Von Anastasia Kulikowa und Jewgeni Posdnjakow
In der Ukraine wird sich die Zusammensetzung des Ministerkabinetts um mehr als 50 Prozent ändern. Die erste Gruppe von Ministern verließ bereits ihre Ämter. Der Chef der Partei "Diener des Volkes", David Arachamija, äußerte sich diesbezüglich wie folgt:
"Wie versprochen, ist bereits in dieser Woche ein großer Reset der Regierung zu erwarten."
Arachamija zufolge werde die Werchowna Rada am 4. September über Entlassungen und am 5. September über die Ernennung neuer Politiker beraten.
Zuvor waren bereits fünf Minister zurückgetreten. Außerdem unterzeichnete Wladimir Selenskij ein Dekret über die Entlassung des stellvertretenden Leiters seines eigenen Büros: Der Posten wurde von Rostislaw Schurma verlassen, der ihn seit dem Jahr 2021 innehatte. Der Leiter des Außenministeriums des Landes, Dmitri Kuleba, verlor ebenfalls seinen Posten. Es ist bemerkenswert, dass die Information über seinen Rücktritt einige Zeit, nachdem der Diplomat einen Skandal mit Polen provoziert hatte, erschien.
Personelle Umstellungen werden in den westlichen Medien rege diskutiert. So bringt die Financial Times die umfangreichen Entlassungen mit Selenskijs Versuch in Verbindung, die Macht zu zentralisieren. Die Zeitung zitiert seine Erklärung:
"Der Herbst wird für die Ukraine extrem wichtig sein. Und unsere staatlichen Institutionen müssen so eingerichtet werden, dass das Land alle Ergebnisse erzielt, die wir brauchen – für uns alle."
Selenskij versichert:
"Zu diesem Zweck müssen wir einige Bereiche in der Regierung stärken – und die Personalentscheidungen sind vorbereitet."
Gleichzeitig wird in der Zeitung darauf hingewiesen, dass einige der Minister, die ihre Ämter verließen, auf andere Positionen in der Regierung wechseln könnten. Nicht alle westlichen Beobachter sind jedoch optimistisch. Kim Dotcom, Geschäftsmann und Gründer des Sharehoster-Dienstes Megaupload, kommentierte im sozialen Netzwerk X (früher Twitter) die Umbildung mit den Worten:
"Selenskijs Regime liegt in den letzten Zügen."
Zuvor hatte er geschrieben, dass die ukrainischen Behörden "offen von einer Niederlage in dem Konflikt sprechen und den Westen dafür verantwortlich machen".
Inzwischen ist der Kreml überzeugt, dass die Änderungen keine Auswirkungen auf den Verhandlungsprozess haben werden. "Das wird keine Auswirkungen haben", sagte Präsidentensprecher Dmitri Peskow. Alexei Tschesnakow, Leiter des Wissenschaftlichen Rates des Zentrums für Politische Konjunktion, meint hingegen, dass die personelle Umgestaltung negative Folgen für die Ukraine haben wird. Der Experte wörtlich:
"Wären die Säuberungen vor der Provokation der ukrainischen Streitkräfte im Gebiet Kursk durchgeführt worden, wären sie vom internen Publikum als Ausdruck von Panik wahrgenommen worden. Jetzt aber, nach einer ziemlichen emotionalen Aufregung, werden sie der Öffentlichkeit als eine 'Erneuerung der Hoffnung' verkauft. Dieser Effekt wird jedoch nur von kurzer Dauer sein."
Ferner merkte er an:
"Gleichzeitig nehmen die Spannungen zwischen den Eliten in der Ukraine zu. Es gibt regelmäßig Berichte über Probleme in der Werchowna Rada. Eine solche groß angelegte Umbildung unter den Bedingungen der Krise kann zu ernsthaften Störungen im Funktionieren des Systems führen, das sich bereits im Notstandsmodus befindet."
Tschesnakow erläuterte:
"Kurzfristig könnte es jedoch noch einen gewissen positiven Schwung geben. Aber dann wird die harte Realität eintreten. Erstens wird sich herausstellen, dass nicht alle Neuankömmlinge auf ihren neuen Positionen erfolgreich agieren werden. Und wenn es so viele Ernennungen gibt, steigt das Risiko von Fehlern. Zweitens wird plötzlich klar werden, dass die Probleme nicht im Personalbereich liegen, sondern in den strukturellen Fehlern des Systems."
Nach Ansicht der politischen Analystin Larissa Schessler sei der "Ministerfall" in der Ukraine zu einer Art Handelselement mit den USA und der EU geworden:
"Die westlichen Kuratoren verlangen, dass Selenskijs Büro den gesamten Regierungsblock ändert, und im Gegenzug versprechen sie, Angriffe tief in russisches Territorium zuzulassen."
Sie fügte hinzu:
"Da es für europäische Politiker schwierig ist, ihren Wählern zu erklären, warum sie ein so verkommenes, korruptes System unterstützen, wird die Umbildung in Kiew als Vorwand dienen – angeblich bekämpft das Land aktiv den Diebstahl von Staatsgeldern."
