Außenpolitisches Eiern im Ukraine-Krieg: Scholz wird sichtlich nervös

Wenn es um den Ukraine-Krieg geht, ist die Bundesregierung Scholz, einer der größten Waffenlieferanten Kiews, in ihrer Rhetorik bisher weitestgehend kompromisslos. Dies ändert sich gerade aus außen- wie innenpolitischen Gründen.

Von Kamran Gassanow

Anfang September wurde der Bundeskanzler auf dem diplomatischen Felde wieder aktiv. Er begann, über einen Frieden in der Ukraine und einen Dialog mit Russland zu sprechen. Und das ist im Großen und Ganzen überraschend. Schließlich ist Olaf Scholz fast einer der wichtigsten "Falken" im Kampf gegen Russland.

Abgesehen von den Taurus-Marschflugkörpern, deren Lieferung man aus Angst vor einer Eskalation nicht riskiert, hat die BRD der Ukraine mehr als großzügige Kriegshilfe geleistet – von Iris-Luftverteidigungssystemen bis hin zu Leopard-Panzern.

In der Liste der Sponsoren der Ukraine liegt Deutschland noch vor Großbritannien und Frankreich. Und das, obwohl einerseits London Kiew am stärksten zur Eskalation anspornt und andererseits Emmanuel Macron kürzlich damit gedroht hat, NATO-Truppen an die Front zu schicken. Denn in all jenen Momenten, in denen die westliche Gemeinschaft erkannte, dass Kiews Gegenoffensive gescheitert war, Russland die Initiative ergriffen hatte, der US-Kongress damit drohte, die nächsten Hilfstranchen für Kiew nicht zu genehmigen und Europa keine frei verfügbaren Waffen mehr zu verschenken hatte, immer dann stand Scholz, ganz der sprichwörtliche Fels in der Brandung, für die Ukraine ein.

Ja, zwar räumte auch Scholz im Mai ein, dass Deutschland bereits an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt sei. Insgesamt belief sich das Hilfsvolumen für die Ukraine auf 28 Milliarden Euro, weitere sieben Milliarden Euro stehen für 2024 noch zur Verfügung. Berlin werde aber "solange Hilfe leisten, wie nötig", versicherte der bundesdeutsche Regierungschef.

Und obwohl im gesamten bisherigen Verlauf des Jahres 2024 ein aktiver Prozess des Herausarbeitens diplomatischer Wege stattfand und mehrere Länder wie die Schweiz, Dänemark, China, Indien, Brasilien, die Türkei und Saudi-Arabien gleichzeitig eigene Friedenspläne vorlegten, versuchte Scholz seinerseits, laute Phrasen über einen Frieden zu vermeiden. Er leugnete nicht das Ziel, den Krieg zu beenden, versuchte aber im Gegensatz zu den Ländern der globalen Mehrheit nicht, auf Russland irgendwie zuzugehen. Ungarn und Brasilien sprechen derweil offen von territorialen Zugeständnissen der Ukraine an Russland, NATO-Generalsekretär Stoltenberg lässt sie theoretisch zu, Biden überlässt die Kiew die Wahl.

Seitens Scholz gibt es bisher nicht einmal Andeutungen auf einen territorialen Kompromiss, wie er zum Beispiel von Trump, Musk oder dem Papst angesprochen oder zumindest angedeutet wurde. Ebenso wenig erfolgten von Scholz irgendwelche Vorstöße, Russland zu Verhandlungen einzuladen oder gar vollwertige Kontakte mit dem Kreml wiederaufzunehmen.

