Von Elem Chintsky
Dabei ist die Regierung des Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva nicht rechtskonservativ, wie es die des Ex-Präsidenten Bolsonaro war. Eben dem Letzteren sagte man ständig Klimareformträgheit, Vernachlässigung des Umweltschutzes im eigenen Land und Vernichtung des Amazonas-Gebietes nach. Mittlerweile ist klar, dass es gar nicht um eine regionale politische Richtung Brasiliens in erster Linie geht. Sondern inwieweit Brasilia bereit ist, sich aufzugeben, von der BRICS-Gruppe zu distanzieren und vom westlichen Kapital ausplündern zu lassen – während über dem Ganzen die beschwichtigende und einende Neonreklame der erneuerbaren Klima-Nachhaltigkeit flackert.
In einer Publikation der Strategic Culture Foundation wurde kürzlich darauf aufmerksam gemacht, dass brasilianische Experten – spezialisiert auf Verteidigung und internationale Beziehungen – beginnen, den globalistischen Braten zu riechen. Ob es bereits zu spät ist, lautet die Frage. Das Forum für diese "Debatte über die nationale Souveränität im 21. Jahrhundert" bot der brasilianische Kongress. Man stellte sich dort die nachvollziehbare Frage, warum die Geschicke "brasilianischer Gebiete, insbesondere des Amazonasgebiets und seines Regenwaldes, auf Gipfeltreffen außerhalb Brasiliens erörtert werden, ohne dass die brasilianischen Interessen vertreten werden". Es wurden Zitate von "ehemaligen NATO-Offizieren, Präsidenten und Premierministern verschiedener Länder, die dem Atlantischen Bündnis angehören" herangetragen, um dieser wichtigen Debatte die nötige Dringlichkeit zu verleihen.
So erinnert die Analyse beispielsweise daran, wie der britische Ex-Regierungschef Boris Johnson postulierte, dass "das Amazonasgebiet nicht wirklich zu Brasilien gehört, sondern vielmehr ein 'Gemeingut' der sogenannten 'Menschheit'" sei. Weiterhin heißt es, dass im Jahr 2006 David Miliband, der damalige Umweltminister unter Tony Blair, "für die Privatisierung des Amazonas-Regenwaldes eintrat". Das heißt, den G7-Staaten seien alle Floskeln, vom "Gemeingut der ganzen Menschenfamilie" bis hin zur "Privatisierung" ( beispielsweise durch BlackRock) alle Mittel recht, Brasiliens nationales Selbstbestimmungsrecht als den einzigen völkerrechtskonformen Weg zur Verwaltung des eigenen Territoriums auf der Strecke zu lassen. Mit ihrer Arroganz bei den eigenen Absichtserklärungen über fremdes Land übertreffen sie sich nur im Fall Russlands, wo bereits offen über "Dekolonialisierung", also über Enteignung und Ressourcen-Klau, fabuliert wird.
Einer der Experten in dieser innerbrasilianischen Debatte, der Kommandant und Militär Robinson Farinazzo Casal, zeichnete ein hypothetisches Szenario mit der "Möglichkeit einer Blockade der wichtigsten brasilianischen Häfen durch atlantische Seestreitkräfte", sofern allzu großer Widerstand der Brasilianer vorherrschen sollte. Ein anderer Analyst, Albert Caballé, hob den derzeit schlechten Zustand der brasilianischen Rüstungsindustrie hervor, die mit dem Aufkauf staatlicher Rüstungsunternehmen wie "Ares" durch internationale Konzerne – welche derselben atlantischen Urheberschaft entstammen – verursacht wurde. Laut Caballé seien dies dieselben vermeintlich wohlwollenden Akteure, "die Interesse an der 'Internationalisierung' des Amazonasgebiets zeigen".
Bereits 2021 gab es einen Resolutionsentwurf im UN-Sicherheitsrat, der – ohne Brasilien explizit beim Namen zu nennen – militärische Interventionen in gefährdeten Naturgebieten von großem Interesse zulassen sollte. Die Aufmerksamkeit der brasilianischen Experten war nichtsdestotrotz seit dem geweckt. Denn darin ist schlaue, verschleierte Semiotik eingesetzt worden, die "Klimabedrohungen" wurden zu "Bedrohungen der nationalen Sicherheit" umqualifiziert. Jeder Student der jüngeren Geschichte der Neuzeit weiß, dass es sich bei internationalen Bemühungen, jedwede "nationale Sicherheit" zu sichern, in allererster Linie um die nationale Sicherheit der USA handelt. Die Aussagen einer US-Generalin und zugleich der SOUTHCOM-Chefin Richardson untermauern diese Prämisse. Dazu gleich mehr.
Es ist mittlerweile ein parteiübergreifendes Überlebens-Credo Brasiliens, diesen Wettlauf um die eigene Souveränität zu gewinnen. Die Agenda des "besorgten und fortgeschrittenen" Westens – ausbalanciert zwischen öffentlichkeitswirksamer Täuschung und klugem Betrug – lautet, sich mit "guten Absichten" des Umwelt- und Klimaschutzes zu camouflieren, während man brasilianisches Land in die internationale Verwaltung "entlässt". Selbst wenn das jemals so glücken sollte, ist die Hybris des Westens geradezu maßlos – sind sie doch vollkommen überzeugt, dass ihre darauffolgende Handhabe des umkämpften Gebietes um so viel besser wäre als die jetzige der Brasilianer.
