Von Rainer Rupp
Wir leben in einer Welt, in der immer weniger Menschen zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden können. Inzwischen glaubt Umfragen zufolge ein nicht unbeachtlicher Teil der US-Bevölkerung (knapp mehr als 20 Prozent im Durchschnitt und über 30 Prozent unter Wählern der demokratischen Partei) tatsächlich, dass Männer Babys kriegen können. Inzwischen scheint es auch vom Großteil als ganz normal akzeptiert zu werden, dass ein genetisch als Mann getesteter Boxer bei der Olympiade die Goldmedaille im Frauenboxkampf abfasst.
Wobei man sich allerdings fragt: Glauben die Leute das tatsächlich oder wagen sie einfach nicht mehr, ihre anderslautende Meinung öffentlich kundzutun.
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sich hochgeschätzte sicherheitspolitische Experten in führenden Veröffentlichungen die Welt so zurechtlegen, wie sie ihnen gerade gefällt oder wie sie vom Establishment gewünscht wird. Zur Bestätigung werden diese Artikel von Fachkollegen gelobt und von der Masse der Leserschaft als der Weisheit letzter Schluss angesehen.
Selbst die Produkte der prestigeträchtigen US-Zeitschrift Foreign Affairs spiegeln zunehmend diesen gesellschaftlichen Verfall wider. Davon zeugt auf markante Weise der jüngst erschienene Artikel mit dem Titel "Wie man Putin davon überzeugt, dass er verlieren wird: Der Westen muss zeigen, dass er in der Ukraine länger durchhält als Moskau."
Professor Dan Altman beginnt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass der Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten, es sich zur Aufgabe gemacht hat, Russland davon zu überzeugen, dass es diesen Krieg in der Ukraine nicht nur nicht gewinnen wird, sondern auch, dass der Gedanke, in der Ukraine länger auszuhalten als der Westen einfach lachhaft und unrealistisch sei. Warum das so sein soll, begründet der Herr Professor mit einer Mischung aus wirtschaftlichem Druck auf Russland, fortdauernder militärischer Unterstützung für Kiew und der Intensivierung des Informationskrieges um die öffentliche Wahrnehmung des Kremls sowohl im Westen als auch in der russischen Bevölkerung als auch in der öffentlichen Meinung im Rest der Welt. In diesem, so Altman, auf viele Jahre ausgelegten "Spiel", könne das verarmende und isolierte Russland nicht mithalten.
Dieser faktenresistente Professor mit Scheuklappensicht geht anschließend davon aus, dass Wirtschaftssanktionen weiterhin ein Hauptinstrument im Werkzeugkasten des Westens sind. Durch deren Beibehaltung und Verschärfung werde Russland allmählich stranguliert, indem sieder russischen Wirtschaft den Zugang zu internationalen Märkten, Finanzsystemen und kritischen Technologien verwehren. Russland, ein Land reich an natürlichen Ressourcen, das mit einer Wirtschaft stark von Energieexporten abhängt, befände sich dann in der Lage, seine wertvollsten Güter nicht mehr an seine traditionellen Kunden verkaufen zu können. Der Westen habe bereits jetzt dafür gesorgt, dass Russlands Öl und Gas, einst das Lebenselixier seiner Wirtschaft, nun eher eine Belastung als ein Segen seien.
Da muss man sich doch tatsächlich fragen, was der Professor da geraucht hat und in welcher Phantasiewelt dieser "respektierliche Akademiker" lebt. Und warum Foreign Affairs, das angeblich bekannt ist "für die Veröffentlichung fundierter Analysen und Beiträge führender Wissenschaftler, Politiker und Experten", einen derartigen Mist bringt, der sogar von Wirtschaftsdaten aus westlichen Fachzeitungen wie dem Wall Street Journal oder der Financial Times über die boomende russische Wirtschaft längst widerlegt ist.
