Von Dmitri Bawyrin
"Aus unserer Sicht ist der Weg zum Frieden klar: Russland muss gehen. Aber Sie können diese Schlussfolgerung nicht als Vorbedingung für Verhandlungen betrachten."
In dieser Erklärung des neuen finnischen Präsidenten Alexander Stubb wird jeder hören, was ihm näherliegt. Die Ukrainer werden hören: "Russland muss weg", Russland wird hören, dass die Forderung nach einem Rückzug aus der Ukraine keine Bedingung mehr für die Aufnahme von Verhandlungen ist. Die NATO sollte das Gleiche verstehen – nämlich, dass sie sich zurückziehen und ihre Ansprüche verringern muss.
Im Interview, das Stubb der französischen Zeitung Le Monde gegeben hat, kann man jedoch viele Dinge, und sogar Anzeichen von Schizophrenie, erkennen.
Der finnische Präsident fordert die ukrainischen Behörden auf, ihre wichtigste Vorbedingung gegenüber Russland aufzugeben und sofort in Verhandlungen mit Moskau einzutreten. Eine solche Eile ist für einen Finnen untypisch.
Wie Wladimir Lenin zu sagen pflegte: Gestern war es zu früh, morgen wird es zu spät sein. Das letzte Lenin-Denkmal in Finnland wurde im Oktober 2022 als Teil des Bruchs mit Russland abgerissen. Die Finnen erklärten sich bereit, alle dadurch entstehenden Lasten zu tragen (und es waren aus geografischen Gründen viele Lasten), aber ihre Prinzipien nicht aufzugeben. Von Helsinki aus wurde Kiew kategorisch geraten, nicht aufzugeben und eine kompromisslose polnisch-baltische Linie in dem Konflikt einzuschlagen. Derselbe Stubb hat das auch geraten, aber nun macht er einen Rückzieher. Irgendetwas ist passiert.
Nach der Version des finnischen Präsidenten befinden sich die Ukraine und Wladimir Selenskij in einer viel günstigeren Lage als noch vor zwei Monaten. Als wolle er Selenskij selbst davon überzeugen, gibt sich Stubb voller Zuneigung:
"Selenskij spielt seine Karten richtig aus. Er wollte von Anfang an die Führung im Diskussionsprozess übernehmen. Jetzt ist der Ball auf der Seite Russlands.
Wir sind nicht mehr in der fast verzweifelten Situation, in der wir uns im Frühjahr befanden."
Kiew mag diese Situation ganz anders sehen. Zum Unglück für Stubb fand seine "Neuausrichtung" zur gleichen Zeit statt, als sich die russische Armee der Stadt Torezk näherte, einem der wichtigsten logistischen Zentren der ukrainischen Streitkräfte im Donbass. Hinter Torezk befindet sich eine kilometerlange Freifläche und der Zugang zum Hinterland der ukrainischen Gruppierung bei Tschassow Jar. Die ukrainische Verteidigung wurde auf solchen befestigten Städten wie Torezk aufgebaut, und ihr Verlust bedeutet den Zusammenbruch der Front.
Soviel zur "günstigeren Position" Kiews, etwas Anderes gab es nicht.
Das erinnert mich an die Anekdote über den Cowboy, der von Indianern in einen Hinterhalt gelockt wurde und ein Gespräch mit seiner inneren Stimme führte. "Warte, lass dich nicht entmutigen, es ist noch nicht vorbei", sagt die innere Stimme. – "Schieß auf den Krieger ganz rechts". Der Cowboy schießt, der Krieger fällt, die anderen rennen mit Tomahawks auf den Cowboy zu. "Nun ist es aber definitiv vorbei", sagt die innere Stimme.
Es ist nicht so sehr Stubb, sondern der Westen als Ganzes, der die Rolle einer solchen inneren Stimme für die Ukraine spielt. Ein ausgewachsener militärischer Konflikt hätte bereits 2022 zu für Kiew günstigen Bedingungen enden können, aber Washington, Brüssel und London rieten dazu, "den rechten Krieger zu erschießen". Und nun ist es definitiv vorbei.
Unter den westlichen Militäranalysten ist derzeit kaum jemand zu finden, der glaubt, dass die an Kiew gelieferten Waffen ausreichen, um den Konflikt zu wenden, geschweige denn die erklärten Ziele ("die Grenzen von 1991") zu erreichen. Erst nach der Erreichung dieser Ziele war Selenskij bereit, mit Moskau zu verhandeln (vor allem über Reparationen). Doch nun scheint es so, als ob Stubb ihm über den Kopf streichelt und sagt: Du solltest bescheidener sein. Besser wird die Lage Kiews schließlich nicht mehr.
Angesichts der kritischen Abhängigkeit Kiews von westlicher Hilfe sollte Selenskij aufhorchen, denn Stubb spricht kaum nur für sich selbst, sondern auch für den Mann in Washington, US-Präsident Joe Biden.
