Von Rainer Rupp
Eines der vom Westen, vor allem von Washington am stärksten beachteten Themen des Gipfels ist der Vorstoß zur Entdollarisierung großer Teile des globalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen, was zugleich einen Todesstoß gegen den US-dominierten Handel mit heißer Luft, d. h. mit US-Finanzprodukten, zur Folge haben könnte.
In geopolitischer Hinsicht wird im Westen befürchtet, dass der BRICS-Gipfel Russland und China als Plattform dient, um sich mit dem Globalen Süden noch enger zu verbünden und zu helfen, dem westlichen Einfluss zu widerstehen. Zugleich soll auf dem Gipfel erörtert werden, wie das bereits ansatzweise vorhandene Gegengewicht zu den vom Westen dominierten globalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank verstärkt werden kann.
Mit der bereits beschlossenen Erweiterung der BRICS-Gruppe auf neun Mitglieder wie Ägypten, Saudi-Arabien, Iran und Äthiopien hat das Bündnis seine Ambitionen verdeutlicht, seinen Einfluss in der globalen Politik und Wirtschaft auszubauen. Doch welche Auswirkungen könnte dies auf die internationale Ordnung und die westlichen Interessen haben, ist die bange Frage, die sich die Herren im absteigenden Kollektiven Westen stellen?
BRICS-Expansion und ihre globalen Auswirkungen
Die Aufnahme neuer Mitglieder in die BRICS-Gruppe gilt als einer der wichtigsten Schritte in der Geschichte des Bündnisses. Westliche Regierungen, insbesondere die USA und die EU, sehen darin einen Versuch, das globale Machtgleichgewicht zugunsten der BRICS-Staaten zu verschieben. Während Saudi-Arabien traditionell enge Verbindungen zu den USA pflegte, signalisiert sein Beitritt zur BRICS einen strategischen Wandel, der auf eine neutralere und pragmatischere Positionierung hinweist.
Der Iran, der seit Jahren unter schweren westlichen Sanktionen steht, könnte durch die BRICS-Mitgliedschaft seinen geopolitischen Einfluss und seine wirtschaftliche Handlungsfähigkeit erheblich stärken. Zugleich werden sich die antiimperialistischen Handlungsmöglichkeiten der alten BRICS-Staaten erweitern. Das wird z. B. durch die bereits vorhandene, strategische Abstimmung zwischen Russland und Saudi-Arabien in der Rohöl-Förderung deutlich.
Die westlichen Regierungen betrachten diese Entwicklungen mit Sorge, da sie befürchten, dass die Erweiterung der BRICS-Gruppe die von ihnen beherrschten bestehenden Machtstrukturen untergraben könnte. Die BRICS positioniert sich zunehmend als Gegenstück zum westlich dominierten Modell der "globalen Governance" und stellt damit eine direkte Herausforderung für die USA und Europa dar. Besonders in geopolitisch sensiblen Regionen wie dem Nahen Osten, wo Länder wie Saudi-Arabien und der Iran eine bedeutende Rolle spielen, könnte der wachsende Einfluss der BRICS zu einer Neuausrichtung der Machtverhältnisse und, zum Schrecken des "Teile- und Herrsche-Westens", sogar zu Frieden und konstruktiver regionaler Zusammenarbeit führen.
Der Vorstoß zur Entdollarisierung
Eines der zentralen Themen auf dem diesjährigen BRICS-Gipfel wird die Reduzierung der Abhängigkeit vom US-Dollar sein, auch bekannt als Entdollarisierung. Seit Jahren setzen sich Länder wie Russland und China verstärkt dafür ein, den Handel innerhalb der BRICS-Staaten in lokalen Währungen abzuwickeln, um ihre wirtschaftliche Souveränität zu stärken und die Dominanz des US-Dollars im globalen Finanzsystem zu verringern.
Für Russland ist dieser Schritt von besonderer Bedeutung, da er die westlichen Sanktionen gegen das Land konterkariert und Moskau zusätzliche Bewegungsfreiheit verschafft und das Land seine wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen BRICS-Mitgliedern intensivieren kann.
