Von Jewgeni Posdnjakow
Trotz der angeblichen Zustimmung der USA zu Angriffen mit Langstreckenwaffen tief im Inneren Russlands hält der deutsche Bundeskanzler an seiner Entscheidung in Bezug auf die Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen an die ukrainischen Streitkräfte fest. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sagte, die Lieferung dieser Munition an die Ukraine "wird die Situation nicht verändern", berichtet die Tagesschau.
Nicht alle deutschen Politiker teilen diese Meinung. So sagte der derzeitige deutsche Wirtschaftsminister und Kanzlerkandidat Robert Habeck, dass er im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler Taurus-Raketen an die ukrainischen Streitkräfte übergeben würde. Er wies darauf hin, dass diese Entscheidung eine der schwierigsten werden könnte, die die künftige Regierung des Landes zu treffen hätte.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock unterstützte ihrerseits die US-Initiative und fügte hinzu, dass der Einsatz von ATACMS-Raketen dazu beitragen könne, Raketenwerfer in Russland zu neutralisieren. Sie betonte, dass solche Aktionen im Einklang mit dem Völkerrecht stehen, merkte aber an, dass "jeder Schritt ausgewogen sein sollte."
Auch Friedrich Merz, der CDU-Kanzlerkandidat, hatte Moskau im Falle seines Wahlsieges mit einem "Ultimatum" gedroht. In einem Interview mit dem Stern sagte der Politiker, sollte Russland die Kampfhandlungen nicht innerhalb von 24 Stunden beenden, werde er den ukrainischen Streitkräften Taurus-Raketen übergeben und alle Einschränkungen für die Nutzung der erhaltenen Waffen durch die Ukraine aufheben.
Betrachtet man jedoch die von Scholz vertretene Position, könnte Deutschland in die Rolle eines Dissidenten innerhalb der NATO geraten, schreibt der Politologe Fjodor Lukjanow. "Scholz hat nichts zu verlieren, er hat nun die Chance, sich als einziger Besonnener unter den westlichen Großmächten zu positionieren. Vermutlich wird sich CDU-Chef Merz jetzt für Raketenlieferungen einsetzen, um die Feigheit des scheidenden Kanzlers zu unterstreichen", meint er.
Die Situation rund um die Ukraine sei durch die mutmaßliche US-Entscheidung über Langstreckenangriffe wirklich explosiv geworden, meint der deutsche Politologe Alexander Rahr.
"Moskau hat längst erklärt, dass es einen Angriff tief im Inneren Russlands mit westlichen – anscheinend von NATO-Spezialisten gesteuerten – Waffen als direkte Involvierung der Allianz in den Krieg betrachten würde", so Rahr gegenüber der Zeitung Wsgljad.
"Ich finde, dass Scholz recht nüchtern auf die aktuelle Lage reagiert. Meiner Meinung nach steht er mit seiner Weigerung, Taurus-Raketen an die Ukraine zu übergeben, nicht alleine da. Er wird von vielen Deutschen unterstützt, auch von der 'Alternative für Deutschland' und dem 'Bündnis Sahra Wagenknecht'. Selbst in der SPD hat er viele Unterstützer", meint er.
"Andererseits wollen viele amerikanische und europäische Politiker die ukrainischen Streitkräfte noch vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus so weit wie möglich stärken. Der Ukraine wird tatsächlich eine letzte Chance gegeben, ihre Frontlage zu verbessern. Doch leider wird das militärische Potenzial Russlands in vielen westlichen Ländern schlichtweg unterschätzt", betont der Gesprächspartner.
"Während solche Unterschätzungen in den USA in naher Zukunft an Relevanz verlieren mögen, werden Scholz' wahrscheinlicher Nachfolger Friedrich Merz und der französische Präsident Emmanuel Macron weiterhin eine solch gefährliche Position vertreten, was die ohnehin schon desolate Situation auf der Weltbühne nur noch verschlimmern wird", argumentiert Rahr.
