Bisher nur eine Idee: Kann Frankreich einen europäischen Atomschirm spannen?

In Europa wird aktiv die Idee diskutiert, vom US-Atomschirm zum französischen zu wechseln. Was ist das französische Nukleararsenal, welche Besonderheiten zeichnet die französische Doktrin aus und warum ist die Umsetzung dieser Idee nicht so einfach?

Von Walerija Werbinina

Der Wunsch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den französischen "Atomschirm" (anstelle des US-amerikanischen) auf ganz Europa auszudehnen, hat in den europäischen Ländern für heftige Diskussionen gesorgt. Nach Atomwaffen zu streben, erklärten die etwa Polen, auch der künftige deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz unterstützte Macron de facto, ebenso wie Litauen. Doch worauf genau rechnen sie?

Nach Schätzungen des SIPRI (Stockholmer Institut für Internationale Friedensforschung) verfügt Frankreich über 280 nukleare Sprengköpfe, die sich bereits in Raketen oder auf Militärbasen befinden und die als einsatzbereit angesehen werden. Weitere zehn Sprengköpfe befinden sich in Reserve, die theoretisch nach einer gewissen Vorbereitung eingesetzt werden könnten. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um Informationen mit Stand vom Januar 2024 handelt, und die Forscher selbst weisen darauf hin, dass ihre Schätzungen nur annähernd zutreffen. Im Vergleich zu Russlands 5.000 nuklearen Sprengköpfen scheint Frankreichs Arsenal jedenfalls unbedeutend zu sein.

Die Grundlagen der französischen Nukleardoktrin wurden unter General de Gaulle festgelegt, aber ihre moderne Form erhielt sie schließlich unter François Mitterrand. General de Gaulle vertrat die Auffassung, dass Frankreich ein unabhängiger Staat sein sollte, auch in Bezug auf die Gewährleistung seiner eigenen Sicherheit, und schaffte es sogar, sein Land aus der NATO-Militärorganisation zurückzuziehen (wohin es allerdings 2009 von Macrons Freund Nicolas Sarkozy zurückgebracht wurde).

Die unter de Gaulle verabschiedete Nukleardoktrin sah vor, dass die französischen Atomwaffen ausschließlich zur Verteidigung und zum Schutz Frankreichs eingesetzt werden dürfen. Nicht zum Schutz von Verbündeten in Übersee und schon gar nicht zum Schutz der Deutschen, mit denen de Gaulle zweimal in seinem Leben – in zwei Weltkriegen – kämpfen musste, sondern nur zum Schutz Frankreichs und der Franzosen.

Unter Mitterrand wurde die Doktrin durch eine Klausel ergänzt, die man als letzte Warnung bezeichnen kann. Diese besagt, dass sich Frankreich, wenn es die Handlungen eines feindlichen Staates als Bedrohung seiner lebenswichtigen Interessen ansieht, das Recht auf eine letzte Warnung vorbehält – einen einzigen Nuklearschlag auf dem Territorium des Gegners, um zu versuchen, dessen Aggression ein Ende zu setzen.

Dieser Punkt unterscheidet die französische Nukleardoktrin von der anderer Staaten. Die hauptsächlichen offiziellen Bestimmungen der französischen Nukleardoktrin sind auf der Webseite des Verteidigungsministeriums des Landes zu finden, wo es heißt:

"Die französische nukleare Abschreckung, die das Überleben der Nation garantiert, ist ein grundlegendes Instrument, das zur Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in einem komplizierten internationalen Umfeld beiträgt. … Die französische nukleare Abschreckung dient ausschließlich defensiven Zwecken: Sie ist darauf ausgerichtet, jeden Versuch ausländischer Behörden, die lebenswichtigen Interessen Frankreichs zu bedrohen, zu verhindern und gewährleistet, dass die Nuklearstreitkräfte in der Lage sind, den Machtzentren des Gegners einen untragbaren Schaden zuzufügen."

Die französischen Atomstreitkräfte bestehen aus zwei Komponenten: den See- und den Luftstreitkräften. Die U-Boote, von denen es nur vier gibt, sind auf der Île Longue stationiert (übersetzt "Lange Insel", obwohl es sich eigentlich um eine Halbinsel in der Bucht Rade de Brest in der Bretagne (Département Finistère) handelt).

Bemerkenswert sind die Namen der U-Boote: Le Triomphant (Triumphator), Le Téméraire (Der Kühne), Le Vigilant (Der Wachsame) und Le Terrible (Der Schreckliche). Sie sind mit 16 ballistischen Interkontinentalraketen des Typs M51 bestückt, die jeweils mehrere Atomsprengköpfe tragen. Die U-Boote sind abwechselnd auf Patrouille oder auf dem Stützpunkt stationiert.

