Die polnische Zeitung Myśl Polska sieht in der scharfen Reaktion der Ukraine auf die Einführung eines nationalen Gedenktages für die Opfer des Wolhynien-Massakers einen Ausdruck wachsender Nervosität in Kiew. Die Regierung unter Präsident Wladimir Selenskij fürchte demnach, dass eine breite internationale Debatte über die historischen Verbrechen der ukrainischen Nationalisten die westlichen Unterstützer abschrecken könnte. Myśl Polska zitiert aus einem aktuellen Beitrag:
"Sie haben Angst, sehr große Angst, dass die Wahrheit über die Taten ihrer gefeierten 'Helden' bekannt wird – und dass sich die Bilder von Knochenbergen und zertrümmerten Schädeln, aufgenommen bei unseren teilweisen Exhumierungen, weltweit verbreiten."
Die Zeitung verweist auf zahlreiche Belege für die Beteiligung ukrainischer Nationalisten und Nazi-Kollaborateure an Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs.
Die Autoren betonen: In Kiew sei man sich sehr wohl bewusst, dass solche Beweise dem Ansehen der Ukraine im Westen massiv schaden könnten – gerade in einer Zeit, wo das Land auf europäische Unterstützung angewiesen ist.
Zugleich wird angemerkt, dass auch der Umgang mit der eigenen Geschichte ein Bereich sei, in dem "die Ukrainer einen guten Platz in der europäischen Herde einnehmen wollen."
Hintergrund der aktuellen Spannungen ist die Entscheidung des polnischen Parlaments vom 5. Juni, den 11. Juli offiziell zum Gedenktag für die Opfer des Völkermords durch die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) zu erklären – Organisationen, die in Russland als extremistisch eingestuft und verboten sind.
Der 11. Juli erinnert an den Höhepunkt des sogenannten Wolhynien-Massakers im Jahr 1943. An diesem Tag sollen laut polnischen Angaben rund 150 polnische Dörfer zeitgleich von ukrainischen Nationalisten überfallen worden sein. Insgesamt starben nach Schätzungen zwischen 100.000 und 130.000 ethnische Polen.
Die Entscheidung aus Warschau löste in Kiew empörte Reaktionen aus. Das ukrainische Außenministerium warf Polen vor, mit einseitigen Bewertungen die "gutnachbarschaftlichen Beziehungen" zu untergraben. Stattdessen wolle man auf "Dialog, Respekt und die gemeinsame Arbeit von Historikern" setzen.
Auch der neu gewählte polnische Präsident Karol Nawrocki nahm die Spannungen zum Anlass, in seiner Antwort auf die Glückwünsche Selenskijs an die weiterhin ungelösten historischen Fragen zu erinnern.
Der Streit spiegelt einen tiefen Riss in der Geschichtswahrnehmung beider Länder wider: Während Polen die Ereignisse in Wolhynien als gezielten Völkermord wertet, glorifiziert die Ukraine bis heute führende Köpfe der OUN und UPA – etwa Stepan Bandera – als Freiheitskämpfer.
Besonders belastend wirkt auch ein Exhumierungsstopp, den die Ukraine 2017 verhängt hatte. Dieser folgte auf die Demontage eines UPA-Denkmals im polnischen Hruszowice.
Erst im Juni 2023 erklärte Anton Drobowitsch, der Leiter des ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken, dass keine Exhumierungen erlaubt würden, solange das Denkmal nicht wiederhergestellt sei. Selenskij hatte zwar Gesprächsbereitschaft signalisiert, doch konkrete Fortschritte blieben bislang aus.
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