Streitkräfte der Ukraine und Weißrusslands beginnen ein nervöses Versteckspiel

Als Reaktion auf eine Aufstockung der ukrainischen Truppen an der weißrussischen Grenze versetzt Minsk seine Spezialkräfte in Kampfbereitschaft und bringt Mehrfachraketenwerfer in Kampfpositionen. Warum kam es zu dieser plötzlichen Eskalation und wie gefährlich ist sie?

Von Kirill Awerjanow

Die stille Konfrontation zwischen weißrussischem und ukrainischem Militär begann bereits vor der militärischen Spezialoperation Russlands, wurde aber seit dem Jahr 2022 offenkundig. Doch seit Ende Juni gibt es Anzeichen dafür, dass diese Konfrontation in eine neue Phase eintritt. Die Ukraine beginnt nämlich, in die Grenzregion zu Weißrussland aktiv neue Ausrüstung und Spezialeinheiten zu verlegen.

Am 20. Juni meldete Weißrusslands staatliches Komitee für Grenzschutz, dass ukrainische Streitkräfte in Richtung Shitomir US-amerikanische Bradley-Schützenpanzer, deutsche Flugabwehrkanonenpanzer Gepard sowie Haubitzen M777 und HIMARS-Mehrfachraketenwerfer aus US-Produktion konzentrierten. Die Behörde stellte außerdem "eine Zunahme der Zahl ukrainischer bewaffneter Formationen, darunter Spezialeinheiten der Hauptverwaltung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums der Ukraine" und die Anwesenheit von Verbänden des sogenannten "Russischen Freiwilligenkorps" fest.

"Der Grenzschutz der Republik Weißrussland an der Grenze zur Ukraine ist in erhöhter Alarmbereitschaft und reagiert gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium auf Veränderungen der Lage, indem die Dichte  der Abdeckung der Staatsgrenze erhöht, darunter durch Manövergruppen des südlichen Abschnitts, die mit modernen Waffen und Militärtechnik ausgerüstet sind. Es werden zusätzliche Maßnahmen zur Aufklärung und Kontrolle des Zustands der Staatsgrenze ergriffen", heißt es in der Pressemitteilung.

Es gab auch konkrete Beispiele für feindselige Aktionen der Ukraine gegenüber Weißrussland. So zwangen weißrussische Grenzschützer im Kreis Jelsk am 26. Juni eine ukrainische Aufklärungsdrohne zur Landung, die 150 Meter tief in weißrussisches Gebiet eingedrungen war. Am gleichen Geländeabschnitt wurde am 27. Juni ein Versteck mit Sprengstoff und Zündern entdeckt. Am 28. Juni meldete Weißrusslands Verteidigungsministerium, dass eine Division mit Mehrfachraketenwerfern des Typs Polones wegen der schwierigen Lage an der ukrainischen Grenze vollmunitioniert das vorgesehene Gebiet erreicht habe.

Öffentliche Erklärungen gaben sowohl der Generalstabschef der weißrussischen Streitkräfte Generalmajor Pawel Muraweiko als auch untergeordnete Beamte ab. Sie brachten es auf den Punkt, dass "eine Koalition westlicher Staaten einen heißen Konflikt in der Nähe unseres Territoriums entfesselt hat. Sie versuchen, unser Land in einen Krieg hineinzuziehen. Unter solch schwierigen Bedingungen tut unser Land alles, um den Frieden auf dem weißrussischen Boden zu wahren", heißt es in der Erklärung.

Am 2. Juli verkündete Weißrusslands Präsident Alexandr Lukaschenko, dass der Grenzschutz des Landes in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurde. Darüber hinaus wurden Spezialeinheiten und Raketensysteme Polones in Stellung gebracht.

Wovon zeugt eine solche Eskalation? Verschiedene Experten äußern unterschiedliche Interpretationen, die teils in "alarmistisch", teils in "besonnen" unterteilt werden können.

Erstere verweisen auf den rapiden Anstieg der Personalstärke von ukrainischen Verbänden an der Grenze zu Weißrussland und damit auf einen bevorstehenden Beginn von Kampfhandlungen oder zumindest größeren Provokationen gegen das Land. Letztere weisen darauf hin, dass die ukrainischen Provokationen gegen Weißrussland im Grunde seit 2022 nicht aufgehört haben.

