Von Felicitas Rabe
Die Netanjahu-Regierung solle "alles" tun, um die israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas zu befreien. Dies sei weiterhin das Hauptanliegen einer Mehrheit der israelischen Bevölkerung, erklärte am Freitag der israelische Musiker Ofer Golany im Gespräch mit RT. Der langjährige Friedensaktivist aus Jerusalem ist in diesen Tagen auf einer Konzertreise in Nordrhein-Westfalen. Als Sohn einer polnischen jüdischen Mutter, deren ganze Familie während des Holocausts in Polen ermordet wurde, möchte sich der 65-jährige Golany mit seinen Konzerten in Deutschland für eine Versöhnung zwischen Juden und Deutschen einsetzen.
In Köln sprach er aus Anlass des aktuellen Krieges zwischen Israelis und Palästinensern mit RT über unterschiedliche Gruppierungen, Positionen und die Kritik an der Regierung in der israelischen Gesellschaft. Vorrangig sei für die Mehrheit der israelischen Bevölkerung die Befreiung der israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas.
Von Benjamin Netanjahu fordern die meisten, dass der Geiselbefreiung alle anderen politischen und militärischen Ziele untergeordnet werden müssten. Die Wut auf den israelischen Premierminister sei deshalb so massiv, weil er sich eben nicht ausreichend für die Befreiung der Geiseln einsetze, erklärte der Musiker. Die Menschen fordern unter anderem, dass er im Gegenzug palästinensische Gefangene freilassen müsse.
Die Zusammensetzung der israelischen Bevölkerung
Grundsätzlich setze sich die israelische Gesellschaft aus sechs Hauptgruppen zusammen, die normalerweise auch unterschiedliche Interessen und Anliegen an die Regierenden hätten. Es gäbe einen Anteil von rund 15 Prozent religiösen Juden im Land, die sich wiederum unterteilten in orthodoxe, ultraorthodoxe und ultraultraorthodoxe Juden. Ein Teil der orthodoxen Juden, die in Israel leben, besäßen gar keinen israelischen Pass, sondern seien US-amerikanische Staatsangehörige.
Dennoch betrachteten sie Israel als ein Land, welches seit 3.000 Jahren allein den Juden vorbehalten wäre. Einen israelischen Pass würden viele Menschen dieser Gruppe, von denen viele als Siedler in der sogenannten Westbank leben, dennoch nicht haben wollen. Als offizielle israelische Staatsbürger drohe ihnen der Militärdienst, den sie aber nicht leisten wollten. Der Anteil weniger religiöser, nationaler Juden betrage rund 20 Prozent. Im Gegensatz zu den orthodoxen Juden ständen die nationalen Juden eindeutig auf Seiten des Militärs. Aber auch sie würden die Regierung massiv kritisieren.
Denn das Militär sei bei Weitem nicht so konservativ und rechts wie die aktuelle Staatsführung. Insgesamt rund 20 Prozent mache der russischstämmige Bevölkerungsanteil in Israel aus. Weniger bekannt sei die anwachsende Gruppe der jüdischen Äthiopier in Israel. Deren Anteil betrage ungefähr 2 Prozent, wobei sich die äthiopischen Juden in den letzten Jahren zunehmend über eine Diskriminierung ihrer Leute in der israelischen Gesellschaft beklagen würden.
Der Anteilarabischer Israelis in Höhe von 20 Prozent setze sich aus Angehörigen verschiedener Religionen zusammen. Es gäbe darunter Drusen, Christen, Muslime, Beduinen und Tscherkessen – also Muslime aus Russland – sowie nicht religiös gebundene Araber. Christen und Drusen unter den Arabern würden in Israel auch Militärdienst leisten, ebenso die muslimischen Tscherkessen. Andere muslimische Araber leisteten stattdessen Zivildienst.