Seit 2009 ist bekannt, dass die Volksrepublik China die USA als Brasiliens größten Handelspartner abgelöst hat – eine Position, die die US-Amerikaner zuvor 80 Jahre lang innehatten. In Washington, D.C. versteht man sehr gut, dass die alte Monroe-Doktrin für Südamerika schon lange nicht mehr gilt. Seitdem die BRICS-Gruppe gegründet wurde, ist die brasilianisch-chinesische Zusammenarbeit weiter gewachsen.
Dass die populäre Klimareligion ein supranationales, ideologisches Korsett aus den USA ist, das allen anderen Ländern aufgezwungen und fest zugeschnürt werden soll, erkennt jeder halbwegs unvoreingenommene Begutachter der derzeit zugänglichen Faktenlage. Falls es jedoch noch Zweifel geben sollte, so sind die transparenten und aufrichtigen Äußerungen der US-Generalin Laura J. Richardson über Lateinamerika, die sie beim Atlantic Council im Januar 2023 verkündete, bindend:
"Warum diese Region so wichtig ist? Mit all ihren reichen Ressourcen und seltenen Erdelementen. Wir haben hier das Lithium-Dreieck, das für die heutige Technologie benötigt wird. 60 Prozent des weltweiten Lithiums befinden sich im Lithium-Dreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Die größten Erdölreserven wurden vor einem Jahr vor der Küste Guyanas entdeckt – das 'Light Sweet Crude'. Wir haben die Ressourcen Venezuelas, wo Erdöl, Kupfer und Gold zu finden sind. [...] Wir haben den Amazonas – die Lunge der Welt. Wir haben in dieser Region über 31 Prozent des weltweiten Süßwassers. Ich meine, das ist einfach unfassbar. [...] Ich denke, für uns steht viel auf dem Spiel. Wir haben eine Menge zu tun. Diese Region ist wichtig. Sie hat viel mit nationaler Sicherheit zu tun und wir müssen viel effektiver arbeiten."
Die vor Gier triefende und in besitzanzeigender Selbstverständlichkeit dudelnde Rhetorik der SOUTHCOM-Befehlshaberin kann nicht klarer illustriert sein.
Richardson spricht des Weiteren von Russland als dem immerhin "zweitgrößten US-Widersacher in der Region" (wie weiter oben erwähnt ist China auf dem ersten Platz) und lamentiert über Moskaus Einflüsse besonders in Venezuela, Nicaragua und Kuba.
Das von ihr erwähnte Guyana ist durch ein US-Militärbündnis bereits "in weiterer Bearbeitung" – die lange Vergangenheit und der historische Werdegang als britische Kolonie (1831–1966) bescheren zusätzliche Hebelkraft vor Ort zugunsten Washingtons. Durch seine unmittelbare Nachbarschaft zum US-skeptischen Venezuela unter seinem Präsidenten Nicolás Maduro stellt Guyana auch ein Sprungbrett für US-Druck dar – zumal die USA inzwischen auch das UN-Organ des Internationalen Gerichtshofs bis zuletzt nutzten (Dezember 2023), um venezolanische Territorialansprüche gegenüber Guyana zum Vorteil Georgetowns streitig zu machen – ein Prozess, von dem der US-Zugang zu dem süßen "Light Sweet Crude", von dem Richardson so öffentlich bereit ist zu schwärmen, in nicht unbeträchtlichem Maße abhängt.
Zum Ende hin erwähnt sie auch den Amazonas, aber nennt Brasilien nicht beim Namen. Brasiliens Präsident Lula ist Gastgeber der UN-Klimakonferenz im nächsten Jahr und wird diese Konferenz symbolisch in der Stadt Belém veranstalten – in der Hauptstadt des nördlichen Bundesstaats Pará, der größtenteils Heimat des viel zitierten Tropischen Regenwaldes ist. Eben das enorme Waldgebiet am Amazonas, auf den es all die globalistischen Klima-Verbesserer westlicher Regierungen – samt ihrer im Schatten wartenden, nicht gewählten, oligarchischen Gönner – abgesehen haben. Eine bittere Ironie dabei ist, dass Lula sehr wenig Zeit hat, um für diesen Gipfel die optimalen, infrastrukturellen Umstände in Belém zu schaffen: Bisher sind nur 25 Prozent der nötigen Kapazität in Form von Behausung und Transport vor Ort vorhanden. Um all die ökosozialistischen Globalisten und Aktivisten aufnehmen zu können, muss genau das in Fahrt kommen, wofür seit Jahren Brasilia von denselben Akteuren kritisiert wird: die vehemente Beeinträchtigung der Umwelt im Amazonas-Gebiet.
Viel hängt auch davon ab, was für eine Figur die brasilianische Führung auf diesem kommenden Klima-Gipfel machen wird: genehm zurückhaltende Unterwürfigkeit oder strenge Durchsetzungsfähigkeit? Die Rolle als Gastgeber könnte Letzteres unterstützen. Wie man es auch dreht, ist Brasilias einziges langfristiges, geostrategisches Rettungsboot zur Erhaltung der eigenen Souveränität eine Flucht nach vorn, in der es gilt, alles auf eine Karte zu setzen – auf das BRICS-System.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
Mehr zum Thema – BRICS steht vor einem Wachstumsproblem – Experten erklären Expansionsstopp der Organisation