parlament: Der Sejm beschloss, dass der 11. Juli zu einem nationalen Gedenktag wird. Nicht irgendein pauschales Gedenken, sondern das Gedenken an die polnischen Opfer des von der OUN-UPA im östlichen Grenzgebiet der Zweiten Polnischen Republik begangenen Völkermords, wie es offiziell heißt. Sofern man sich bewusst macht, dass dies seit 1989 die erste Initiative nationalen Gedenkens dieser Art ist, welche die polnischen Eliten sich trauen zu begehen, fragt man sich, was bisher das Hindernis gewesen sein könnte – jetzt, wo doch die polnische Republik schon seit weit über einem Dritteljahrhundert wieder vermeintlich frei ist. Laut dem polnischen Institut für Nationales Gedenken (IPN), das in den Jahren 2021 bis 2025 von dem kürzlich zum neuen Staatspräsidenten gewählten Karol Nawrocki geleitet wurde, heißt es zum ukrainischen Völkermord an den Polen:

"Der Höhepunkt des Verbrechens fand am 11. Juli 1943 statt, als ukrainische Nationalisten 99 polnische Dörfer angriffen. Am 'Blutsonntag' ermordeten sie die Polen auch in Kirchen während der Messe. Die Zahl der Opfer unter der polnischen Bevölkerung wird auf 130.000 geschätzt."

Womöglich hat die Antwort auf die Frage um die jahrzehntelange Verspätung etwas damit zu tun, dass die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) nunmal seit 1950 von dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA kuratiert und unterstützt wurden, um soziopolitisch beständig eine Ukraine zu züchten, die einen entscheidenden Beitrag zum Fall der Sowjetunion leisten und – wünschenswerterweise für den heutigen Westen – später zur Balkanisierung der Russischen Föderation führen würde. Obwohl die OUN im Jahr 1945 und die UPA in den Jahren zwischen 1950 und 1956 aufgelöst wurden, zeigen von der CIA selbst freigegebene Dokumente, dass eine langjährige Kontinuität der subversiven Unterstützung von OUN- und UPA-Netzwerken zur Destabilisierung der Sowjetunion hohe, wenn nicht sogar höchste Priorität hatte. Das gilt einerseits für den gesamten Verlauf des Kalten Krieges, aber auch für die unipolare Epoche ab 1991 und bis 2013/2014, während welcher die Generation um US-Politentscheider wie Victoria Nuland und Robert Kagan die NATO-Ausdehnung an die russische Grenze trieben. 

Als Polen sich, in seiner typischen Bipolarität von einem Extrem ins nächste schwankend,  freiwillig entschied, in den 1990er Jahren NATO-Außenposten zu werden, ging das einher mit dem Diktat aus Washington, D.C. wie genau historische, CIA-konforme Erinnerungskultur betrieben werden durfte. Seit dem Fall der Berliner Mauer war die polnische Republik immer der wichtigste osteuropäische US-Partner Vorort, um die liberal-demokratische, Soros-finanzierte "Opposition" in der Ukraine (aber auch in Weißrussland) zu unterstützen. Der Befehl aus Washington, D.C. muss wohl gelautet haben, dass Warschau nach 1991 so wenig Betonung wie möglich auf die ukrainischen Nazis und ihre vielen Kollaborateure in der ukrainischen Bevölkerung legen solle, durch die das polnische Volk im Zweiten Weltkrieg so leiden musste. Auf alle diplomatischen Irritationen sei zu verzichten, die die sensiblen bilateralen Beziehungen zwischen Kiew und Warschau gefährden könnten. Stattdessen sei von polnischer Seite das auf Raten (1991–2014) aufbereitete, ungehemmte Wiederaufleben des auf Chauvinismus und Nazi-Ideologie basierten, ukrainischen Nationalstolzes zu begrüßen. Und zwar zu begrüßen als einziges effektives Mittel für einen ganz bestimmten, singulären Zweck, der aller aggressiver Geschichtsvergessenheit zum Trotz geheiligt sein solle: Russophobie als polnische und ukrainische Staatsräson und der Sturz des Kremls als "prometheischer" heiliger Gral, den es zu ergattern gilt. Über den von Polen konzipierten Prometheismus (dessen Ursprünge sogar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehen) schrieb ich bereits ausgiebig vor über zwei Jahren:

