Von Elem Chintsky
In weiser Voraussicht hatte das anglo-franko-amerikanische Establishment die Türkei bereits im Jahr 1952 in den Nordatlantikpakt integriert – lediglich sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit dem ersten Antrag auf Mitgliedschaft begannen Ankaras NATO-Bemühungen sogar schon im Jahr 1948, aber der Westen war zu dem Zeitpunkt noch nicht bereit, sich zu erbarmen. Immerhin wurden aber die Türken drei Jahre vor Westdeutschland in dem sogenannten Verteidigungsbündnis zugelassen.
Wir schreiben inzwischen das Jahr 2024: Die Republik Türkei stellte vor kurzem einen neuen Antrag. Es ist ein offizielles Gesuch auf Mitgliedschaft in dem eurasischen Staatenbund der BRICS-Gruppe, der zufälligerweise aus den Gründungsmitgliedern Russland und China besteht. Was das eigentlich für eine Bedeutung hat, wird in den Berichten dazu im Spiegel oder auf der Deutschen Welle zu schwach vermittelt. Wiederbelebt wird die Rede von der Türkei als vitalem "EU-Beitrittskandidaten", der diese hohe Ehre leichtsinnig hinaus aufs Glatteis geführt hat. Es wird von einem atemberaubenden EU-Binnenmarkt fabuliert, von dem sich die Türkei zu entfernen droht.
So wird auch der EU-Kommissionssprecher für Auswärtige Angelegenheiten zitiert, der mahnt, dass "die EU jedoch erwartet, dass sie [die Mitgliedschaftsanwärter] die Werte der EU nachdrücklich und uneingeschränkt unterstützen". Dabei werden Ankara deshalb seit knapp 25 Jahren die Pforten zu Borrells "europäischem Garten" verweigert: "still not democratic enough" (zu Deutsch: "immer noch nicht demokratisch genug"). Aus dem Europäischen Parlament sind regelmäßig Klagen über ein fehlendes "echtes Interesse, die ständigen Rückschritte [Ankaras] bei den Grundfreiheiten zu stoppen" zu hören.
Wenn man noch den abgelehnten Antrag auf Mitgliedschaft in den EU-Vorgänger – die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – von April 1987 berücksichtigt, geht die Historie der Verweigerungen über 37 Jahre zurück. Der Antrag auf eine EU-Kandidatur wird seit Dezember 1999 von Brüssel "rasant bearbeitet". Als regulierbare, geostrategische Pufferzone für die unmissverständlich große Völkerwanderung aus Afrika und dem Nahen sowie Mittleren Osten nach Europa ist die Türkei für Brüssel natürlich allemal verwertbar. Während der Spiegel, Deutsche Welle und andere versuchen, ein harmloses, vorübergehendes Kalkül Erdoğans hinter dem BRICS-Flirt zu vermuten, zeigt sich die israelische Jerusalem Post sichtlich besorgter. Die englischsprachige Tageszeitung schreibt, wie folgt:
"Der Beitritt zu BRICS könnte die Beziehungen der Türkei – des am meisten gestörten Mitglieds – zur NATO dauerhaft untergraben. Seit Erdoğan in der Türkei an die Macht kam, hat das Land konsequent taktische und außenpolitische Ziele verfolgt, die im Widerspruch zum Westen stehen."
Des Weiteren spekuliert das Blatt, dass die jüngsten diplomatischen Bemühungen der Türkei, eine neue islamische Allianz im Nahen Osten zu schaffen – die darauf abzielt, Israel zu delegitimieren und zu destabilisieren – Grund sein könnten für den zu antizipierenden BRICS-Beitritt. Auch wird ein Erdogan-Zitat herangezogen, dass solche Sorgen tatsächlich einigermaßen mit Indizien verziert:
"Der einzige Schritt, der die israelische Arroganz, Schlägerei und den Terrorismus stoppen kann, ist eine Allianz islamischer Länder. Die neuen Schritte, die die Türkei gegenüber Ägypten und Syrien unternimmt, zielen darauf ab, eine Solidaritätslinie gegen die wachsende Bedrohung durch den Expansionismus zu bilden."
Stellt man sich die Frage, ob eine solche Außenpolitik eher mit der EU und NATO – als mit der BRICS-Gruppe – umsetzbar wäre, ist die Antwort klar. Außerdem wird die historisch signifikante Tatsache unterschätzt, dass die tiefe ideologische Spaltung im Islam zwischen Sunniten (vor allem die Türkei und Saudi-Arabien) und Schiiten (Iran) wegen der brutalen Rücksichtslosigkeit Israels in der Region das erste Mal seit Jahrhunderten die Chance hat, gemäßigt zu werden. Eine religiös-geostrategische Spaltung, die seit dem 19. Jahrhundert das angelsächsische Establishment meisterhaft für sein eigenes Machtinteresse zu manipulieren und auszuschlachten verstand.