Lediglich ein einziges Mal im Winter ließ er die Kommunikation mit Putin theoretisch zu. Und auch das nur deswegen, weil er darauf angesprochen wurde. Schließlich konnte er sich seiner Wählerschaft nicht gänzlich als "Falke" präsentieren. Doch bei allen anderen Auftritten und Gelegenheiten versuchte sich Scholz im demonstrativen Muskelspiel. Während seines Besuchs bei Joseph Biden etwa kritisierte er das Interview des russischen Staatschefs an den Journalisten Tucker Carlson. Das sollte wohl dem Anführer der NATO ein weiteres Mal zeigen, dass in Berlin die Luft beileibe nicht raus sei, sondern ma bereit sei, im Kampf gegen Russland an vorderster Front zu stehen.

Aus Washington zurückgekehrt, behauptete der Bundeskanzler auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Russland bedrohe die NATO. Ebendort, in München, erinnerte er an die 100 Milliarden Euro, die zur Stärkung der Bundeswehr bereitgestellt wurden, und versprach, dass Deutschland beim NATO-Gipfel im Juli zeigen werde, welchen Beitrag es zur Verteidigung des Bündnisses leiste. Zum Aufbau oder zur Stärkung seines Images als NATO-Verteidiger begann Scholz im Frühjahr mit der Verlegung von 5.000 deutschen Soldaten nach Litauen. Schließlich nannte er, eine friedliche Konfliktbeilegung in der Ukraine betreffend, als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen den Abzug der russischen Truppen aus den Gebieten der Ukraine.

Doch dann kam es wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel: In den ersten Herbsttagen gaben Scholz und seine Mitarbeiter gleich drei Erklärungen ab, in denen sie ihre Friedensbereitschaft demonstrierten. Am 8. September erklärte der Kanzler in einem ZDF-Interview, bei dem es unter anderem um sein Telefonat mit Wladimir Selenskij und den Ukraine-Krieg ging:

"Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als es gegenwärtig den Eindruck macht. Es wird auf alle Fälle eine weitere Friedenskonferenz geben – und der Präsident [Selenskij] und ich sind einig, dass es auch eine sein muss mit Russland dabei."

Beim selben Interview äußerte er sich außerdem zu der Sache mit der Sprengung der beiden Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2:

"Wir stehen dafür ein, dass nichts vertuscht und alles getan wird, um diejenigen, die das gemacht haben, zur Rechenschaft zu ziehen."

Am darauffolgenden Tag tätigte Steffen Hebestreit, der Sprecher der Bundesregierung, die Äußerung, Olaf Scholz werde es nicht scheuen, mit Wladimir Putin zu telefonieren, wenn er den Moment für passend erachte. Doch der Moment ist ja gerade jetzt, Scholz' eigenen Worten nach zu urteilen, durchaus günstig:

"Überall auf der Welt reift die Erkenntnis, dass dieser Krieg möglichst bald enden muss."

Nun das Interessanteste: Laut Scholz' Regierungssprecher sollen jegliche Verhandlungen ausschließlich zwischen Kiew und Moskau geführt werden – während Deutschland nur eine unterstützende Rolle spielen könne.

Noch mal zwei Tage später begann auch Kanzler Scholz selbst über Diplomatie zu sprechen. Er halte es für notwendig, eine Friedenskonferenz zur Ukraine abzuhalten – diesmal jedoch unbedingt unter Beteiligung Russlands:

"Jetzt ist der Moment, jetzt ist die Zeit, wo wir ausloten müssen, welche Möglichkeiten sich ergeben.

Wir brauchen eine weitere Friedenskonferenz. Und bei der muss es dann sein, dass Russland mit am Tisch sitzt. Das ist die Aufgabe, die wir jetzt bewältigen müssen. Auszuloten, was da geht."

Um sicherzustellen, dass er auch ja richtig verstanden wird, machte der Kanzler natürlich gleich den Vorbehalt, dass jeglicher Frieden unter Wahrung der territorialen Integrität der Ukraine erreicht werden müsse und nicht erzwungen oder durch Kapitulation erreicht werden dürfe.

Es fällt auf: Angesichts der vorherigen massiven Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine, der stetigen Verschärfung der Rhetorik durch Scholz und der Lossagung von der bloßen Idee der Verhandlungen entsprechen diese jüngsten Ereignisse nicht der zuvor eingespielten Logik.