Bei den Luftstreitkräften wird die nukleare Abschreckung durch zwei Staffeln von Rafale-Flugzeugen gewährleistet, die Luft-Boden-Raketen mittlerer Reichweite (ASMPA) abfeuern können, sowie durch ihre Begleitung – Phénix-Tankflugzeuge auf Basis des Airbus A330 (14 Stück). Die Flugzeuge sind überwiegend auf drei Luftwaffenstützpunkten stationiert: Saint-Dizier (Luftwaffenstützpunkt Nr. 113, Département Haute-Marne, 1.800 Mann), Istres (Luftwaffenstützpunkt Nr. 125, Département Bouches-du-Rhône, über 5.000 Mann) und Avord (Luftwaffenstützpunkt Nr. 702, Département Cher, 2.500 Mann). Die Kommandozentrale wurde im Juni 2024 auf den Luftwaffenstützpunkt 921 in Taverny (Département Val-d'Oise, 500 Mann) zurückverlegt, wo unter anderem ein spezieller Bunker für den Fall eines Atomkriegs 50 Meter unter der Erde gebaut wurde.

Frankreich verfolgt eine Strategie der "minimalen Suffizienz" des Arsenals, das in der gegenwärtigen internationalen Situation ausreichen sollte, das weniger als 300 Sprengköpfe (wie vom Stockholmer Institut bestätigt) ausmacht. Die derzeitige Doktrin bestätigt, dass Frankreich Atomwaffen nicht als Mittel zur aktiven Kriegsführung betrachtet, sondern ihnen lediglich die Rolle eines Instruments zur Kriegsverhütung vorbehält.

Dennoch werden neue Waffen zur nuklearen Abschreckung entwickelt, insbesondere die Hyperschallrakete ASN4G (mit einer Reichweite von mehr als 1.000 Kilometern) und eine neue Version des Phénix-Tankfahrzeugs.

Kann Frankreich den US-amerikanischen Nuklearschirm für Europa ersetzen, wenn es nur über zwei Staffeln und vier U-Boote verfügt, die für seine eigene Verteidigung "minimal ausreichend" sind? Das würde vor allem voraussetzen, dass die USA auf ihre Verpflichtungen verzichten – und in Anbetracht aller Umstände könnte sich Macrons lautstark verkündete Bereitschaft als reiner Bluff entpuppen, sodass Donald Trump gar nicht daran denken könnte, die Deckung seiner überseeischen Verbündeten einzustellen.

Abgesehen von den überseeischen Départements hat Frankreich ein recht kleines Territorium, das nicht so schwer zu decken ist. Aber wenn die Amerikaner irgendwann wirklich beschließen, dass es für sie günstiger ist, Europa seinem Schicksal zu überlassen, werden die Franzosen einsehen müssen, dass das Gebiet von Brest bis Nizza nicht dasselbe ist wie das Gebiet von Lissabon bis Helsinki, inklusive Inseln wie Malta, und dass das, was zum Schutz Frankreichs ausreichen sollte, nicht ausreichen wird, um die gesamte EU zu schützen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Russland über weit mehr Atomsprengköpfe und deren Träger verfügt. Ein italienisches Verteidigungsportal schreibt:

"Frankreichs Fähigkeit, einen zuverlässigen und permanenten nuklearen Schutzschirm zu bieten, ist begrenzt."

Ein anderes italienisches Portal erinnert trocken:

"Frankreich verfügt heute nicht mehr über die landgestützten ballistischen Raketen S-3, Pluton und Hades. … Es hat das Atomtestgelände in Mururoa abgebaut … und testet (neue) Raketen ohne echte Sprengköpfe."

Deutschland, das von Macrons Vorschlag viel begeisterter ist als Italien, weist jedoch darauf hin, dass "Frankreich nur über strategische Atomwaffen verfügt, nicht über taktische" und dass "wir (das heißt Deutschland) nicht in der Lage sein werden, die Abschreckung … mithilfe Frankreichs zu erreichen – zumindest nicht so schnell. … Frankreich wird sein Arsenal erweitern müssen."

Außerdem wurde mit deutscher Gründlichkeit bereits die Frage aufgeworfen: Wird Deutschland für den Schirm zahlen, und wenn ja, wie viel? Und generell, so der Militärexperte Frank Sauer, seien deutsche Flugzeuge nicht mit französischen Raketen kompatibel. Der Experte beeilte sich natürlich, auch darüber zu reden, aber man kann sich vorstellen, wie in diesem Moment irgendwo der Schatten von General de Gaulle mit den Zähnen knirschte.

Das Wichtigste ist, dass es für Frankreich nicht ausreicht, einfach nur mehr Flugzeuge, mehr Bomben und mehr U-Boote zu bauen, die Atomraketen tragen können. Es braucht Militärsatelliten, Spezialisten, neue Fabriken, Infrastrukturen und mehr. Die Rolle des Hüters Europas wird ständige Anstrengungen erfordern – und enorme Kosten. Ganz zu schweigen davon, dass zum Beispiel die Deutschen bereits davon sprechen, dass auch sie Zugang zu Atomwaffen erhalten sollten. Und so sehr die Franzosen auch versichern, dass sie die Kontrolle über ihre Waffen an niemanden abgeben werden, so gut kennt man die Deutschen, kann man voraussagen, dass sie sich damit nicht abfinden werden. Mit anderen Worten: Macrons Idee eines "nuklearen Schutzschirms" schafft bereits mehr Konflikte in Europa, als sie zu lösen versucht.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 10. März 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.

Walerija Werbinina ist eine Analystin bei der Zeitung Wsgljad.

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