Die größte Schwäche der NATO liegt bloß

Im Vorfeld ihres Jubiläumsgipfeltreffens in Washington ist die NATO von ihrem erklärten Ziel eines Sieges über Russland genauso weit entfernt wie von der Einigkeit. Mögliche Erweiterungen der Allianz würden ihre inneren Probleme nur noch verstärken.

Von Wiktorija Nikiforowa

Am heutigen Dienstag wird es in Washington, D.C. heiß hergehen, denn das NATO-Gipfeltreffen wird mit einer Feier zum 75-jährigen Bestehen dieser Allianz beginnen. Im zurückliegenden Dreivierteljahrhundert hat sich an der Zielsetzung des Blocks nichts geändert: Er wurde ursprünglich gegen die Sowjetunion gegründet und kämpft nun praktisch offen gegen Russland.

Nach dem "Selbstmord" der militärischen Organisation des Warschauer Vertrages galt die NATO lange als mächtigster Militärblock der Welt. Tatsächlich hat diese Allianz in den vergangenen dreißig Jahren Hunderttausende getötet, hat Millionen zu Flucht und Elend verdammt und mehrere erfolgreiche souveräne Staaten zerstört, an deren Stelle heute Ruinen und Kolonien stehen. Dennoch wurde das Hauptziel seiner Existenz nie erreicht – Russland ist nicht von der Weltkarte verschwunden.

Darüber hinaus ist Russland heute das einzige Land der Welt, das es sich erlaubt, offen gegen die westliche Hegemonie zu rebellieren und seine Ziele auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Brennende NATO-Panzer auf den Feldern des Donbass zeigen der ganzen Welt, dass die Allianz alles andere als allmächtig ist und besiegt werden kann.

Trotz der mehrfachen Hysterie seiner westlichen Partner holte sich Russland in den vergangenen zehn Jahren die Krim und Neurussland zurück, und die NATO konnte dem militärisch nichts entgegensetzen. Gleichzeitig wurden die größten Schwächen des Nordatlantikblocks im Verlauf der speziellen Militäroperation  offengelegt.

Das Gipfeltreffen in Washington, D.C. markiert einen Versuch der NATO, Russland in einen Zangengriff zu nehmen und es von Westen und Osten her einzukreisen. Dafür kommen zu dem Treffen Staatsoberhäupter von Ländern, die so weit vom Nordatlantik entfernt sind wie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Die Allianz baut mit ihnen eine militärische Zusammenarbeit auf, um wie Russland auch China einzukreisen. Die Frage bleibt offen, ob die NATO dadurch stärker wird.

Der US-amerikanische Politologe Daniel Treisman stellt in seinem Artikel in der Zeitschrift Foreign Policy ein interessantes Muster fest. Früher hatte "Uncle Sam" andere Länder nicht mit der Peitsche, sondern mit Zuckerbrot unter seinen Nuklearschirm gelockt. Seit Anfang der 1990er Jahre kam es mit NATO-Beitritten zur drastischen Kürzung der Verteidigungsausgaben und zu einem raschen Abbau des Militärs und des militärisch-industriellen Komplexes.

Der Kontrast zum Kalten Krieg war frappierend. Während die Mitglieder der Allianz während der Konfrontation mit der Sowjetunion durchschnittlich 3,7 Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgaben, begannen diese Ausgaben seit 1989 zu sinken und erreichen heute nicht einmal zwei Prozent. Die Personalstärke der NATO-Truppen hat sich fast halbiert: von 5,8 Millionen im Jahr 1989 auf 3,5 Millionen im Jahr 2020. Bei den neuen Bündnismitgliedern sank die Zahl der Panzer in den zehn Jahren nach ihrem Beitritt um 75 Prozent, der Kampfflugzeuge um 35 Prozent und der weitreichenden Artillerie um 59 Prozent.

Paradoxerweise führte die Erweiterung der NATO zu ihrer Entwaffnung. Die baltischen Republiken traten dem Block im Jahre 2004 bei und hatten zusammen ganze drei Panzer. Zehn Jahre später hat sich an dieser Zahl nichts geändert.

Dadurch konnten die USA seit 1989 mittlerweile sechzehn Länder in die Allianz zerren. Der Bevölkerung der früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages und der UdSSR redeten sie ein, dass dies keine Bedrohung für sie sei und dass sich keine Kriege abzeichnen würden. Im Gegenteil: eine Senkung der Militärausgaben samt dem Nuklearschirm von "Uncle Sam" würden Frieden, Freundschaft und Wirtschaftswachstum bedeuten.

