Von Wladislaw Sankin
Am 12. Dezember 1979 kündigte die NATO die Aufstellung von 198 neuen, mit Atomsprengköpfen bestückten Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und 464 Marschflugkörpern vom Typ BGM-109G Gryphon in Westeuropa an. Sie begründete diesen Schritt als Modernisierung und Ausgleich einer Lücke in der atomaren Abschreckung, die die Stationierung der sowjetischen SS-20 bewirkt habe. Gleichzeitig verlangte sie Verhandlungen der beiden Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen (Intermediate Nuclear Forces – INF, mit einer Reichweite zwischen 1.000 und 5.500 km) in Europa. Dieser Akt ging in die Geschichte als "NATO-Doppelbeschluss" ein.
Heute berichten deutsche Medien mit einer verblüffend ähnlichen Begründung – "Die Lücke in der Abschreckung schließen" – über die gemeinsame Erklärung der US- und der Bundesregierung "zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland". Die Rede ist zwar nur von konventionellen Waffen, doch die Parallelen zum historischen NATO-Bechluss vor 54 Jahren ist schwer zu übersehen. Zumindest erwartet die deutsche NATO-freundliche Presse, dass Kritiker der Militarisierung Deutschlands, wie etwa Sahra Wagenknecht, auf diesen Vergleich zurückgreifen.
In einer Erklärung, die am Mittwochabend auf den Regierungsseiten veröffentlicht wurde, heißt es, beginnend im Jahr 2026 und als Teil einer Planung zur künftigen dauerhaften Stationierung würden die USA zeitweilig weitreichende Waffensysteme in Deutschland bereitstellen. Die Rede ist von weitreichenden Flugabwehrraketen vom Typ SM-6, einer landgestützten Version des Marschflugkörpers Tomahawk sowie derzeit noch in Entwicklung befindlichen Hyperschallwaffen. Die beiden erstgenannten hat die US-Armee in einem System namens Typhoon zusammengeführt. Spiegel schreibt in diesem Zusammenhang von "Langstreckenwaffen". Weitere Details liefert dazu die Süddeutsche Zeitung (SZ).
Das Typhoon-System kann auf dem Landweg oder durch die Luft schnell verlegt werden. Die USA haben im Zuge einer Übung eine komplette Typhoon-Batterie über fast 13.000 Kilometer mit C-17-Militärtransportern auf die Philippinen geflogen. Die SM6-Flugabwehrrakete kann Ziele in bis zu 250 Kilometer Entfernung bekämpfen und wurde primär entwickelt, um feindliche ballistische Raketen abzufangen – solche stellen nach Meinung der NATO eine zentrale Bedrohung des NATO-Gebiets durch Russland dar. Die Reichweite des Marschflugkörpers Tomahawk wiederum beträgt nach US-Angaben bis zu 2.500 Kilometer, er kann damit Ziele tief im europäischen Teil Russlands angreifen.
Bei der genannten Hyperschallwaffe handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) der US-Armee, auch Dark Eagle genannt, die sich in der finalen Phase der Erprobung befindet. Dabei handelt es sich um eine ballistische Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von 3.000 Kilometern, die noch dieses Jahr regulär in Dienst gestellt werden soll.
Die Gespräche über die Verlegung dieser Waffen nach Deutschland wurden laut SZ "auf Wunsch der Deutschen" über geheime Wege geführt, wobei die Fraktionen der Ampelkoalition und der Union über laufenden Verhandlungen zwischen Washington und Berlin "im Bilde" waren. Gerüchte darüber gibt es seit Jahren. So hatten im November 2021 – noch Monate vor Beginn der russischen Militäroperation – britische Medien die Nachricht verbreitet, dass die USA im Rahmen der Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos in der Wiesbadener Clay-Kaserne atomar bestückbare "Dark Eagle"-Hyperschallraketen stationiert hätten. Die 56. Einheit ist der im April 2021 aktivierten Multi-Domain-Taskforce (MDFT) unterstellt, die sich aus Raketenwerfer- und Flugabwehreinheiten sowie Einheiten mit Raketen und Marschflugkörpern zusammensetzt.
Als Reaktion auf die Verlegung der Typhoon-Batterie auf die Philippinnen erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow im Mai, dass Russland dann gezwungen sei, die "einseitigen Selbstbeschränkungen" aufzugeben, die es sich auferlegt habe, seit die USA den Vertrag über Mittelstreckenraketen (INF) von 1987 verlassen hätten.
Nach dem SOZ-Treffen am 4. Juli erinnerte auch der russische Präsident Wladimir Putin daran, dass Moskau '"aus industrieller Sicht" bereit sei, im Falle der Stationierung von US-Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen in jeder Region der Welt Spiegelmaßnahmen zu ergreifen. Russland sei bereit, mit der Produktion der jeweiligen Systeme zu beginnen, betonte er.