Aber der gute Herr Professor hat für diesen Widerspruch eine Erklärung, die allerdings noch abenteuerlicher ist als sein Einstieg. Er behauptet, die westlichen Sanktionen seien "sorgfältig ausgearbeitet" worden, um einen sofortigen wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands zu vermeiden, der unvorhersehbare Konsequenzen für das Land und seine Nachbarn hätte haben können. Vielmehr sei es den USA bei den Sanktionen darum gegangen, eine anhaltende wirtschaftliche Belastung zu verursachen, die erst im Laufe der Zeit die Fähigkeit Russlands schwächen würde, seine militärischen Operationen in der Ukraine zu finanzieren und zugleich die innenpolitische Stabilität aufrechtzuerhalten. Die Botschaft der Sanktionen an Moskau sei klar: Ihr könnt vielleicht jetzt einen Krieg führen, aber könnt Ihr das auch noch, wenn Eure Wirtschaft in Trümmern liegt?
An dieser Stelle sollten wir uns an die "Sanktionen aus der Hölle", erinnern, wie Washington im ersten Enthusiasmus die "schärfsten und umfangreichsten" Maßnahmen aller Zeiten im Wirtschaftskrieg bezeichnet und deshalb den sofortigen Finanzkollaps Russlands erwartet hatte. Und als dann selbst die schlimmsten Sanktionen aller Zeiten nicht das gewünschte Ergebnis brachten, wurden zusammen mit der EU immer wieder neue, noch umfassendere Boykottmaßnahmen erlassen, bis zur aktuellen 13. Sanktionsrunde. In der oben beschriebenen Passage erkennt man schnell den idiotischen Versuch des führenden Wissenschaftlers Altman, seinem Publikum im Nachhinein das Versagen der westlichen Sanktionen als "sorgfältig ausgearbeitete" Maßnahmen zu verkaufen, deren Wirkung auf Russland angeblich erst langfristig sichtbar würden. Langfristig, wahrscheinlich aber schon mittelfristig, wird die Ukraine als Staat allerdings gar nicht mehr existieren.
Energieunabhängigkeit: Den Gashahn zudrehen
Auch in diesem Teil seines Artikels wird die Realität auf den Kopf gestellt. Da heißt es zum Beispiel, dass die wirkungsvollste Strategie der Vorstoß des Westens zur eigenen Energieunabhängigkeit von Russland gewesen sei. Jahrelang sei insbesondere Europa stark von russischem Gas abhängig gewesen, was Moskau erheblichen Einfluss verschafft habe. Der Krieg in der Ukraine habe jedoch einen raschen Wandel hin zu alternativen Energiequellen ausgelöst, wobei die Länder daran arbeiten, ihre Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu verringern.
Die Energiepolitik des Westens verfolge dabei zwei Ziele: Erstens schwäche sie die russische Wirtschaft, indem sie eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen abschneidet. Zweitens stelle sie sicher, dass Europa und andere westliche Nationen nicht länger anfällig für russische Energieerpressungen sind. Die Botschaft an Moskau sei klar: Wir brauchen Euer Gas nicht, und bald werden wir es nicht einmal mehr wollen. Mit dieser Botschaft beweist Altman, dass er auch vom Energiesektor nichts versteht und nur billige, grün angehauchte Propagandaphrasen als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft.
Militärische Unterstützung mit niemals endender Versorgungskette
In diesem Teil seiner Wunschfantasien malt Altman sich aus, wie der Westen die Schleusen der militärischen Hilfe für die Ukraine weiter geöffnet hält, während Sanktionen die russische Wirtschaft ersticken. Dabei freut er sich darüber, dass das gleiche Russland, das auf einen schnellen, entscheidenden Sieg gesetzt habe, nun einer gut bewaffneten und zunehmend erfahrenen ukrainischen Armee gegenübersteht, die von einer scheinbar endlosen Versorgungskette aus dem Westen unterstützt wird.
Die Strategie sei einfach: Die Ukraine kampffähig halten. Denn solange die Ukraine Widerstand leistet, kann Russland keinen Sieg für sich beanspruchen, so Altman. Der Fluss von fortschrittlichen Waffen, nachrichtendienstlicher Aufklärung in Echtzeit und militärische Ausbildung aus dem Westen stellten sicher, dass die Ukraine sich nicht nur verteidigen, sondern auch russische Angriffe zurückdrängen könne. Jede neue Waffenlieferung an die Ukraine sende eine klare Botschaft an Moskau: Euer Gegner verschwindet nicht, und wir (die USA) auch nicht.