Doch wenn wir uns den Tatsachen zuwenden und den Gedanken zulassen, dass in Scholz' Politik nicht immer der Idealismus den Pragmatismus überwiegt, dann werden die Veränderungen in der deutschen Außenpolitik nachvollziehbar.

Erstens richten sich Scholz' Botschaften vor allem an das heimische Publikum. Die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Lage wächst. Inflation und ein Rückgang der Produktionsmengen sind das Ergebnis der Sanktionen gegen russische Energieexporte, der globalen Konfrontation, der erhöhten Militärausgaben für die Ukraine und die NATO, aber auch Deutschlands eigene Bundeswehr.

Mit dem Beginn der Lieferungen von Lenkflugkörpern mit Gefechtsfeldreichweite und darüber hinaus ist das Risiko einer nuklearen Eskalation gestiegen. Mit einer Aufnahme von Lieferung von Waffen mit noch größerer Reichweite wird dieses Risiko noch weiter wachsen. Gewachsen ist – beziehungsweise weiter wachsen wird – damit auch das Risiko, dass Deutschland selbst in einen weiteren Krieg hineingezogen wird, was der deutsche Wähler ebenfalls äußerst schmerzhaft aufnimmt. Im Ergebnis dessen sind die SPD und deren Partnerparteien in der Ampel-Koalition in den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen bereits durchgefallen, während die Alternative für Deutschland, das Bündnis Sahra Wagenknecht und Die Linke zugelegt haben.

Zweitens haben nicht nur die Bürger in Deutschland Angst vor einem militärischen Zusammenstoß mit Russland, sondern auch die Regierung. So wiederholt besagter Scholz denn auch bei jeder Gelegenheit, die BRD befinde sich nicht im Krieg gegen Russland. Im Jahr 2023 ließ die Bundesregierung die grüne Außenministerin Baerbock sich sogar für ihre Äußerung über einen angeblichen Krieg gegen Russland entschuldigen. Auf einen potenziellen Konflikt bereitet sich Deutschland sehr wohl vor, und die deutschen Geheimdienste haben bereits den Teufel eines russischen Einfalls in die baltischen Staaten und Polen an die Wand gemalt, den sie angeblich in ein paar Jahren befürchten.

Einen Anlass für einen Frontalzusammenstoß auch noch künstlich zu erzeugen, will Scholz indes vermeiden. Dies aber, während der Überfall des ukrainischen Militärs ins russische Gebiet Kursk und die Diskussionen in NATO-Kreisen über eine Erlaubnis für Kiew, Ziele tief in Russland anzugreifen, dieses Vorhaben konterkarieren und bereits für sich genommen den Grad der Eskalation steigern.

Drittens könnte die beschriebene Kehrtwende zum Frieden hin bei Scholz' – und sei sie wie bisher auch lediglich in seiner Rhetorik zu beobachten – zudem in Erwartung der Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2024 eingetreten sein. Womöglich hat Kamala Harris ihren Konkurrenten Donald Trump bei den jüngsten Debatten beinahe ausgestochen. Dennoch bestehen vor dem Hintergrund der Fiaskos, die das Weiße Haus innenpolitisch ebenso wie außenpolitisch in der Ukraine wie im Palästina-Konflikt erlitten hat, hohe Chancen, dass Trump erneut im Präsidentensessel Platz nehmen wird.

Deswegen erklärte Scholz bei der Münchner Sicherheitskonferenz dann auch, dass Europa sich selber um seine Sicherheit zu kümmern hat. Und zwar unabhängig davon, wer in Washington nun den Sieg einfahren wird. Zumal ein Sieg von Kamala Harris die Bedrohungen beileibe nicht ausräumen wird, die im Zusammenhang mit einer Fortführung des Ukraine-Konflikts über Deutschland schweben.