Dass sich trotz starker politischer Ambitionen die Umsetzung dieser Pläne als schwierig gestalten wird und die komplexen Handels- und Finanzbeziehungen nicht von einem Tag auf den anderen transformiert werden können, davor hatte der russische Außenminister Sergei Lawrow bereits im Sommer dieses Jahres gewarnt. Die Erwartungen an eine schnelle Verabschiedung des US-Dollars sollten nicht zu hoch geschraubt werden, denn er wird auf absehbare Zeit noch eine zentrale Währung im internationalen Handel bleiben, allerdings mit sinkender Tendenz.
Einige Experten argumentieren sogar, dass die Fokussierung auf lokale Währungen im zwischenstaatlichen Handel zwar kurzfristig realisierbar sei, jedoch nur begrenzte Auswirkungen auf das globale Finanzsystem haben werde. Insbesondere auf den internationalen Rohstoffmärkten und im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr werde der Dollar so schnell nicht vom ersten Platz verschwinden.
Westliche Analysen, die von einer weiteren Dominanz des "König Dollar" ausgehen, sind – allerdings unausgesprochen – an eine zentrale Bedingung geknüpft, dass nämlich die US-Zentralbank FED nicht die Kontrolle über die stark inflationären Entwicklungen in den USA verliert. Wenn dies geschieht, während die Hauptwährungen im BRICS-Zahlungssystem weitgehend stabil blieben, könnte die internationale Flucht aus dem Dollar panikartige Züge annehmen. Eine derart katastrophale Entwicklung wiederum könnte nur gebremst werden, wenn die US-Notenbank die Zinsen auf Dollareinlagen auf 20 Prozent oder höher schrauben würde, wie es schon einmal Anfang der 1980er Jahre geschehen ist. Derart hohe Zinsen würden aber die ohnehin dahinsiechende US-Wirtschaft gänzlich in die Depression schicken. Die USA sitzen in einer Zwickmühle.
Seit der Krise 2008 hat die Druckerpresse der US-Notenbank immer ungehemmter Dollar ausgespuckt, womit seither Jahr für Jahr immer gigantischere Löcher im US-Staatsdefizit gestopft wurden. Die US-Staatsverschuldung ist inzwischen auf 35 "Trillion" (auf Deutsch "Billionen") US-Dollar, bzw. 122 Prozent des US-BIP gestiegen. Im Haushaltsplan der USA lagen in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte die Ausgaben für Zinsen mit aktuell 973 Milliarden Dollar über den Ausgaben für das US-Militär und US-Kriege, die sich aktuell auf 936 Milliarden Dollar belaufen.
Im letzten Halbjahr ist das Defizit des US-Bundes alle drei Monate um eine weitere Billion Dollar gewachsen. Eine nachhaltige Besserung ist nicht in Sicht. Für die US-Politiker, egal, wer im nächsten Jahr in Washington am Ruder ist, gibt es keine schmerzfreie Heilung aus dieser Misere, die entweder in einer galoppierenden Inflation, in einer einschneidenden Deflation oder in einem großen Krieg enden wird.
Nur mit einem gegen Russland oder China angezettelten Krieg könnten sich die US-Politiker aus ihrer Verantwortung für die von ihnen selbst verursachte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere ihres Landes stehlen, indem sie den angeblichen chinesischen oder russischen Aggressoren die Schuld in die Schuhe schieben.
Bundeskanzler Scholz praktiziert diese Masche bereits jetzt, wenn er z. B. wie jüngst geschehen, die Russen für unsere wirtschaftlichen Probleme verantwortlich macht, weil die uns angeblich den Gashahn abgedreht hätten und deshalb für die hohen Energiepreise hierzulande verantwortlich wären, was wiederum zur Deindustrialisierung unseres Landes in Form von Abwanderung führender Wirtschaftszweige geführt hätte. Ganz klar, die Russen sind schuld!