Ein Professor der Politikwissenschaften, der so etwas schreibt, lebt entweder in einer aus ukrainischer Kriegspropaganda gezimmerten Traumwelt, oder er desinformiert sein Publikum absichtlich, was seine "Analyse" für die Foreign Affairs möglicherweise besonders willkommen macht.
Diplomatische Isolation: Für Russland die globale kalte Schulter
Doch da ist ein weiteres Thema, bei dem Professor Altman jeden Bezug zur Realität verloren hat, wenn er zum Beispiel schreibt, ein weiteres Instrument im Arsenal des Westens sei die gelungene diplomatische Isolation Russlands. Indem der Westen internationale Unterstützung gegen Russlands Handlungen in der Ukraine mobilisiert habe, werde Russland als aussätziger Staat behandelt. Diese Strategie sei überraschend effektiv, da selbst Länder, die traditionell neutral oder sogar freundlicher gegenüber Russland eingestellt waren, nun gezwungen seien, ihre Positionen zu überdenken.
Allerdings dürfte es dem Herrn Professor schwerfallen, die Tatsache, dass über 90 der wichtigeren Staaten des Globalen Südens im Oktober zum Gipfeltreffen der BRICS+ Gruppe ins russische Kasan kommen, als Beweis für Russlands diplomatische Isolation darzustellen. Deshalb wird das kommende, Weltgeschichte schreibende Großereignis in Kasan von Altman gar nicht erst erwähnt.
Stattdessen fährt er damit fort, dass man bei der Betrachtung von Russlands einst formidablem Einfluss auf der globalen Bühne nun feststellen müsse, dass sich russische Diplomaten zunehmend isoliert fühlen und sich an immer weniger Verbündeten wenden könnten. Internationale Organisationen und Foren, von den Vereinten Nationen bis hin zu den G20, seien zu Arenen geworden, in denen Russland Verurteilungen und der Zensur ausgesetzt ist. Die Strategie des Westens bestehe darin, Russland das Gewicht der globalen Missbilligung spüren zu lassen, in der Hoffnung, Moskau unter Druck setzen zu können, seinen Kurs in der Ukraine zu überdenken. Und mit dieser ebenfalls irrationalen Feststellung leitet Altman zum wichtigsten Thema seines Artikels über: zum Informationskrieg.
Informationskrieg: Der Kampf um die öffentliche Wahrnehmung
Laut Altman hat sich der Westen auch an der Führung eines ausgeklügelten Informationskrieges beteiligt, der sowohl auf russische als auch auf globale Zielgruppen gerichtet ist. Ziel sei es, Wahrnehmungen zu formen, Narrative zu kontrollieren und die Fähigkeit der russischen Regierung zu untergraben, den Krieg im In- und Ausland zu rechtfertigen. Die Ironie dabei sei, dass sich Russland, ein Land mit einer langen Geschichte von Propaganda und Informationskontrolle, nun in der Defensive im Kampf um die öffentliche Meinung befinde.
Westliche Medien, soziale Netzwerke und sogar direkte Messaging-Bemühungen seien Teile dieser Strategie. Durch die Hervorhebung der menschlichen Kosten des Krieges, die Aufdeckung russischer militärischer Misserfolge und die Feier der ukrainischen Widerstandsfähigkeit versuche der Westen, die russische Moral zu untergraben und Dissens innerhalb Russlands zu schüren. Die Botschaft an Moskau sei daher unmissverständlich: Nicht nur die Welt ist gegen Euch, sondern auch Euer eigenes Volk könnte sich gegen Euch wenden.
Diese Schlussfolgerung ist wirklich unterirdisch. Denn das ganze russische Volk steht heute fester denn je hinter seiner Regierung und selbst die Stimmen prowestlicher Liberaler sind angesichts des patriotischen Tsunamis, der das Land erfasst hat, verschwunden.