Die Ukraine lässt entlang der weißrussischen Grenze fast täglich Quadrokopter fliegen, schickt oder versucht, kleine Spähtrupps zu schicken und wirbt Menschen an der Grenze an, legt Waffenverstecke an und so weiter. Das hat jedoch seit mehr als zwei Jahren zu keiner größeren Eskalation des Konflikts geführt. Darüber hinaus wird über solche Ereignisse in den Medien nicht immer ausführlich berichtet: über manches wird mit dem Schwerpunkt auf die Rolle einer bestimmten Behörde berichtet, über andere nicht.

Es ist aus einem einfachen Grund unmöglich, den Abschnitt Shitomir als ein potenzielles Gebiet für einen Angriff der Ukraine gegen Weißrussland zu betrachten. Die Ukraine selbst verwandelte ihn im Jahr 2023 in eine befestigte Zone, in der alle Brücken gesprengt und dichte Minenfelder entlang der Grenze angelegt wurden. Um in Weißrussland einzumarschieren, müssten die ukrainischen Streitkräfte ihre eigenen Minen entweder umgehen oder räumen, was nicht unbemerkt bleiben würde.

Das Auftauchen ukrainischer Truppen mit neuesten westlichen Waffen in der Nähe des weißrussischen Kreises Mosyr spricht für eines: Es handelt sich um kürzlich bei den ukrainischen Streitkräften gelandete Ausrüstung, die von den Truppen vor ihrem Ausrücken an die Front getestet wird. Das bedeutet, dass sich die Bradley-Schützenpanzer, die Gepard-Selbstfahrlafetten und die M777-Haubitzen zwar derzeit tatsächlich in der Nähe der weißrussischen Grenze befinden, aber wohl bald in die Kampfgebiete bei Charkow geschickt werden.

Warum wurden dann aber so alarmierende Informationen in Weißrussland veröffentlicht? Dafür gibt es verschiedene Gründe.

Am 3. Juli feiert Weißrussland alljährlich seinen Tag der Unabhängigkeit und in diesem Jahr den 80. Jahrestag der Befreiung des Landes von den Nazi-Invasoren. An diesem Tag findet in Minsk eine große Militärparade statt, und der Präsident Alexander Lukaschenko wird eine Rede halten.

Am Vorabend dieses Ereignisses musste aktiv daran erinnert werden, dass sich Weißrussland in einer schwierigen Lage befindet und eine kampfstarke Armee braucht, die das Land schützt. Lukaschenko selbst brachte am 2. Juli das Geschehen direkt mit der bevorstehenden Parade in Verbindung, als er erklärte, die Lage eskalierte an der weißrussisch-ukrainischen Grenze wegen der Ankunft eines russischen Kontingents in Weißrussland, das an dieser Parade teilnehmen soll.

Darüber hinaus sollen die Meldungen über die Ernsthaftigkeit der Absichten der ukrainischen Streitkräfte im Gebiet Shitomir beim russischen Publikum ankommen. Auf diese Weise erinnert Minsk an die Bedeutung Weißrusslands, das als Russlands Verbündeter die "europäische" Flanke abdeckt.

Schließlich markiert der Juli auch ein wichtiges außenpolitisches Ereignis für Weißrussland, nämlich den Beitritt des Landes zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit.

Informationen über Weißrusslands Bemühungen zur Eindämmung im Westen richten sich auch an chinesische Partner. Symbolträchtig ist dabei, dass an der Parade am 3. Juli in Minsk nicht nur weißrussische, sondern auch russische und chinesische Verbände teilnehmen, was auch ein Signal an Kiew darstellt.

Somit ist es unwahrscheinlich, dass die Eskalation der letzten Tage als ein wichtiger Wendepunkt zu bewerten ist. Es ist vielmehr ein militärisch-psychologisches Spiel zwischen den Streitkräften der Ukraine und Weißrusslands unter den Bedingungen einer nicht erklärten Konfrontation. Dieses Spiel umfasst unter anderem den beabsichtigten Nervenkitzel beim Gegner sowie viele verdeckte und offene Signale, die sowohl an Verbündete als auch an die Feinde gerichtet sind.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad am 3. Juli.

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