Führende internationale Geldmanager erwarten in absehbarer Zukunft starke Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Diese könnten trotz allem westlichen Schönreden auch zu einer schnelleren Entdollarisierung führen, z. B. wenn der Dollar anfängt, stärker an Wert zu verlieren als die Papier-Währungen anderer Länder. Dann könnte das internationale Vertrauen in die US-Währung schlagartig verschwinden.
Ein verlässlicher Maßstab für das internationale Vertrauen in den US-Dollar ist die Preisentwicklung von Gold in Dollar ausgedrückt. So hat der Dollarpreis für eine Unze Gold (31 gr.) in den letzten 12 Monaten ständig neue Rekordmarken gebrochen, von 2.000 $/Unze auf aktuell 2.700 $/Unze. Wichtig dabei ist: Es sind hauptsächlich die Zentralbanken der Länder rund um die Welt, die als Käufer auftreten und einen guten Teil ihrer unzuverlässigen Dollarreserven in stabile Goldreserven umwandeln. Denn Gold hat seit 6000 Jahren alle von Menschen gemachten Krisen "überlebt", im Unterschied zu anderen Geldformen, vor allem Papiergeld.
Eine wundersame Heilung der Misere in den USA ist nicht zu erwarten. Daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Kartenhaus der US-Finanzwirtschaft zusammenbricht und den Kollektiven Westen mit nach unten zieht. Bis dahin müssen die BRICS-Staaten sich entsprechend finanziell vom Westen entkoppelt haben.
Westliche Erwartungen und Befürchtungen
Neben der Entdollarisierung ist die Erweiterung des BRICS-Bündnisses auf 9 Mitglieder und die Bemühungen von Dutzenden weiteren Staaten aus allen Weltregionen um Aufnahme ein Thema des Kasan-Gipfels, das den Westen in geopolitischer Hinsicht am meisten interessiert. Der Kollektive Westen befürchtet vor allem, dass sich hier Russland und China eine Plattform schaffen, um sich weiter mit dem Globalen Süden zu verbünden, um den westlichen Einfluss dort zurückzudrängen. Westliche Analysten schöpfen jedoch Hoffnung aus der angeblichen "inneren Zerstrittenheit" nicht nur innerhalb der ursprünglichen BRICS-Gründer, sondern auch zwischen den Neuankömmlingen.
Während Russland und China die BRICS-Erweiterung als strategischen Gewinn betrachteten, gebe es innerhalb des Verbundes auch kritische Stimmen. Länder wie Brasilien und Indien stünden der Aufnahme neuer Mitglieder eher zurückhaltend gegenüber, da sie befürchteten, dass dies die internen Entscheidungsprozesse erschweren und die Kohärenz der Gruppe schwächen könnte, so der Konsens westlicher Beobachter.
Weitere Hoffnung schöpfe der Westen aus der von Indien offensichtlich verfolgten Multi-Alignment-Strategie, womit das Land versuche, seine Beziehungen sowohl zu den westlichen Mächten als auch zu den BRICS-Staaten auszubalancieren. Diese vorsichtige Haltung zeige sich auch in der Ablehnung einer zu schnellen Aufnahme weiterer BRICS-Mitglieder, da Indien angeblich befürchte, dass der Einfluss von autokratischen Staaten wie Iran und Saudi-Arabien die Position der demokratischen BRICS-Mitglieder verwässern könnte. Diese Schlussfolgerung reflektiert den Tunnelblick anglo-amerikanischer Beobachter auf die geopolitische Glaskugel und ist gelinde gesagt Blödsinn. Wenn Indien tatsächlich Vorbehalte gegen die beiden Staaten gehabt hätte, dann wären sie nicht in die BRICS aufgenommen worden. Zudem ruht die BRICS-Konstruktion auf dem wichtigen Grundpfeiler: keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten, egal welche Staatsform, ob demokratisch, autokratisch oder islamisch-theokratisch.