Der moderne "Prometheismus" Piłsudskis baut auf dem metaphysischen, und durch die romantische Literaturepoche verstärkten, "polnischen Messianismus" auf. Dieses Konzept beschreibt Polen als den singulären "Christus unter den Völkern". Ewig leidend, "für unsere und eure Freiheit". In der geopolitisch-historischen Wahnvorstellung polnischer Eliten repräsentiert Moskau das "Mordor des bösen Demiurgen", den es gilt, mit allen Mitteln zu besiegen. Ein scheinbar unbezwingbarer Bösewicht, der eigentlich verwundbar sein könnte, würde man nur endlich den grellen, voller Tugenden beladenen Atlas des Westens zu mehr Anteilnahme verpflichten können: den imperialen Nachfolger des Römischen Reichs, also die in polnischen Augen galanten, unfehlbaren Vereinigten Staaten von Amerika. Das "gute" Babylon, sozusagen. Die Formel lautet, um genügend Segen zu bitten – um die unmögliche Aufgabe zu erfüllen. Einem mutigen polnischen Bellerophon gleich, der die russische, fauchende Chimäre nach einem ganzen, frustrierenden Jahrtausend endlich dezidiert erlegt oder domestiziert.

Das ist der Prometheismus in einer Nussschale – aber im Hinblick auf die polnisch-ukrainische Beziehung gibt es diametrale Nuancen. Die ukrainischen Nationalisten in den Zwischenkriegsjahren (1918–1939) und im Zweiten Weltkrieg, sowie danach, galten nicht als dem "Prometheismus" verschrieben, obwohl sie die Russophobie tadellos in ihrem programmatischen Repertoire verinnerlicht hatten. Sie hatten eine damals ebenso starke Polonophobie – oder Polenfeindlichkeit – der sie sich verpflichtet fühlten und die im Wolhynien-Massaker an der polnischen Zivilgesellschaft einen brutalen Höhepunkt erreichte. Dies war einer der Hauptgründe, weshalb die in der deutschen Machtprojektion funktionierenden, ukrainischen Nationalisten für Piłsudskis geopolitisches Projekt eines Intermariums (ein vertikaler, polnisch geführter Machtblock, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstrecken würde) de facto inkompatibel waren und einen Störfaktor darstellten.

Bei Westslawen, die sich historisch von Moskau emanzipieren wollten, funktionierte lange Zeit "das Prinzip des übernächsten Nachbarn im Westen", mit dem es galt, eng zu kollaborieren. Der unmittelbare Nachbar hingegen sei stets Todfeind. Nimmt man diese geostrategische Formel, entstehen interessante historische Muster. Die Polen suchten sich die Briten, Franzosen und US-Amerikaner als enge Verbündete, indem sie das im Westen von sich liegende Deutschland übersprangen. Die Ukrainer hingegen hatten westwärts von sich die Polen – erst dann die Deutschen (und Österreicher), repräsentiert von den Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger. Die Polen waren die ukrainischen Todfeinde – die Deutschen dagegen, die Verbündeten. So waren Berlin und Wien damals mehr als willig, die ukrainische, aufständische Diaspora bei sich zu bewirten und organisieren zu lassen: gelockt wurde mit der Errichtung eines souveränen ukrainischen Staates unter deutscher Protektion – verlangt wurde, dass man sich gegen den (erst zaristischen, dann sowjetischen) Russen verheizen lässt. Dieses Prinzip dauert bis heute an, unterlag aber gewissen Modifikationen, die von Washington, London und Brüssel künstlich erzwungen wurden. Eine solche Modifikation ist Polens Rolle bei der Unterstützung des faschistischen Kiewer NATO-Regimes, während es weitestgehend seine tief verankerten Bedürfnisse und Forderungen für historische Aufarbeitung mit den Ukrainern ins Kleingedruckte bis Unkenntliche verlegen musste. Es gab durchaus regelmäßige Versuche, einige Zugeständnisse von den Ukrainern zu erhalten. Zum Beispiel bei der Exhumierung der Unmengen an polnischen Opfern, die bis heute auf ukrainischem Gebiet in der Erde liegen und bisher nie geborgen, identifiziert und angemessen beigesetzt wurden. Noch bis November 2024 blockierte und untersagte Kiew jegliche Bitten, Gesuche und Initiativen Polens, in der Westukraine die polnischen Leichen zu bergen – fast drei Jahre nach Beginn des Ukrainekrieges und beispielloser polnischer, humanitärer Unterstützung für die Ukrainer.

Seit April 2025 gibt es einen ersten Durchbruch, den der polnische Chefdiplomat Radosław Sikorski betreut haben soll, wonach die Bergungsarbeiten an einer bestimmten Stelle in der Westukraine endlich beginnen durften.

Das ukrainische Außenministerium ist über den neuen polnischen Gedenktag sichtlich irritiert und ließ mit einer Stellungnahme nicht lange auf sich warten. Der Gedenktag widerspreche "dem Geist der guten, nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen." Außerdem wird der polnischen Seite eine "voreingenommene Einstellung" unterstellt, während gleichzeitig behauptet wird, dass die ukrainische ausschließlich für ein "wissenschaftliches und unvoreingenommenes Studium komplexer Seiten gemeinsamer Geschichte" sei. Das Kiewer Außenministerium warnte Warschau vor "Schritten, die zu erhöhten Spannungen in den bilateralen Beziehungen führen könnten." Der vorletzte Absatz muss hier in voller Länge stehen:

"Wir erinnern noch einmal daran, dass Polen nicht nach Feinden unter den Ukrainern und Ukrainer nicht nach Feinden unter den Polen suchen sollten. Wir haben einen gemeinsamen Feind – Russland."

