Von Andrei Restschikow
Russland setzt die Überarbeitung seiner Nukleardoktrin fort. Wie Dmitri Peskow, Pressesekretär des russischen Präsidenten, erklärt hat, erfordere die aktuelle Lage, die "als Konsequenz der Aktionen des Kollektiven Westens" entstand, eine Aktualisierung des Dokuments. Die Rede sei dabei von der Weigerung Washingtons und Brüssels, einen Dialog mit Moskau zu führen.
Der Westen führe außerdem "seinen Angriffskurs auf die Interessen und Sicherheit der Russischen Föderation" weiter und provoziere eine Fortsetzung des heißen Krieges in der Ukraine. Russlands stellvertretender Außenminister Sergei Rjabkow merkte an, dass die Korrektur des Dokuments auf Grundlage der Analyse der jüngsten Konflikte und der Aktionen des Westens im Rahmen der russischen Militäroperation in der Ukraine erfolge, meldet die Nachrichtenagentur TASS.
Der Diplomat fügte hinzu, dass die Korrekturen unmittelbar die "Grundlagen der Staatspolitik im Bereich der nuklearen Eindämmung" betreffen. Der Außenminister Sergei Lawrow bemerkte seinerseits Ende August, dass Russlands Nukleardoktrin "präzisiert" werde und dass Washington darüber "bestens unterrichtet" sei.
Militärexperten schlossen nicht aus, dass die Erneuerung des Dokuments eine Reaktion auf die Wiederaufnahme von vollwertigen Atomwaffentests durch die USA darstellt. Auch die wissenschaftliche Gemeinschaft hatte zu einer Korrektur der Doktrin aufgerufen. In einem Interview für die Zeitung Moskowski Komsomolez nannte der internationale Experte Sergei Karaganow das existierende Dokument "veraltet" und sagte, dass es der NATO-Erweiterung den Weg ebne.
Karaganows Einschätzung zufolge bestehe das Hauptziel eines solchen Dokuments darin, beim Gegner den Gedanken zu erzeugen, dass er im Fall einer Aggression unbedingt eine Antwort in Form eines Nuklearschlags erhalten werde. "Wenn Moskau die Formulierungen in der Doktrin nicht ändert und die 'Eskalationsleiter' nicht weiter aufsteigt, erwarten uns triste Perspektiven", merkte er an.
Dabei hatte Wladimir Putin noch im Juni erklärt, dass Russland über Änderungen seiner Nukleardoktrin nachdenke, weil potenzielle Gegner die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen herabsetzen. Er fügte hinzu, dass Moskau die Entwicklung seiner Nukleartriade "als Garantie der strategischen Eindämmung und der Kräftebalance in der Welt" fortsetze.
Einer der "Trigger" für solche Überlegungen könnte die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an das ukrainische Militär sein. Noch im Mai hatte Russlands Außenministerium bekannt gegeben, dass Moskau die F-16 in der Ukraine als Nuklearwaffenträger ansehen werde, weil diese Flugzeuge damit ausgerüstet werden können.
"Außerdem wurde im Dokument des Jahres 2020 im Punkt Nr. 19 unter den Bedingungen für einen Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland nicht die Reichweite und Ausrüstung der Russland angreifenden Raketen präzisiert. Es wurde nur erwähnt, dass es ballistische Raketen sein müssten", erklärt Oleg Kriwolapow, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für militärpolitische Studien des Instituts für USA und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.
In der Theorie könnte die Korrektur in der Aufhebung dieser Klausel bestehen, vermutet der Experte. Damit könnte die Rede von beliebigen Raketen sein (ballistische Raketen, geflügelte Raketen, Hyperschallraketen), die von beliebigen Trägerplattformen (boden-, luft- oder seegestützt) beliebiger Reichweite auf die Russische Föderation abgefeuert werden.
"Die gegenwärtige Nukleardoktrin Russlands zielt auf eine Eindämmung ab und ein Einsatz der Waffen wird als Reaktion zugelassen. Wenn der Angriff nicht mit Nuklearwaffen ausgeführt wird, muss es entweder eine existenzielle Bedrohung sein, die das Dasein des Staates gefährdet, oder ein Angriff auf nukleare Infrastruktur", erklärt Andrei Klinzewitsch, Leiter des Zentrums für Erforschung militärischer und politischer Konflikte.
"Heute aber stehen wir kurz davor, dass die USA dem ukrainischen Militär hochpräzise Raketen mit großer Reichweite vom Typ JASSM liefern, mit denen der Gegner unter anderem auch die nukleare Infrastruktur beschießen kann. Deswegen müssen wir von Eindämmung zu nuklearer Abschreckung übergehen, damit der Gegner nicht einmal auf den Gedanken kommt, Russlands Territorium mit Raketen großer Reichweite anzugreifen", meint der Experte.
Nach Ansicht von Klinzewitsch werde die Nukleardoktrin wahrscheinlich im Hinblick auf eine Herabsetzung der Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen revidiert werden, oder es wird präziser formuliert, wann Russland taktische Nuklearwaffen und wann strategische einsetzen kann.
Die Korrektur wird wahrscheinlich auch die zulässige Anzahl von Nuklearwaffenträgern und ihre Einsatzweisen betreffen. "Werden wir demonstrativ Atomwaffentests durchführen, um dem Gegner zu zeigen, dass wir es ernst meinen? All diese Einzelheiten, darunter im Hinblick auf eine Stationierung von Nuklearwaffen in der Arktis und im Weltraum, werden in den 'Grundlagen' berücksichtigt werden", vermutet der Experte.