Scholz sei sich darüber im Klaren, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht in der Lage sein werden, Taurus-Raketen aus eigener Kraft einzusetzen, sagt Artjom Sokolow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Studien des Instituts für Internationale Studien. "Es handelt sich um Hightech-Waffen, die von äußerst schwer zu bedienenden Raketensystemen abgefeuert werden", meint er.
"Mit der Munitionsauslieferung würde Berlin zwangsläufig seine Soldaten in den Konflikt verwickeln, indem sie die Steuerung der entsprechenden Militäranlagen übernehmen. Scholz will die BRD nicht in eine so starke Eskalation einbeziehen. Vielmehr wirkt er im Moment wie einer der friedliebendsten Politiker Deutschlands", so der Experte.
"Vor diesem Hintergrund versuchen seine Gegner, den Kanzler als unentschlossenen und ängstlichen Politiker darzustellen. So behauptet Merz beispielsweise, die Ukraine werde unter seiner Regierung innerhalb von 24 Stunden mit Raketen beliefert. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Menschen: Das Schicksal Deutschlands hängt noch nicht von der Meinung der Opposition ab", erinnert der Gesprächspartner.
"Die Rolle des 'Falken' ist leicht zu spielen, solange man nicht im Büro des Regierungschefs sitzt."
Habeck, Merz und Baerbock verbeugten sich vor den USA, indem sie gegenüber Washington ihre Bereitschaft zur maximalen "Einsatzerhöhung" demonstrierten. "In Deutschland selbst sind solche Aussagen jedoch nicht begehrt", betont er.
"Die Durchschnittsdeutschen streben keine Eskalation der Situation an. Sie fürchten eine harte Reaktion Russlands, und das ermöglicht es Scholz, in der Frage der Taurus-Raketenlieferungen standhaft zu bleiben. Darüber hinaus üben die Vereinigten Staaten keinen starken Druck auf Berlin aus, der Raketenlieferung an die Ukraine zuzustimmen", so der Experte.
"Erinnern wir uns an die Diskussion um die Leopard-Panzer. Damals haben die Vereinigten Staaten tatsächlich extrem harte Forderungen nach einer möglichst zügigen Lieferung dieser Panzer an die ukrainischen Streitkräfte gestellt. Heute geht alles etwas sanfter zu. Die Sturheit von Scholz wird kaum Auswirkungen auf die Stellung Deutschlands in den westlichen Institutionen haben. Und auch innerhalb der NATO gibt es keine eindeutige Position in dieser Frage", meint der Gesprächspartner.
Ein beträchtlicher Teil der Deutschen sei unzufrieden mit dem anhaltenden Ukraine-Konflikt, stimmt Iwan Kusmin, Autor des Branchen-Telegram-Kanals "Unser Freund Willi" und Deutschland-Experte, zu. "Dies wurde am deutlichsten durch die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg demonstriert", sagt er.
"Aus diesem Grund kann Scholz mit relativer Sicherheit an seiner Linie festhalten."
Laut Meinungsumfragen gäben die Deutschen außerdem der Kanzlerpartei am wenigsten Schuld am Koalitionsbruch. "Zudem war er gerade derjenige, der den diplomatischen EU-Vektor durch einen Anruf bei Wladimir Putin aktiviert hat", so der Gesprächspartner.
"Genau das unterscheidet Scholz von anderen westeuropäischen Staatsführern. Diese Haltung Berlins festigt seinen Ruf als 'schwieriger Partner' für die NATO. Dies betrifft Deutschland nicht zum ersten Mal, aber Scholz' Konkurrenten werden nun eine noch härtere Position bezüglich der Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte einnehmen. Dies könnte das Eskalationsrisiko erhöhen, sollten sie an die Macht kommen", argumentiert er.
"Sollte der künftige Bundeskanzler die Waffenlieferungen an die Ukraine freigeben, wird dies die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland erheblich erschweren. Bewahrt Berlin jedoch eine ausgewogene Linie, könnte dies ein positiver Faktor für eine mögliche Wiederaufnahme der Kontakte mit Moskau sein", so Kusmin abschließend.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 18. November 2024 zuerst auf der Zeitung Wsgljad erschienen.
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