Die BRICS ist keine Allianz und auch kein gegen irgendjemanden gerichtetes Bündnis. Das zeigt insbesondere die Teilnahme Indiens an gemeinsamen militärischen Marineübungen mit den USA, Japan und Australien, im Rahmen des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs, "Quad", der eigentlich gegen China gerichtet ist. Damit unterstreicht Indien seine Bereitschaft, sich sowohl in westliche als auch nicht westliche Strukturen einzubinden. Einige der BRICS-Länder und viele der BRICS-Anwärter verfolgen eine derartige, mehr oder weniger multipolare Strategie, indem sie sowohl mit westlichen als auch mit nicht westlichen Mächten kooperieren, um auf diese Weise ihre Unabhängigkeit zu bewahren, ohne dass Washington ihnen offene Konfrontation vorwerfen könnte.
Dennoch sehen westliche Analysten in diesen angeblich internen Spannungen eine potenzielle Schwachstelle des BRICS-Bündnisses. Zwar hat die Gruppe ambitionierte Ziele, doch könnten diese aufgrund der unterschiedlichen Interessen und Prioritäten der Mitgliedstaaten nur schwer umgesetzt werden. Westliche Beobachter setzen daher darauf, dass diese Differenzen die Fähigkeit der BRICS-Staaten, als geschlossene Einheit aufzutreten und ihre globalen Ambitionen zu verwirklichen, einschränken werden, womit sie zumindest vorerst recht haben dürften.
Ein weiteres zentrales Thema des Gipfels, dem das Augenmerk des Westens gilt, ist die wachsende Bedeutung des Globalen Südens in den strategischen Überlegungen der BRICS-Staaten. Länder wie Ägypten und Äthiopien, die ebenfalls neue Mitglieder des Bündnisses sind, unterstreichen das Interesse der BRICS-Staaten, ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den Entwicklungsländern zu stärken. Die Neue Entwicklungsbank der (NDB), eine von BRICS initiierte internationale Finanzinstitution, könnte eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung dieser Länder spielen und sich als Alternative zu westlich dominierten Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank positionieren.
Insbesondere China und Russland haben in den letzten Jahren ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu afrikanischen Ländern intensiviert. Diese Annäherung wird von westlichen Regierungen als Versuch gewertet, den Einfluss Europas auf dem afrikanischen Kontinent zu schwächen, was weitreichende Folgen für die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Afrika haben könnte.
Für die westlichen Regierungen und Medien stellt der BRICS-Gipfel eine Mischung aus Herausforderungen und Unsicherheit dar.
Einerseits erkennen sie das Potenzial der Gruppe, die globale Ordnung zu verändern und neue wirtschaftliche und geopolitische Allianzen zu schaffen. Besonders die USA und Europa befürchten, dass der Gipfel dazu genutzt wird, die US-diktierte "regelbasierte internationale Ordnung", die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Schatten der globalen US-Militärmacht etabliert wurde, zu untergraben.
Andererseits hegen sie die Hoffnung, dass die BRICS aufgrund unterschiedlicher Interessen nicht in der Lage ist, ihre ambitionierten Ziele zu erreichen.
Ein Gipfel mit weitreichenden Folgen
Der BRICS-Gipfel 2024 in Kasan könnte zu einem Wendepunkt in der globalen Machtpolitik werden. Während die westlichen Regierungen und Medien den Gipfel mit Skepsis betrachten, ist unbestreitbar, dass die BRICS eine wachsende globale Rolle spielen wird. Die Frage, ob das Bündnis seine wirtschaftlichen und geopolitischen Ambitionen verwirklichen kann, hängt jedoch maßgeblich davon ab, wie es mit internen Spannungen und externen Herausforderungen umgeht.
Der Ausgang des Gipfels wird nicht nur die Zukunft der BRICS bestimmen, sondern auch entscheidenden Einfluss auf die westlichen Strategien im Umgang mit der Gruppe haben. Sollte die BRICS mit ihrer Strategie der Entdollarisierung und der Festigung geopolitischer Allianzen erfolgreich sein, könnten sich die USA und Europa gezwungen sehen, ihre aggressive imperialistische Außenpolitik an die neuen Realitäten anzupassen, was heißen würde: Keinen Ausnahmestatus mehr für sich selbst zu fordern, sondern sich als Gleiche unter Gleichen friedlich in die internationale Staatengemeinschaft einzureihen.
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