Die erste große Frucht dessen war bei "der Spaltung innerhalb der Spaltung" – also der Balkanisierung des Osmanischen Reiches als imperialen sunnitischem Zentrum vor knapp über hundert Jahren inmitten des Ersten Weltkrieges, während welchem das britische Mandat über Palästina gestülpt wurde. Damals verstand London die einheimische, arabische Bevölkerung besonders in Palästina – noch Subjekte des Osmanischen Reiches – mit falschen Versprechen über die Beihilfe zur eigenen Souveränität zu täuschen, während es eigentlich den zionistischen Führern in Europa und Nordamerika dasselbe Land als "Heimat der Juden" zusicherte. Besonders das vom britischen Kriegskorrespondenten J. M. N. Jeffries verfasste Buch "Palestine – The Reality" (1939) geht bei diesen historischen Entwicklungen in die Tiefe.
Diese britisch-kuratierte, anthropologisch künstlich forcierte Firmenübernahme im Nahen Osten rückt heute erneut in den Vordergrund. Nur ist es seit langem nicht allein mehr London – wie vor einem Jahrhundert – sondern vor allem Washington, D.C. und Brüssel als Mitläufer, die diesen konfliktschürenden Störfaktor namens Israel bedingungslos in der Region unterstützen. Das bisherige Gleichgewicht, welches die westliche Machtprojektion durch Israel kanalisierte, ist durch Ankaras eingeschlagenen Sonderweg in eine starke Schieflage geraten.
Laut den Aussagen von Ömer Celik, dem Sprecher von Erdoğans AKP-Regierungspartei, ist nicht bekannt, wann genau Ankara den Antrag auf BRICS-Mitgliedschaft gestellt hat, aber über die ersten Ergebnisse werde man die Öffentlichkeit in Kenntnis setzen. Auch als Region Kleinasien bekannt, ist die Türkei eine natürliche Brücke zwischen Europa und Asien. Diese Gewichtsverschiebung in der Region hat große Bedeutung, egal, wie viel Mühe aufgewendet wird, diese Signifikanz abzusprechen.
Die Türkei hat in der letzten Dekade meistens konstruktive Beziehungen zu Russland unterhalten. Abgesehen von einigen Ausnahmen, wie dem Abschuss eines russischen Suchoi-Kampfjets über Syrien im Jahr 2015 – wofür sich Erdoğan kurze Zeit später entschuldigte – lief die Annäherung beider Länder ungehindert weiter.
Ankara verweigerte sich bei den Sanktionsserien gegen Moskau, die der Wertewesten, zusammengesetzt aus den EU- und NATO-Blöcken – wegen des Ukraine-Konfliktes verhängte. Auch die Bereitschaft, bei dessen Beilegung zu vermitteln, sondert die Türkei von der normativen Kriegshetze des Westens gegen Russland sichtlich ab. Der Beitritt der Türkei zu der BRICS-Gemeinschaft wird auf dem dazugehörigen Gipfeltreffen in Kasan, Russland im Oktober erörtert werden, schloss die Jerusalem Post mit Nachdruck ab.
Die jüdisch-israelische Perspektive der Jerusalem Post ist mit berechtigter Ungewissheit ausgestattet: Der Westen solle die problematische Rolle Ankaras in einer möglichen Eskalation im Nahen Osten ernst nehmen. Was im Gazastreifen und im Westjordanland bisher geschah und mittlerweile im Süden Libanons geschieht, wird wohl mittelfristig zu einem NATO-Austritt der Türkei führen müssen – ein Präzedenzfall, der dem atlantischen "Verteidigungsbündnis" großen Schaden zufügen würde. Zumal Ankara dort die zweitgrößte Armee stellt.
Das Streben Ankaras in Richtung BRICS ist kein Versuch einer kalkulierten Zweigleisigkeit, wie deutsche Medien es versuchen zu suggerieren – es ist der Anfang einer aufrichtigen, strategischen Abkehr vom Westen auf Raten inmitten einer schwächer werdenden US-Hegemonie. Die Türkei ist bisher das einzige NATO-Mitglied, das auf einem realen Kurs zur vollen Mitgliedschaft im eurasischen Staatenbündnis ist. Vergleicht man die Beitrittsbedingungen der BRICS mit denen des EU-NATO-Gerüsts, kann bald von einer vollen BRICS-Mitgliedschaft die Rede sein, die enthusiastische Nachahmer generieren könnte. Verzichtet die BRICS doch auf all das neoliberal-kryptofaschistische Kleingedruckte, worauf die EU und NATO so großen Wert legen.
Obwohl Erdoğan in seiner Aversion gegenüber Netanjahu und seiner Regierung rhetorisch bereits alle Register gezogen hat, die man hätte ziehen können, unterhält die Türkei mit Israel weiterhin weitestgehend uneingeschränkte Handelsbeziehungen – viele davon durchaus relevant für die bisherige Fähigkeit Israels, seine Kriegsverbrechen am palästinensischen Volk zu begehen. Aufgrund dieses zynischen Interessenkonfliktes wächst die Empörung innerhalb des türkischen Volkes, welches Israel gegenüber mit jedem Tag skeptischer wird. Dass mit Israel und seiner Kriegslust auch die USA assoziiert werden, wird ebenfalls zu einem immer schwieriger zu hütenden Geheimnis. Diese Art öffentliche Meinung innerhalb der Türkei wird in der Causa "Abkehr vom Westen" noch einen ganz eigenen Katalysator stellen, dem sich Erdoğans Kreise bald annehmen werden müssen. Zumal Israel insgesamt – man betrachte auch die Größe des Landes – überproportional große Rüstungslieferungen aus dem NATO-Netzwerk bezieht.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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