Dass der neue Rüstungswettlauf und die erneute Militarisierung des europäischen Raums viele Risiken mit sich bringt, ist in Deutschland bekannt. Wenn sie atomar bestückt werden, erhöhen gerade Mittelstreckenraketen das Risiko von Fehleinschätzungen, schreibt die SZ. "Weil ihre kurzen Flugzeiten eine Reaktion binnen weniger Minuten erforderlich machen", gelten sie besonders destabilisierend. Diese Gefahr führte im Endeeffekt zu dem zwischen Michael Gorbatschow und Ronald Reagan im Jahre 1987 geschlossenen INF-Vertrag, der von den US-Amerikanern 2019 einseitig gekündigt wurde.
"Dies ist eine schwerwiegende Eskalation, auch wenn sie erwartet wurde, insbesondere nach dem Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag", sagte Igor Schrobtak, leitender Forscher im Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada im Gespräch mit der russischen Zeitung Wedomosti. Er betonte, dass das Auftauchen dieser Waffen die potenzielle Bedrohung für Russland erhöhe.
Laut dem russischen Sicherheitsforscher Dmitri Stefanowitsch sei eine nukleare Umrüstung der angekündigten US-Waffen in absehbarer Zeit zwar theoretisch möglich, aber angesichts der Probleme in der Umsetzung "wenig wahrscheinlich". Dennoch erinnerte er und andere russische Experten an den NATO-Doppelbeschluss des Jahres 1979.
"Es scheint, dass die Amerikaner und zum Teil auch ihre Verbündeten davon überzeugt sind, dass der sogenannte NATO-Doppelbeschluss all ihre Probleme in den 1980er Jahren perfekt gelöst hat (und nicht zu der Raketenkrise in Europa geführt oder die Welt an den Rand eines Atomkriegs gebracht hat, zum Beispiel 1983)", sagte Stefanowitsch gegenüber der Zeitung Kommersant. Er deutete indes auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem heutigen Russland und der Sowjetunion hin. Die internen politischen Prozesse in der UdSSR seien damals völlig anders gewesen. Auch die Abrüstungsagenda habe in der sowjetischen Außenpolitik traditionell eine wichtige Rolle gespielt.
Der Versuch des von den USA geführten Westens, jetzt eine ähnliche Kombination zu spielen, und noch dazu gegen zwei sehr unterschiedliche Gegner (Russland und China) in einem völlig anderen internationalen militärisch-politischen und wirtschaftlichen-sozialen Umfeld, werde wahrscheinlich niemandes Sicherheit erhöhen, so der Experte. Ähnlich äußerte sich der bekannte Militärexperte, Generalleutnant der Reserve Jewgeni Buschinski.
"Offenbar hoffen die USA und ihre Verbündeten, die Geschichte des NATO-Doppelbeschlusses aus der Zeit des Kalten Krieges zu wiederholen. Aber das wird jetzt nicht mehr funktionieren. Die Bedingungen sind völlig anders: technologisch, politisch und psychologisch", sagte er.
Spitzendiplomat: "Militärische Antwort"
Ex-Duma-Politikerin und Politikexpertin Elena Panina erklärte auf ihrem Telegram-Kanal: Angesichts des Wegfalls des Warschauer Pakts, des Vorrückens der NATO in die Nähe unserer Grenzen und des Hineinziehens der Ukraine, Georgiens und Moldawiens in die westliche Einflusssphäre seien die derzeitigen geopolitischen Bedingungen für Russland um Größenordnungen schlechter als in den 1980er Jahren.
"Seien wir ehrlich, rein technische, symmetrische Maßnahmen werden dieses Problem nicht lösen – sie werden die Flugzeit der in Deutschland stationierten NATO-Raketen für Russland nicht verlängern. All dies wird die aktuellen Ultimaten Russlands an die USA und die NATO im Dezember 2021 drastisch aktualisieren", so Panina.
Damals wies die russische Führung NATO und die USA auf eine "militär-technische" Antwort Moskaus hin, falls die russischen Forderungen zum Rückzug der NATO von den russischen Grenzen ignoriert würden. Der russische Einmarsch in die eine NATO-Mitgliedschaft anstrebende Ukraine folgte. Ganz ähnlich klang nun der russische Vize-Außenminister Sergei Rjabkow, als er von einer "militärischen Antwort" Russlands sprach.
"Wir werden natürlich analysieren, um welche spezifischen Systeme es sich handelt. Ohne Nerven, ohne Emotionen werden wir vor allem eine militärische Antwort auf die neue Bedrohung erarbeiten", sagte Rjabkow wortwörtlich am Rande des 10. parlamentarischen BRICS-Forums.
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