Am 9. Juli hat die Financial Times einen offenen Brief von westlichen Akademikern und Diplomaten veröffentlicht, in dem sie zum Frieden in der Ukraine aufrufen. Mitverfasser des Briefs war der britische Professor Richard Sakwa. Die russische Nachrichtenagentur RBC sprach mit dem Professor für russische und europäische Politik an der University of Kent über die Parameter einer möglichen Waffenruhe und die Rolle der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union in diesem Prozess.
Auf die Frage, wie die Waffenruhe organisiert werden sollte, antwortete der Experte, dass derzeit Gespräche über die Möglichkeit geführt würden, eine Pufferzone zu schaffen, die mindestens 50 Kilometer von der Frontlinie auf beiden Seiten entfernt sei. Der Professor erläuterte das wie folgt:
"Dies ist notwendig, um eine Wiederholung dessen zu vermeiden, was im Donbass geschah, als Donezk und Lugansk – insbesondere Donezk – acht Jahre lang bis 2022 bombardiert wurden."
Sakwa betonte, dass eine internationale Überwachung notwendig sei. Aber die OSZE allein könne diese Aufgabe nicht erfüllen. Nach Ansicht des Professors seien dazu die indischen Streitkräfte geeignet, denn "sie haben Erfahrung mit friedenserhaltenden Maßnahmen und gelten als ziemlich neutral."
Was die Dauer der Waffenruhe anbelangt, so würde Sakwa sie ohne ein festes Enddatum vorschlagen, damit während des Prozesses Entscheidungen getroffen werden können. Seiner Ansicht nach könnten die Verhandlungen in Istanbul als Modell dienen:
"Natürlich ist eine Waffenruhe der erste Schritt. Deshalb schlagen wir vor, mit einer eingeschränkten Waffenruhe zu beginnen, denn es wird viel schwieriger sein, sich auf eine unbefristete und dauerhafte Waffenruhe zu einigen."
Eine Waffenruhe, wenn sie zu einer dauerhaften Einstellung der Feindseligkeiten führe, müsste sicherstellen, dass die Ukraine nicht länger als Aufmarschbasis gegen Russland genutzt werden könnte, hieß es. Zugleich wolle Kiew von Russland Garantien, dass der Krieg nicht einfach nach einiger Zeit wieder aufgenommen werde, präzisierte der Politologe.
In dem Brief ruft Sakwa zu Gesprächen zwischen den USA und Moskau über einen "neuen Sicherheitspakt" auf, der die Sicherheitsinteressen sowohl der Ukraine als auch Russlands berücksichtigen würde. RBC-Journalisten fragten, ob dies bedeute, dass der Friedensprozess von den USA und nicht von der Ukraine initiiert werden solle.
Der Professor erklärte, der Konflikt bestehe aus drei Ebenen. Die erste sei der interne Konflikt in der Ukraine, der Bürgerkrieg. Die zweite sei die europäische Ebene, weshalb das von Russland im Dezember 2021 vorgeschlagene Abkommen über die europäische Sicherheit, das auf den Ideen des russischen Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew aus den Jahren 2008 und 2009 aufbaue, so wichtig sei, so Sakwa. Die dritte Ebene sei "offensichtlich" Moskau – Washington, meint der Experte:
"Die USA haben immer noch das Sagen. Das ist einer der Gründe, warum in Istanbul nichts geklappt hat, obwohl die Seiten einer Einigung sehr nahe waren, wie uns der Vorsitzende der Fraktion Diener des Volkes in der Rada, Dawid Arachamija, und Wladimir Putin mitteilten."
Richard Sakwa weist darauf hin, dass die NATO am 24. März 2022 eine außerordentliche Sitzung abgehalten und den Abbruch der Verhandlungen gefordert habe. Dies sei schließlich während des Besuchs von Boris Johnson in Kiew am 9. April festgelegt worden, so der Politologe. Weiter hieß es:
"Deshalb müssen wir alle drei Ebenen vereinen: die globale (Moskau-Washington), die europäische und die innerukrainische. Denn wir wissen, dass die Nationalisten oder die sogenannten Anti-Kapitulanten jede Führung in Kiew angreifen werden, die auch nur von Frieden spricht."
Zugleich ist Sakwa empört darüber, dass niemand sich für die Meinung der Europäischen Union – Deutschland, Frankreich, Italien und andere wichtige europäische Länder – interessiere. Das sei demnach tragisch, denn es gehe um einen großangelegten bewaffneten Konflikt auf dem europäischen Kontinent, und die europäischen Mächte spielten bei grundlegenden Entscheidungen über Krieg und Frieden nur eine untergeordnete Rolle. Dabei könnte demnach die Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union eines der Elemente für eine friedliche Lösung sein. Sakwa weiter:
"Die Europäische Union war einst ein Friedensprojekt. Das ist sie nicht mehr, aber vielleicht findet sie ihre neue Berufung im Wiederaufbau der Ukraine. Vielleicht könnte die EU die Beziehungen zu Russland wiederherstellen."
Früher oder später müssten alle Seiten Verhandlungen aufnehmen, erklärte Sakwa und fügte hinzu:
"Es sei denn, der Dritte Weltkrieg bricht aus und der gesamte europäische Kontinent wird zerstört, was durchaus möglich ist, wenn diese Eskalation und dieser Wahnsinn weitergehen."
Auch zur Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán äußerte sich der Experte. Dabei handele es sich um die echte Diplomatie, meint Sakwa. Ferner wies er darauf hin, dass auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico und einige andere europäische Staats- und Regierungschefs diese diplomatischen Bemühungen öffentlich oder zurückhaltend begrüßt hätten. Einige von ihnen waren aber auch unzufrieden, die Sakwa aufzählte:
"Aber, wie Sie wissen, haben Ursula von der Leyen und Kaja Kallas und alle anderen derzeitigen und künftigen Leiter der Europäischen Kommission Orbáns Vorgehen scharf verurteilt. Meiner Meinung nach ist das Wahnsinn: Wie kann man über Diplomatie schimpfen?
Der Politologe sieht jedoch wenig Chancen für Orbáns "Friedensmission", denn die Regierung Bidens und die britische Regierung "sind an einer Eskalation des Krieges bis zum letzten Ukrainer interessiert". Aber es gibt auch andere Stimmen. Donald Trump erklärte, er sei der Meinung, dass der Konflikt beendet werden müsse. Laut Sakwa versuchten aus diesem Grund die NATO und die Europäische Union, verschiedene militärische und andere Abkommen vor Trump zu "sichern".
Die internen politischen Widersprüche in den Vereinigten Staaten seien so stark, dass jegliche Verhandlungen als Zugeständnis empfunden würden. Die Europäische Union denke genauso und die ukrainische Neonazi-Bewegung behaupte dasselbe. Jedoch sei in der Ukraine ein deutlicher Meinungsumschwung zugunsten von Verhandlungen feststellbar. Auch in den Vereinigten Staaten würden die Stimmen einer kleinen, aber immer noch bekannten Lobby lauter, zu der auch der Senator von Ohio, James David Vance, und eine Reihe anderer Personen aus dem Trump-Lager gehören. Dabei betont Sakwa, dass in Russland nur sehr wenige Menschen an einer Verlängerung des Krieges interessiert seien, auch wenn es eine gewisse düstere Entschlossenheit gebe, nicht besiegt zu
Mehr zum Thema – Warum Viktor Orbán den Friedensnobelpreis verdient