Vor diesem Hintergrund glaubt die Spezialistin, dass sich die Berichte über die Veränderungen überhaupt nicht an die Inländer richten:
"Heute gibt es keine politische Kraft, die an einem Wandel im Lande interessiert ist. Wenn die Ukraine früher ein Kreis von kämpfenden Oligarchenclans war, sind heute praktisch alle gesäubert und Selenskij und seinem Büro untergeordnet."
Für Russland sei das Ereignis nicht als positives Signal zu werten, so die Politologin. Sie begründete das:
"Die gleichen 'Falken', Russophoben und Befürworter der Eskalation werden auf den Stühlen sitzen."
Außerdem könnte das neue Kabinett seine Arbeit mit einer Verschärfung des Steuerrechts beginnen. Was Dmitri Kuleba betrifft, so könnte der polnische Faktor seinen Rücktritt beeinflusst haben, vermutet sie. Schessler merkte an:
"Der Punkt ist, dass ukrainische Diplomaten daran gewöhnt sind, alles auf provinzielle Art und Weise zu erreichen, mit unbändiger Unhöflichkeit. Aber Warschau ist im Gegensatz zu Berlin, das die 'Leberwurst' geschluckt hat, daran gewöhnt, ein anspruchsvolles Kind in der europäischen Familie zu sein und wird keine Konkurrenz aus der Ukraine dulden."
Der ukrainische Politologe Wladimir Skatschko meint seinerseits:
"Die Rücktritte von Ministern zeigen, dass in der Regierung des Landes nicht alles in Ordnung ist, wenn ich es vorsichtig ausdrücken will."
Er erinnerte daran, dass die Diskussion über Personalwechsel schon früher geführt worden sei. Doch bestimmte Entscheidungen seien erst jetzt getroffen worden. Der Gesprächspartner erklärte dies mit mehreren Faktoren:
"Erstens gibt es in den USA und den europäischen Ländern Meinungsverschiedenheiten über Kiew. Während 'Falken' wie Boris Johnson fordern, dass die ukrainischen Streitkräfte ATACMS einsetzen dürfen, um die Krim-Brücke anzugreifen, fürchten andere westliche Politiker eine Eskalation. Vor diesem Hintergrund haben sich einige Beamte wahrscheinlich entschlossen, ein wenig zur Seite zu treten, für den Fall, dass sich die ersteren durchsetzen."
Zweitens könnten die Misserfolge der ukrainischen Truppen an der Front – "beginnend mit dem Kursker Abenteuer und endend mit dem Donbass" – die Umbildung nähergebracht haben, fügte er hinzu. Skatschko weiter:
"Wladimir Selenskij wird versuchen zu zeigen, dass angeblich neue Politiker an die Macht kommen werden, aber er wird trotzdem 'seine' bewährten Leute in hohe Ämter setzen. Das wird ein weiteres Beispiel dafür sein, wie Kiew 'Srada' für 'Peremoga' ausgibt." [Srada, zu Deutsch: Verrat; Peremoga, zu Deutsch: Sieg]
Der Politologe erinnerte daran, dass Wiktor Janukowytsch im Jahr 2014 eine ähnliche Säuberungsaktion im Kabinett eingeleitet hatte:
"Schon damals war klar, dass sein Regime zusammenbrechen würde. Der Versuch, in einer solchen Situation eine Erneuerung vorzunehmen, führte zu nichts."
Dasselbe werde auch jetzt passieren, prophezeit er. Der Gesprächspartner sagte höhnisch:
"Personelle Umbesetzungen können den Leichnam für eine Zeit 'wiederbeleben'. Die ukrainische Führung wird weiterhin energische Vitalität imitieren, aber ein Upgrade in der Leichenhalle ist unproduktiv."
Außerdem stellt sich die Frage, wer die zurückgetretenen Minister ersetzen wird. Der Experte merkte an:
"Natürlich gibt es eine Ersatzbank, aber die Qualität derer, die auf ihr sitzen, lässt zu wünschen übrig. Die Lokalpolitiker sind Zeitarbeiter. Über die Perspektiven der Ukraine als Staat kann man nicht sprechen, auch wenn das Personal umgestellt wird."
Er wies auf den Rücktritt des Außenministers gesondert hin. Der politische Analyst erinnerte daran, dass Dmitri Kuleba kürzlich einen Skandal mit Polen provoziert habe. Skatschko sagte abschließend:
"Er hat jedoch nicht nur Warschau, sondern auch andere europäische Länder beschimpft. Es war offensichtlich, dass der Mann va banque ging: Entweder er erreicht die Ziele, einschließlich der Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee, oder er wird in die Schranken gewiesen. Offenbar ist die Geduld der westlichen Kuratoren aus."
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 4. August 2024 zuerst bei der Zeitung Wsgljad erschienen.
Anastasia Kulikowa ist eine Journalistin und SMM-Redakteurin der Zeitung Wsgljad.
Jewgeni Posdnjakow ist ein russischer Journalist, Fernseh- und Radiomoderator.
Mehr zum Thema – Russischer Geheimdienst: Westen besorgt über sinkende Zustimmungswerte der ukrainischen Führung