Das lange Spiel: Den Krieg überdauern
Zum Abschluss erklärt Altman, dass im Kern der Strategie des Westens eine einfache, aber mächtige Idee stehe: Russland zu überdauern. Der Westen wettet darauf, dass seine wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit, technologische Überlegenheit und globalen Allianzen die Fähigkeit Russlands, Krieg zu führen, überdauern werden. Dadurch werde Russland, ein Land mit einer langen Geschichte des Durchhaltens, nun herausgefordert, einen Krieg durchzustehen, den es nicht gewinnen kann.
Das lange Spiel des Westens bestehe aus einer Mischung aus strategischer Geduld und unnachgiebigem Druck. Durch die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine, die Aufrechterhaltung der Sanktionen und die weitere diplomatische Isolation Russlands ziele der Westen darauf ab, den Kampfeswillen Russlands allmählich zu erodieren. Diese Strategie, räumt Altman ein, sei nicht ohne Risiken, aber der Westen glaube, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Die Botschaft an Moskau ist klar: Wir haben die Ressourcen, die Verbündeten und die Ausdauer, dies durchzustehen – habt ihr das auch?
Natürlich sei keine Strategie ohne unbeabsichtigte Folgen. Die Bemühungen des Westens, länger auszuhalten als Russland, könnten Moskau zu verzweifelten Handlungen treiben, sowohl in der Ukraine als auch darüber hinaus. Das Risiko einer Eskalation – sei es durch Cyberangriffe, militärische Konfrontationen oder andere Mittel – sei allgegenwärtig, so Altman. Das Problem hierbei ist aber, dass der Westen, indem er versucht, länger auszuhalten als Russland, das Land ungewollt in die Enge treiben könnte, was den Konflikt noch gefährlicher mache.
Darüber hinaus beruhe die Strategie des Westens, länger auszuhalten als Russland, auf der Annahme, dass die westliche Einheit bestehen bleibt. Angesichts wirtschaftlicher Drucksituationen im Inland, steigender Energiekosten und politischer Spaltungen könnte die Entschlossenheit des Westens im Laufe der Zeit nachlassen.
Aber wie bei jeder Strategie sei auch hier das Ergebnis ungewiss. Die Bemühungen des Westens könnten erfolgreich sein, Russland schwächen und eine Änderung in Moskaus Vorgehen erzwingen. Sie bergen jedoch auch erhebliche Risiken. Am Ende geht es nicht nur darum, ob der Westen länger als Russland aushalten wird, sondern ob die Welt die Konsequenzen dieses langwierigen Konflikts ertragen kann. Die Zeit werde das zeigen. Aber eines sei sicher: Der Westen ist auf lange Sicht dabei und hofft, dass Russland es nicht sein wird, so Altman abschließend.
Allerdings setzt die bloße Idee, Russland zu überdauern, voraus, dass westliche Gesellschaften die Kosten dieses Konflikts länger tragen können als Russland – eine Wette, die nicht ohne "Unwägbarkeiten" sei.
Ganz am Ende gibt es also doch noch einen Hoffnungsschimmer von vernünftigem Menschenverstand bei dem Herrn Professor Altman. Trotzdem gibt es bei ihm keinen Hinweis darauf, dass er die ganze Tragweite der Katastrophen erkennt, die sich hinter dem Wort "Unwägbarkeiten" verstecken.
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Die Zeitschrift Foreign Affairs verbreitet routinemäßig mit der Autorität ihres Rufes als eine der einflussreichsten und angesehensten Publikationen im Bereich der internationalen Beziehungen und Außenpolitik nicht nur den Mist von Altman, sondern in stetem Strom weitere Wagenladungen davon aus der Feder anderer hoch angesehener "Experten". Von Gleichgesinnten wird Foreign Affairs für seine angeblich fundierten Analysen und Beiträge führender Wissenschaftler, Politiker und Experten hoch gelobt. Die Zeitschrift hat in der Tat den Ruf, Debatten über globale Themen zu prägen und sie wird häufig von Entscheidungsträgern und Akademikern zitiert. Infolgedessen hat Foreign Affairs weltweit erheblichen Einfluss in akademischen und politischen Kreisen.
Ich hoffe, das gibt einen kleinen Einblick in das Niveau der sicherheitspolitischen Erkenntnissuche der Herrschenden in Washington und erklärt deren abenteuerliche Politik.
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