Jetzt hat sich die Situation radikal verändert. Russland ist als globaler Akteur zurückgekehrt, und nun erscheint eine NATO-Mitgliedschaft nicht mehr so anziehend wie eine Wohltat, sondern wie eine tödliche Gefahr. Die Mitgliedsländer müssen zu den Militärausgaben des Kalten Krieges zurückkehren – obwohl solche Ausgaben ihr gesamtes Wirtschaftswachstum aufzehren und viele Länder in die roten Zahlen treiben werden. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges wird die Wehrpflicht wiederbelebt, das heißt, die Mitglieder der Allianz und deren Verbündete werden "eingeladen", bis zum eigenen Tod gegen Russland zu kämpfen.

Mittlerweile häufen sich auch große Fragen zum Nuklearschirm von "Uncle Sam". Der Favorit im US-Präsidentschaftswahlkampf Donald Trump behauptet offen, dass er damit einen Handel beginnen werde – den Schirm wird nur den Ländern gewährt, die die größten Beiträge zum Bündnisfonds der NATO leisten werden, doch selbst das ist noch unsicher. Vielleicht will Trump die USA ganz aus der Allianz zurückziehen.

Zweifel am US-amerikanischen Nuklearschirm über Europa gab es schon immer. Doch in den friedlichen 1990er Jahren konnten die Bürger etwa Ungarns bei ihrem Beitritt zur NATO nicht vorstellen, dass sie den eines Tages brauchen würden und dass man sie irgendwann für Kiew in den Tod treiben will. Heute ist das eine sehr reale Option.

Deshalb kommen nun in Europa rechte Kräfte an die Macht, die der NATO skeptisch gegenüberstehen, und Ungarns Regierungschef reist nach Kiew und nach Moskau, um die Konfliktparteien zu Verhandlungen zu bewegen. Doch gleichzeitig reißen sich Polen und die baltischen Staaten von der Leine Washingtons los und drängen den ganzen Kontinent in einen Krieg gegen Russland. Die Spaltung innerhalb der Allianz ist offensichtlich, egal wie laut sie von "beispielloser Einigkeit" schreien.

Die Suche nach neuen Verbündeten im Osten wird die NATO noch zerbrechlicher machen, innere Widersprüche anhäufen und zum Siedepunkt bringen. Die Bevölkerungen Südkoreas, Japans und Australiens können den Flirts ihrer Staatsführer mit der Allianz noch mit Gleichgültigkeit zusehen, allerdings nur bis zur ersten realen Verschärfung der Lage. Es mag immer willkommen sein, Vorteile durch die NATO zu ernten, doch ein Narr wäre, wer für sie sterben will. Das jüngste Abkommen Russlands mit der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) und seine Beziehungen zu China lassen alle NATO-Initiativen im Osten wie reinen Selbstmord erscheinen.

"Wenn Putin erkennt, dass die Entschlossenheit des Westens gering ist, die eigene Vernichtung wegen der Ukraine zu riskieren, wird ihm das die Chance geben, das riskante Spiel des Balancierens am Rande des Krieges zu gewinnen. Die entscheidende Frage heute lautet, ob die Allianzmitglieder – und zwar deren Bevölkerung, und nicht die Eliten – bereit sind, den Dritten Weltkrieg für die Ukraine auszufechten", schreibt Treisman in Foreign Policy.

Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Bevölkerung in diesen Ländern keineswegs bereit ist, in einem nuklearen Inferno unterzugehen. Aber einige Staats- und Regierungschefs wollen unbedingt kämpfen. Und diese innere Spaltung ist die größte Schwachstelle der NATO.

Und was ist mit der Ukraine? Deren Aussichten sind düster. US-Experten wetteifern darum, ihre Staatsführung zu beschwören, dieses Land nicht in die NATO aufzunehmen. Und das jüngst unterzeichnete zehnjährige Sicherheitsabkommen zwischen den USA und der Ukraine könnte laut denselben Experten "gleich am Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten 2025 wie Rauch verfliegen". Ist es zynisch? Freilich, doch was wollen Sie, solche Versprechen bedeuten noch keine Taten.

Am 9. Juli wird es in Washington, D.C. viele Reden und Fanfarenklänge geben. Aber wenn man sich nur die Weltkarte anschaut, wird offensichtlich, dass diese Allianz keinen Grund zum Feiern hat. Auf den Feldern der Ukraine erleidet der einst unbesiegbare NATO-Block O eine weitere schmähliche und schmerzhafte Niederlage gegen Russland.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 8. Juli 2024.

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