Von Pjotr Akopow
Viktor Orbán hatte den Kreml noch nicht erreicht, da reagierte Europa schon schnell mit Kritik an seiner Reise nach Russland. Das EU-Parlament erklärte:
"Der Premierminister hat vom EU-Rat kein Mandat für einen Besuch in Moskau erhalten. Der Standpunkt der EU schließt offizielle Kontakte zwischen der EU und Präsident Putin aus. Der ungarische Ministerpräsident vertritt also in keiner Weise die EU."
Orbán wurde von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel verurteilt:
"Der rotierende EU-Ratspräsident hat kein Mandat, im Namen der EU mit Russland zu verhandeln.
Keine Diskussion über die Ukraine kann ohne die Ukraine stattfinden."
Seit dem 1. Juli ist Orbán im Grunde genommen Interimspräsident der Europäischen Union, denn die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft Ungarns hat begonnen. Deshalb ist der andere "europäische Präsident" – Michel – auch so empört. Er steht zwar kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt, aber seine Nachfolger stehen ihm in nichts nach. Die künftige Chefin der europäischen Diplomatie, Kaja Kallas, ärgert sich darüber, dass Orbán "die EU-Präsidentschaft nutzt, um Verwirrung zu stiften", ist sich aber gleichzeitig sicher, dass "die EU geeint ist und eindeutig für die Ukraine und gegen die russische Aggression eintritt".
Hier gibt es einen Widerspruch: Wenn Europa geeint ist, welche Art von Verwirrung, die Orbán angeblich stiftet, braucht man dann zu befürchten? Und wenn keine Einigung gibt? Schließlich hat nicht nur Ungarn eine spezielle Position, sondern auch sein Nachbarland, die Slowakei, und generell ist die Stimmung in Europa (zumindest bei den Wählern) nicht mehr so kiewfreundlich wie früher. Ist Europa deshalb so beunruhigt?
Übrigens hat Orbán sofort erklärt, dass er nicht als Oberhaupt der Europäischen Union nach Moskau reist. Sein Treffen mit Wladimir Putin war in der Tat das erste seit Beginn der militärischen Sonderoperation, und im Grunde ist seither kein europäisches Staatsoberhaupt mehr nach Russland gereist (mit Ausnahme des österreichischen Bundeskanzlers, der im April 2022 zu einer "Friedensmission" nach Moskau gereist war).
Orbán und Putin haben eine langjährige persönliche Beziehung: Sie kennen sich seit fast einem Vierteljahrhundert, und in den letzten Jahren (seit Orbán 2010 auf den Posten des Ministerpräsidenten zurückgekehrt ist) haben sie sich mehr als zehnmal getroffen (Orbán selbst zählte elf Treffen). Auch zu Russland hat Ungarn eine besondere Beziehung, was in den letzten zweieinhalb Jahren deutlich geworden ist. Zwar wurde Budapest gezwungen, sich den gesamteuropäischen Sanktionen anzuschließen, aber es hat dafür verschiedene Vergünstigungen ausgehandelt, unter anderem im Bereich der Energielieferungen aus Russland. Und bei dem aktuellen Treffen im Kreml wurden unter anderem die bilateralen Beziehungen erörtert, obwohl es natürlich verständlich ist, dass alle daran interessiert waren, was über die Ukraine besprochen wurde.
Es wurde tatsächlich darüber gesprochen, denn Orbán hatte erst am Dienstag Kiew besucht. Natürlich hat er Putin keine Nachricht von Selenskij überbracht – es war ihm wichtig, die Meinung des russischen Präsidenten zu hören. Nach dem Treffen erklärte er in einem Interview mit der Weltwoche erklärte er:
"In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir erkannt, dass wir ohne Diplomatie und ohne Kommunikationskanäle keinen Frieden erreichen werden. Der Frieden kommt nicht von allein, wir müssen dafür arbeiten. Ich habe heute mit dem Herrn Präsidenten darüber gesprochen, wie wir den Frieden erreichen können: Ich wollte wissen, was der kürzeste Weg zur Beendigung des Krieges ist. Ich wollte die Meinung des Herrn Präsidenten zu drei wichtigen Fragen hören – und ich habe sie gehört: Was er über die derzeitigen Friedensinitiativen denkt, was er außerdem über einen Waffenstillstand denkt, in welcher Reihenfolge sie umgesetzt werden können, und der dritte Punkt, der mich interessierte, war die Vision von Europa nach dem Krieg."
Mit anderen Worten: Orbán hat Putin gegenüber nicht einfach nur die EU-Position wiederholt (Moskau kennt sie bereits sehr gut) und hat nicht nur sein Engagement für eine rasche Lösung des Konflikts wiederholt, sondern den russischen Präsidenten auch nach seinen Gedanken darüber gefragt, was nach dem Ende des Konflikts geschehen wird. Und genau das scheint Europa nicht zu interessieren – der EU geht es darum, die "russische Expansion zu stoppen", die angeblich nach der Ukraine auf EU- und NATO-Gebiet überzugreifen drohe. Seltsam, nicht wahr?
Die europäische Hauptthese – "wir helfen der Ukraine, um unsere Sicherheit zu schützen" – passt irgendwie nicht zu der Tatsache, dass Russland angeblich einen Angriff auf Europa plant. Wenn Putin wirklich bis nach Warschau marschieren will, warum sollte Europa dann mit ihm verhandeln – es sollte der Ukraine helfen, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen! Aber was ist, wenn Putin nicht verrückt ist und der NATO nicht den Krieg erklären wird (das heißt, eines ihrer Mitgliedsländer angreifen wird, also alle Länder, die an Russland und die Ukraine grenzen, mit Ausnahme von Moldawien)? Dann fällt das ganze Konzept des "Krieges bis zum ukrainischen Sieg" auseinander, es sei denn, Europa hat das Ziel, die Ukraine als solche zu zerstören.
Es gehört sich nicht heutzutage, als europäischer Staats- oder Regierungschef all diese unangenehmen Fragen zu stellen – und nur Orbán spricht ständig darüber. Und dass es notwendig ist, darüber nachzudenken, wie die Welt nach dem Ende des Krieges und wie Europa aussehen wird. Europas Zukunft hängt von Russland ab, ganz gleich, wie sehr die Europäer versuchen, alle vom Gegenteil zu überzeugen – nicht vom guten Willen Russlands (obwohl dies in der Geschichte unserer Beziehungen, auch in jüngster Zeit, schon vorgekommen ist) – sondern davon, wie Russland Europa behandeln wird, nachdem es die Vereinnahmung der Ukraine durch die Europäer verhindert hat. Und es besteht kein Zweifel daran, dass es genau so enden wird – die Versuche des Westens, die historische Grenze zur russischen Welt zurückzudrängen, werden so enden, wie sie es immer getan haben.
Orbán versteht das viel besser als die absolute Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs – und er scheut sich nicht, das auch zu sagen. Das macht sie wütend, und sie sind auch sehr besorgt darüber, dass die Ukraine-Krise letztlich ohne ihre Beteiligung gelöst wird. Schließlich ist Orbán der einzige europäische Regierungschef, der sich in den vergangenen vier Monaten nicht nur mit Selenskij, sondern auch mit Xi Jinping, Putin und Trump (das heißt mit dem Mann, der in einigen Monaten an der Spitze der Vereinigten Staaten stehen wird) getroffen hat. Mit anderen Worten: Es gibt einfach keinen besseren Vermittler für Verhandlungen (zwischen den Großmächten) – und Europa wird nichts damit zu tun haben.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 6. Juli 2024.
Pjotr Akopow ist Kolumnist und Analytiker bei RIA Nowosti.
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