Selbstredend wünscht Scholz keineswegs einen Frieden, der einkehren würde, nachdem Russlands Streitkräfte die Ukraine unangespitzt in den Boden gerammt hätten. Das stellt er auch öffentlich klar: Der Frieden dürfe nicht aufgezwungen werden oder erst nach einer Kapitulation einkehren.

Allerdings wird Scholz, sofern er vor die Wahl "Atomkrieg oder schlechter Frieden" gestellt wird, den "schlechten Frieden" wählen. Darum drängt der Bundeskanzler jetzt den kollektiven Westen wie den Rest der Welt zur Diplomatie, solange der Siedepunkt noch nicht erreicht ist.

Deutschland selbst ist als ein Vermittler bei etwaigen Friedensgesprächen völlig impotent. Deswegen gibt Scholz jedoch nicht auf und zieht munter alle weiteren Register:

Noch im April 2024 suchte Scholz, so wie eine ganze Reihe anderer europäischer Staats- und Regierungschefs, Chinas Staatschef Xi Jinping auf und bat ihn, Russland jegliche Hilfe zu verweigern und Moskau stattdessen unter Druck zu setzen. Damit setzten sie alle jedoch auf das falsche Pferd. Und nun erklärt Scholz, man müsse den Konflikt beilegen, indem man Russland an den Verhandlungstisch einlade. Die Vermittlerrolle könnte wiederum eine ganze Reihe Staaten übernehmen. Bei einem Auftritt im Bundestag im September erklärte Scholz, seine Regierung habe viel dafür unternommen, dass Friedenskonferenzen in Dänemark, Saudi-Arabien, auf Malta oder auch in der Schweiz stattfinden würden. Und jetzt wird in der EU eine weitere mögliche Konferenz diskutiert, weil die in der Schweiz sich als Reinfall entpuppte. Italiens Außenminister Antonio Tajani zum Beispiel unterstützt eine Vermittlerrolle Saudi-Arabiens.

Aber da ist noch mehr. Befand man in Berlin zuvor, man müsse ausschließlich Russland unter Druck setzen, so gibt es nach Kursk auch Fragen an die Ukraine. Nicht umsonst haben sich deutsche Ermittler ausgerechnet jetzt an die Sprengung der Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 erinnert und die Generalbundesanwaltschaft einen Haftbefehl gegen den Ukrainer Wladimir Schurawljow erwirkt. Ebenfalls nicht zufällig hat Scholz ausgerechnet in seinem Interview an die ZDF, als er erstmals nach langem Schweigen ernsthaft von einer friedlichen Beilegung des Ukraine-Konflikts sprach, gleichzeitig in Bezug auf die Sprengung von Nord Stream erklärt:

"Wir stehen dafür ein, dass nichts vertuscht und alles getan wird, um diejenigen, die das gemacht haben, zur Rechenschaft zu ziehen."

Kurzum, ganz gleich, wann und wo eine Friedenskonferenz stattfindet, bei der sich Vertreter Russlands und der Ukraine erstmals seit den Verhandlungen von Istanbul von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen: Olaf Scholz scheint doch sehr darauf zu bauen.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst am 15. September 2024 bei Wsgljad erschienen.

Kamran Gassanow ist ein russischer Journalist, Politologe und Blogger. Erhielt an der Universität Salzburg den Doktortitel für Politikwissenschaften. Leitender Dozent des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte des Journalismus an der Philologiefakultät der Russischen Universität der Völkerfreundschaft. Gassanows Interesseschwerpunkt sind Europastudien.

Er war beziehungsweise ist als politischer Beobachter und Korrespondent für die russischen Nachrichtenagenturen Rex und Regnum sowie die Medienhäuser Life, Sputnik und RT tätig.

Mehr zum Thema – Nord-Stream-Pipelines: Nach deutschen Vorwürfen nehmen Spannungen zwischen Berlin und Warschau zu