Von Michail Katkow
Stimme des Volkes
Als Reaktion auf Donald Trumps Kritik gegenüber dem "vierprozentigen" Selenskij haben ukrainische Soziologen eine Serie von Studien angefertigt. Die Ergebnisse fielen ambivalent aus.
Zunächst sei angemerkt, dass seit mehreren Jahren über Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Ukraine gesprochen wird. Im Herbst unterstützten nach Angaben des Rasumkow-Zentrums 65 Prozent der Bevölkerung eine Erneuerung der Elite. Im Februar verkündete das dem Ex-Präsidenten Petro Poroschenko nahestehende soziologische Institut SOCIS ähnliche Werte.
Die Lage um Selenskijs Zustimmungswerte ist komplizierter. Klar ist, dass von den 90 Prozent, wie im Jahr 2022, keine Rede sein kann. Dennoch wies das staatsnahe Kiewer internationale Soziologie-Institut (KMIS) Trumps Vorwürfe schnell zurück: Selenskijs Zustimmungswerte würden 57 Prozent betragen, was sogar fünf Prozent mehr sei als im Januar. Dennoch gibt es einen Unterton.
Das besagte KMIS behauptet, dass für Selenskij 26 bis 32 Prozent stimmen würden. Damit sei er der populärste Präsidentschaftskandidat. An zweiter Stelle steht Poroschenko, der auf lediglich fünf bis sechs Prozent käme. Tatsächlich räumen die Autoren der Studie jedoch ein, dass sie nur aktive Politiker zur Auswahl vorschlugen und Militärs sowie gesellschaftliche Aktivisten ausließen.
Das jüngst eröffnete soziologische Zentrum Gradus, das bisher keine politischen Sympathien gezeigt hat, behauptet, dass Selenskij von 23 Prozent der Bevölkerung unterstützt werde und damit vor allen anderen liege. Doch der Teufel steckt im Detail: Laut derselben Studie wisse knapp ein Drittel der Bürger nicht, für wen sie stimmen sollten. Dies impliziert eine Unzufriedenheit mit allen.
Das SOCIS-Zentrum hingegen schloss in seiner Umfrage nicht nur Politiker ein. Unter anderem wurde dort der ehemalige Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs, inzwischen Botschafter in Großbritannien, Waleri Saluschny, aufgeführt. In der ersten Runde könnte er mit 27,2 Prozent, und Selenskij mit 15,9 Prozent der Stimmen rechnen. In der zweiten Runde würde der General mit großer Wahrscheinlichkeit den ehemaligen Komiker schlagen.
Saluschnys Zustimmungswerte liegen seit über einem Jahr stabil bei etwa 25 Prozent. Indessen verlor das Oberhaupt des Kiewer Regimes durchschnittlich etwa zwei Prozent pro Monat.
Der Weg zum Frieden
Auch Selenskijs offene Gegner wollen bisher keine Wahlen. So sagt Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, dass dies "das Land aus dem Inneren" zerstören könne.
"Das ist Gift für unsere Heimat. Nachdem der Frieden in der Ukraine Schritt für Schritt zurückgekehrt sein wird, werden Wahlen der nächste logische Schritt sein", führte er aus.
Saluschny will dieses Thema nicht besprechen. "Es werden entsprechende Bedingungen einkehren, dann werde ich als Mann, der ein staatliches Amt bekleidet, solche Fragen beantworten können", sagte er.
Indessen meldete der Fernsehkanal Fox News, dass die USA die Beilegung des Ukraine-Konflikts in drei Etappen vorschlagen. Moskau und Kiew würden zunächst die Kampfhandlungen einstellen, danach kämen die Präsidentschaftswahlen und dann würde der neue Präsident einen Friedensvertrag unterzeichnen. An eine zweite Amtszeit Selenskijs glauben die Vereinigten Staaten nicht.
Die Wurzel des Problems
Der ukrainische Politologe Wadim Karassjow ruft dazu auf, keine allzu großen Hoffnungen in den neuen Staatschef zu setzen.
"Stellen wir uns vor, Saluschny gewinnt und unterzeichnet sogar einen Friedensvertrag. Was dann? Und was, wenn ein Kandidat gewinnt, der gegen einen von den USA aufgezwungenen Frieden eintritt? Alle denken, dass wir Ukrainer quasi in die Zeit vor 2022 zurückkehren und ein normales Leben fortsetzen werden. Das ist unmöglich. Von welchem Geld soll man leben, von welchem Verstand? Unser Bild von der Welt ist nicht mehr das, was es einmal war. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das Land ernähren und die Menschen beruhigen können. Kein Kandidat hat ein Wahlprogramm", führt er aus.
Ruslan Bortnik, Leiter des ukrainischen Instituts für Analyse und Management, zweifelt Selenskijs angeblichen Zustimmungswert von 57 Prozent stark an.
"Die Zunahme des Zustimmungswerts ist durch nichts zu erklären. Zwischen Januar und Februar gab es keine positiven Ereignisse im Land. Am besten ist es, auf Trumps Behauptungen gar nicht zu reagieren. Der Präsident der USA meint, dass die ukrainische Regierung ihren Mund halten und das tun müsse, was der Chef sagt. Wenn Selenskij nicht einverstanden ist, muss er Trumps Ansicht nach durch Wahlen oder auf irgendeine andere Weise entlassen werden", sagt Bortnik.
Der Experte fügt hinzu, dass Selenskijs Position heute darin bestehe, dass jeder in der Ukraine, der für Wahlen eintritt, ein Verräter sei. Anscheinend wurde er "desinformiert", denn selbst die gegenüber dem Regime loyalsten Soziologen melden: Die Bevölkerung wartet auf Veränderungen.
"In Wirklichkeit spalten Wahlen das Volk nicht, sondern einen es. Elitäre Gruppen werden sich zerstreiten, doch für Volk und Staat werden Flitterwochen einkehren. In dieser Periode genießt der gewählte Präsident die größte Beliebtheit und kann alles tun, was er will. Im Hinblick auf abstürzende Zustimmungswerte der amtierenden Regierung benötigt der Staat dringend Wahlen. Wie etwa soll ein Parlament, dem nur zehn Prozent der Ukrainer vertrauen, über Angelegenheiten von Krieg und Frieden entscheiden?", merkt Bortnik an.
Der Politologe Alexander Dudtschak meint, dass Selenskijs Schicksal besiegelt sei. "Seine Hysterie ist nicht verwunderlich, denn er ist sich seiner Aussichten wohl bewusst. Insgesamt stört Selenskij heute Washington mehr, als Moskau. Russlands Streitkräfte rücken vor und erreichen ihre Ziele, während Trump die Friedensverhandlungen nicht vorantreiben kann, solange sich in der Ukraine ein Präsident mit abgelaufener Amtszeit an der Macht befindet", erklärt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur RIA Nowosti.
Dudtschak zufolge halte der Westen seit Langem Ersatzkandidaten für Selenskij bereit. Saluschny ist der Offensichtlichste, doch unter den gegenwärtigen Bedingungen könnten Kiews Geldgeber wen auch immer an die Macht bringen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 24. Februar 2025.
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