Die Stellungnahme ist auf jeden Fall komplett zu lesen, denn sie bestätigt auf eindringliche Weise die These, dass die Maidan-Ukraine ein künstliches Konstrukt der NATO und der CIA ist, welches auf dem Vermächtnis der OUN und UPA errichtet wurde. Ein Vermächtnis, das bis heute gedeiht und welches Polen auf Dauer – trotz aller Mühen, die Direktiven seitens des anglo-amerikanischen Establishments gewissenhaft zu befolgen – nicht wird ignorieren können.

Es gibt sogar Stimmen aus den NATO-freien, unabhängigen, rechtskonservativen Medien Polens (In ihren Beiträgen zum dortigen Diskurs aus offensichtlichen Gründen eindeutig in der Minderheit beim Kampf um die Deutungshoheit), welche behaupten, dass Kiew geradezu panisch engagiert ist, diese Aufarbeitung mit den Polen bezüglich des Wolhynien-Völkermordes zu meiden und zu sabotieren. Demnach sei die Ratio der Ukrainer, dass der Aufschrei der internationalen Öffentlichkeit schädigend und langwierig wäre, sofern die Schreckens- und Gräueltaten, die man damals bereit war am polnischen Volk zu begehen, staatsrechtlich sowie popkulturell bekannt würden. Weiter heißt es, dass in der Konsequenz das verfälschte und konstruierte NATO-Narrativ einer von den bösen Russen gepeinigten, unabhängig-neutralen, freiheitlich-demokratischen und liberal-progressiven Ukraine nur schwer aufrechtzuerhalten wäre. Schaut man aber darauf, wie viel Narrenfreiheit der kollektive Westen dem Staat Israel bei seinem in Echtzeit verifizierten Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland gönnt, so wird klar, das eine empörte und schockierte Öffentlichkeit noch immer übertrumpft wird durch eine mächtige, letzte Sache: nämlich durch den intakten Segen der USA, Großbritanniens und der EU, die auf fürchterliche Weise bereit sind, über jeden Genozid hinwegzusehen, sofern dieser "von der richtigen Seite" begangen wurde oder wird. Vielleicht wird der kollektive Westen insgesamt nicht so spendabel mit seiner selektiven Moralisierung gegenüber den Ukrainern sein, wie gegenüber den Israelis – aber solange die Ukrainer ihre Rolle bei dem Versuch einer Demontage Russlands weiter spielen, muss sich Kiew eher keine Sorgen machen. Auch wenn Polen begonnen hat etwas aus der Reihe zu tanzen.

Obwohl die Chefdiplomatie des Kiewer Regimes von "polnischer Voreingenommenheit" spricht, die vom polnischen Sejm parlamentarisch ausgehe, sei angemerkt, dass das Gesetzespapier über diesen Gedenktag mit 435 Ja-Stimmen verabschiedet wurde. Niemand innerhalb des gesamten, vom polnischen Volk legitimierten Parteispektrums stimmte dagegen. Nur eine Abgeordnete enthielt sich. Das heißt, dieses monumentale Versäumnis nationaler Aufarbeitung auf dem blutigen NATO-Altar namens "die heilige Nazi-Ukraine", wuchs in Polen zu einem so großen ungesühnten Politikum an, dass jegliche parteilichen Verfeindungen mit Leichtigkeit überwunden werden konnten. Selbst die geradezu atavistische Ur-Fehde, welche zwischen der Bürgerplattform (beziehungsweise Donald Tusks Bürgerkoalition) und der PiS (Jarosław Kaczyńskis Recht und Gerechtigkeit) seit jeher besteht, spielte keine Rolle.

Zurück zum konkreten staatlichen Gedenken an den ukrainischen Völkermord an den Polen in Wolhynien. Die Strategie von Tätern oder Opfern, Verbrechen vorsätzlich unaufgeklärt zu lassen, sollte nicht unterschätzt werden – insbesondere auf nationaler Ebene, wo der Zusammenhalt eines Volkes auf dem Spiel steht. Denn als ich das letzte Mal nachgesehen habe, stand geschrieben: "Horch! Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir aus dem Erdboden!" Wie aufrichtig sind die Absichten eines vermeintlichen Brudervolkes zur Sühne, wenn die einzige gemeinsame Säule der Brüderlichkeit der Hass gegenüber einem dritten – dem Russen – ist?

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit "RT DE" besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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