Egal wie wahnhaft Stubbs Aussagen sein mögen, wie zum Beispiel "die Situation der Ukraine hat sich verbessert". Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass er keine Wahnvorstellungen hat. Er ist ein gerissener und erfahrener Diplomat und Polyglott, und besitzt eine Vielzahl von Beziehungen und eine hervorragende Ausbildung. Er studierte sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien, vor allem aber in den Vereinigten Staaten, und zwar nicht nur an einer Universität, sondern auch an einer Highschool.
Politisch ist Stubb ein typischer osteuropäischer Politiker aus dem angelsächsischen Inkubator – antirussisch, pro NATO, globalistisch, aber klüger als die meisten. In seiner Außenpolitik ist er auf die USA fixiert. Verhandlungen ohne Vorbedingung für einen russischen Rückzug scheinen die neue Position des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums zu sein, die sie selbst nicht ganz so gerne verkünden.
Auch wenn Stubb keinen speziellen Anruf aus Washington erhalten haben sollte, in dem er gebeten wurde, auf Selenskij einzuwirken, weiß er doch, aus welcher Richtung der Wind weht. Die USA brauchen ein vorübergehendes Einfrieren des Konflikts.
Genauer gesagt, nicht die Vereinigten Staaten, sondern die Regierung der Demokratischen Partei im Weißen Haus. Der Plan, dem jetzt alles untergeordnet wird, besteht darin, Bidens Nachfolgerin in der Person von Kamala Harris in die US-Präsidentschaft zu hieven. Ihre Kampagne hat einen spektakulären Start hingelegt, Harris liegt in fünf der acht Schlüsselstaaten bereits vor Donald Trump, aber bis zu den Wahlen im November sind es noch mehr als drei Monate, und es bleibt noch viel Zeit, um die Favoriten auszutauschen, daher brauchen die Demokraten keine bösen Überraschungen.
Solche möglichen Überraschungen sind ein Anstieg der Öl- und Benzinpreise aufgrund der Eskalation regionaler Konflikte und ein Zusammenbruch der ukrainischen Front. Die erste ist deutlich wichtiger als die zweite: Bei Wahlen konzentrieren sich die US-Amerikaner vor allem auf ihr eigenes wirtschaftliches Wohlergehen und nicht darauf, wie es ihren Verbündeten geht. Allerdings hat Bidens Team selbst die Bedeutung der Ukraine-Krise zu einer "Frage von Leben und Tod" hochgepusht, sodass empfindliche Niederlagen der ukrainischen Streitkräfte unweigerlich sowohl Biden als auch Harris schaden werden.
Daher ist es besser, sich abzusichern und den Konflikt für eine gewisse Zeit einzufrieren. Das erfordert Verhandlungen, und Verhandlungen erfordern, dass Selenskij die Vorbedingung für den Abzug der russischen Truppen zurücknimmt. Nun überredet Stubb Selenskij, seine eigenen Ratschläge zu ignorieren.
Das alles ist natürlich kein Plan, es ist für einen Plan nicht tauglich. Das ist allerdings der Kurs, den die westlichen Eliten einzuschlagen gezwungen sind, denn die ukrainischen Streitkräfte sind überfordert, die Waffen gehen zur Neige, das Geld ist knapp, und Biden hat es bitter nötig. Vielleicht schlagen sie diesen Kurs ein, weil sie auf einen Erfolg hoffen, denn einige von ihnen haben ernsthaft mit einer militärischen Niederlage der Russischen Föderation gerechnet.
Wie der russische Präsident Wladimir Putin jedoch bereits betont hat, wird die Offensive der russischen Truppen im Falle der Aufnahme von Verhandlungen für die Dauer der Gespräche nicht gestoppt werden.
Jeder hat seine eigenen besonderen Umstände – Biden, Stubb und Selenskij. Jeder möchte die Risiken für sich und sein Team verringern. Aber der Konflikt ist so weit fortgeschritten, dass alle diese Interessen von Russland nicht berücksichtigt werden können. Die russische Armee hat sich nicht auf den Weg nach Torezk gemacht, um Kamala Harris eine Pause zu gönnen oder Donald Trump zu unterstützen.
Der Preis für den Frieden ist bekannt, wurde von Wladimir Putin geäußert und wiederholt bestätigt: Die Ukraine muss mindestens fünf Regionen, die sie als ukrainisch betrachtet, als Teil Russlands anerkennen. Wenn Kiew noch nicht bereit ist, dies zu akzeptieren, werden die Kämpfe weitergehen. Wenn dies zu einer Kette von Ereignissen führt, die dazu führen, dass Trump wieder Präsident der Vereinigten Staaten wird, sollte er ebenfalls wissen, dass die Kämpfe nicht seinetwegen geführt wurden.
Aber im Großen und Ganzen hat Stubb recht: Die ukrainischen Behörden werden sich auf jeden Fall von ihren früheren Forderungen an Moskau verabschieden müssen (nur viel weiter, als er meint), außerdem ist die Lage der ukrainischen Streitkräfte derzeit zwar nicht gut, aber besser, als die Zukunft verspricht. Jene Zukunft, in der "alles schon vorbei" sein wird.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 1. August 2024 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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