Indessen erwartet der Nuklearexperte Alexei Anpilogow, eine "konservative" Revision der Doktrin. "Im Dokument wird kein Punkt über einen Präventivschlag wie bei den USA erscheinen. Das US-amerikanische Dokument lässt eine Menge schwammiger Interpretationen zu, die den USA erlauben, einen Erstschlag durchzuführen", erklärt Anpilogow.
"Die Eskalationsleiter hinauf"
Experten sind sich einig, dass Russland und die USA heute die aus 44 Stufen bestehende "Eskalationsleiter" hinaufsteigen. Dieses Modell wurde vom Nuklearstrategen Herman Kahn im Jahr 1965 entwickelt und dient der theoretischen Begründung für Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit von Nuklearkriegen unterschiedlicher Intensität. "Wir befinden uns ungefähr auf der 13. Stufe, das ist ein Risiko des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen im eingeschränkten Umfang. Die 44. Stufe ist die totale gegenseitige Vernichtung", erklärt Klinzewitsch.
Der Experte schließt nicht aus, dass die Länder in naher Zukunft eine Stufe aufsteigen werden, was aber noch keinen vollwertigen Konflikt mit der NATO bedeute. "Die Konzeption der NATO schließt einen eingeschränkten Atomkrieg auf dem Gebiet Europas nicht aus. Davon schrieb noch Henry Kissinger. Ein zerstörtes und brennendes Europa und eine Flucht von Unternehmen sowie Finanzen von dort würden die USA und Großbritannien sehr zufrieden machen", fügt der Experte hinzu.
Darüber hinaus hängt eine Revision der Nukleardoktrin unmittelbar mit neuen Risiken im Hinblick auf Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite zusammen. Der zugehörige INF-Vertrag hat seine Gültigkeit nach dem Austritt der USA aus dem Abkommen verloren. "Die USA beginnen, ihre Mittelstreckenkomplexe in Europa zu stationieren. Die Rede ist von Mehrzweckraketen SM-6 und Tomahawk-Marschflugkörpern, die unter anderem mit Nuklearsprengköpfen ausgerüstet werden können", bemerkt Klinzewitsch.
Für Russland ist es eine ernsthafte Bedrohung. "Dies erhöht die Risiken, einen Angriff zu verpassen, deswegen müssen wir natürlich reagieren und auch solche Systeme entwickeln. Wir haben auf Eis gelegte Projekte über eine Stationierung von Kalibr-Raketen in Transport- und Abschussbehältern sowie Technologien, die den Einsatz von Zirkon-Hyperschallsystemen auf einem bodengestützten Fahrgestell ermöglichen", fügt der Experte hinzu.
Kriwolapow stimmt zu, dass die Korrektur der Doktrin tatsächlich mit der Entscheidung der NATO über eine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa im Jahr 2026 zusammenhängen könnte. "Auch wenn die USA behaupten, dass dies keine Atomraketen seien und dass sie in der Region auf Rotationsbasis stationiert werden, wird Russlands Staatsführung wohl vom schlimmsten Szenario ausgehen. Tomahawk-Raketen in nuklearer Ausführung existierten bereits vor 2011, und Rotationen können sich in ständige Präsenz verwandeln, besonders im Fall einer Zuspitzung der Krise im Verhältnis zwischen Russland und der NATO", sagt der Experte.
Nach seinen Angaben hatte eine Reihe russischer Experten noch während der Auflösung des INF-Vertrags im Jahr 2019 davor gewarnt, dass Moskau im Falle einer Stationierung von US-Raketen in Europa zu einer Doktrin des Präventivschlags anstelle der bisher gültigen Doktrin des Antwortschlags übergehen könnte.
"Eine solche Änderung ist nicht ausgeschlossen, aber auch nicht garantiert. Möglicherweise wird lediglich die Klausel des Punktes Nr. 19 der 'Grundlagen' über ballistische Raketen aufgehoben, um Marschflugkörper und Hyperschallraketen, die die NATO in Europa zu stationieren plant, zu berücksichtigen", merkt Kriwolapow an.
Zu einer aktualisierten Nukleardoktrin könnte auch ein Punkt zur Beseitigung von Disparität bei der Raketenabwehr hinzugefügt werden.
"Die USA brachten ihre land- und seegestützten Komplexe vom Typ Aegis Ashore an unsere Grenzen heran. Eine Stationierung von Abfangraketen mit einer Reichweite von 2.500 Kilometern schränkt uns beträchtlich ein. Deswegen schließe ich nicht aus, dass unsere Radar- und Abfanganlagen wieder in Lateinamerika erscheinen könnten. Möglicherweise wird gegenwärtig eine Entsendung unserer Raketen dorthin diskutiert, eine neue Operation Anadyr", vermutet Klinzewitsch.
Anpilogow stimmt zu, dass die Verstärkung der Eskalation zwischen Russland und den USA zu einer gewissen Wiederholung der sowjetischen Operation Anadyr führen könnte, als im Jahr 1962 Atomwaffen heimlich nach Kuba geliefert und dort stationiert wurden. "Die Frage ist, wer das neue Kuba sein wird. Auch damals zwangen uns die USA zu dieser Operation, weil die UdSSR über ein sehr beschränktes Arsenal für Reaktionen verfügte, die Kräfte strategischer Zweckbestimmung steckten noch in ihren Anfängen", erinnert der Experte.
Nach seinen Angaben könnte ein unerwarteter Schritt angebracht sein, der die "Grundlagen der Staatspolitik im Bereich der nuklearen Eindämmung" nicht direkt betreffen, aber die Verwundbarkeit der USA zeigen wird. Doch nach Kriwolapows Meinung haben Russland und die USA bisher mehr Raum für Manöver auf vornuklearer Ebene, als es scheint, "und beiden Seiten ist es bewusst".
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad am 9. September.
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