Golany zufolge sei in der aktuellen Situation die Geiselfreilassung auch unter den arabischen Israelis die Hauptforderung an die israelische Regierung. Außerdem leben noch ein paar Prozent sogenannte "linke" Aktivisten in Israel. Davon besäßen nicht wenige eine holländische, französische oder deutsche Staatsbürgerschaft. Zudem gäbe es auch Sozialisten und eine alternative Gesellschaftsbewegung, die zum Teil auch aus der Kibbuz-Bewegung stammt (Rainbow Nation, Hippies, Buddhisten).
Positionen in der israelischen regierungskritischen Protestbewegung
Während sich nach Golanys Auffassung das Konzept "linker" oder "rechter" Politik in Europa über Wirtschaftsideologien wie Kapitalismus oder Sozialismus definiere, definiere sich in Israel "links" und "rechts" durch die Parteinahme im jüdisch-arabischen Konflikt. Kritik an Juden würde als rechte und zugleich arabische Position gewertet und rücke die Palästinenser und die Hamas automatisch in die rechte Ecke.
Obwohl im aktuellen Krieg weit mehr Palästinenser – mit rund 2 Millionen Menschen aus dem Gazastreifen und der Westbank – heimatlos geworden seien, sei die israelische Gesellschaft vor allem geschockt durch die Evakuierung von rund 30.000 israelischen Staatsbürgern. Zu Kriegsbeginn wurden diese Israelis aus israelisch-palästinensischen Grenzgebieten evakuiert und zunächst provisorisch woanders untergebracht.
Innerhalb Israels gäbe es nur einen ganz geringen Prozentsatz von Menschen in der Friedensbewegung, die mit dem Kampf der Hamas sympathisieren würden oder für die nach dem 7. Oktober 2023 noch eine Zwei-Staaten-Lösung in Betracht käme. Insofern würden sich bei großen Protestaktionen und Demonstrationen in Israel alle Forderungen hauptsächlich um die Geiselbefreiung drehen. Teile der Bevölkerung forderten zudem eine Anklage der Hamas vor dem Internationalen Strafgerichtshof.
Die Position der Knesset und die Kritik an Netanjahu
Nach Einschätzung des Friedensaktivisten würden von den 120 israelischen Knesset-Abgeordneten höchstens 5 oder 6 an die Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Konflikts innerhalb der nächsten zehn Jahre glauben. Schließlich erklärt Golany noch den Hass vieler Menschen in Israel auf Benjamin Netanjahu als den am längsten amtierenden Regierungschef Israels. Man kritisiere ihn nicht nur aufgrund von Korruption und nichteingehaltenen politischen Versprechungen. Man werfe ihm vor allem auch vor, dass er die Menschen in Israel spalte und die einzelnen Gruppen gegeneinander aufbringe. Nach Golanys Meinung hetze Netanjahu Araber gegen Juden ebenso wie nichtreligiöse Juden gegen religiöse Juden auf. Die Regierungskoalition umfasse Rechtsextreme und Rassisten. Golany erläuterte wörtlich:
"Netanjahu hat eine Regierungskoalition mit religiösen und rechtsextremen Parteien gebildet. Der von ihm ernannte israelische Polizeichef ist ein bekennender Rassist mit einem rassistischen Programm."
Am Ende erklärt der Musiker, dass die Stimmung in der israelischen Gesellschaft mittlerweile von Angst geprägt sei. Viele würden sich fürchten, weil Israel gerade einen Krieg an mehreren Fronten führt: gegen die Hamas in Gaza, gegen die Hisbollah im Libanon, gegen Syrien und gegen Iran. Dazu kämen noch die inneren Konflikte innerhalb der gespaltenen israelischen Gesellschaft. Während die Bevölkerung die Befreiung der Geiseln fordere und Unterstützung für die evakuierten Israelis organisiere, sei der israelische Premierminister mit Waffengeschäften befasst. Der Friedensaktivist stellte fest:
"Netanjahu weiß, solange Krieg ist, solange verkauft Netanjahu Waffen."
Mehr zum Thema - Oberstes Gericht: Ultraorthodoxe müssen in Israel zum Militärdienst