In der Debatte um den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele auf russischem Territorium durch die Ukraine deutet sich ein Positionswechsel in Washington an. Der US-Präsident Joe Biden hatte diese Anwendung der Waffen bislang abgelehnt, da er eine Eskalation des Konflikts befürchtet.
Zwar werden bereits US-amerikanische Waffensysteme wie die ATACAMS-Marschflugkörper gegen Ziele auf der Krim eingesetzt, doch die USA und ihre Verbündeten erkennen die Halbinsel noch immer nicht als russisches Hoheitsgebiet an.
Die der Ukraine auferlegte Beschränkung, US-Waffen nicht gegen das sogenannte "traditionell" russische Hoheitsgebiet einzusetzen, könnte nun fallen. Darauf deuten Äußerungen des US-Außenministers Antony Blinken hin, die er im Vorfeld des heute beginnenden NATO-Außenministertreffens in Prag machte.
Bei einem Besuch in der Republik Moldau antwortete Blinken auf die Frage, ob der US-Präsident Biden zu einer Aufhebung der bestehenden Einschränkungen bewegt werden könne, dass es ein Kennzeichen der US-amerikanischen Unterstützung für die Ukraine in den letzten zwei Jahren gewesen sei, "sich anzupassen, wenn die Bedingungen sich verändern, wenn das Schlachtfeld sich ändert, wenn Russland sein Handeln verändert. ... Wir haben uns ebenfalls daran angepasst und verändert, und ich bin zuversichtlich, dass wir das auch weiterhin tun werden."
Mit den sich verändernden Bedingungen spielt der Blinken offenbar auf den russischen Vormarsch in der Region Charkow an und auf die damit verbundenen Befürchtungen im Westen über einen Kollaps der ukrainischen Streitkräfte. Um Kiews Niederlage abzuwenden, sehen sich die Unterstützer des Regimes gezwungen, ihren eigenen "Einsatz zu erhöhen" – eben auch mit dem Einsatz ihrer Waffen auf Ziele tief im russischen Hinterland.
Europa gespalten: Briten preschen vor, Italien sperrt sich
Europa ist in dieser jedoch Frage gespalten. Bei seinem Staatsbesuch in Deutschland, wo ihm ironischerweise der Westfälische Friedenspreis verliehen wurde, hat sich Emanuel Macron für den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium ausgesprochen. Im Beisein und ohne Widerspruch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz sagte der französische Präsident, dass er "nicht glaube", dass Angriffe auf Ziele im russischen Hinterland "zu einer Eskalation" beitragen würden.
Einem ähnlichen Realitätsverlust erliegt auch Macrons lettischer Amtskollege Edgars Rinkēvičs, der erklärte, es gebe "keinen vernünftigen pragmatischen Grund", auf solche Angriffe zu verzichten.
Die Regierenden in Warschau haben ihren Verbündeten in Kiew bereits zugesichert, dass "es keine derartigen Beschränkungen für die an die Ukraine gelieferten polnischen Waffen gibt". Das sagte der stellvertretende polnische Verteidigungsminister Cezary Tomczyk in einem Gespräch mit Radio ZET am Mittwoch.
Die Briten sind bereits einen Schritt weiter. Zumindest laut einer Äußerung des Beraters Juri Sak beim ukrainischen Verteidigungsminister werden britische Langstrecken-Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow bereits mit der Erlaubnis Londons gegen Ziele in Russland eingesetzt.
Italien hat sich dagegen am Donnerstag noch immer klar gegen Angriffe auf russisches Territorium ausgesprochen. "Alle Waffen, die aus Italien [in die Ukraine] kommen, sollten in der Ukraine eingesetzt werden", sagte der italienische Außenminister Antonio Tajani dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RAI.
Ist Olaf Scholz eingeknickt?
Gleiches galt bislang auch für Deutschland. Doch die ablehnende Haltung des Bundeskanzlers scheint zu bröckeln. "Ist Olaf Scholz' rote Linie nun rosa?", fragt provokant wie immer etwa Der Spiegel. Wie das Nachrichtenmagazin anmerkt, hatte der Kanzler früher stets betont, dass klar sei, "dass die Waffen, die wir geliefert haben, nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden" dürfen.
Doch bei der bereits erwähnten Pressekonferenz mit Macron widersprach Scholz eben nicht mehr dem französischen Präsidenten und äußerte sich stattdessen folgendermaßen: "Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut."
Manche interpretieren das so, als habe der Bundeskanzler seine ursprüngliche Position aufgegeben. Dafür spricht auch eine Kommentierung des Regierungssprechers Steffen Hebestreit im Nachgang zur Pressekonferenz von Scholz und Macron. Danach befragt, welche Vereinbarung Deutschland mit der Ukraine über den Einsatz der gelieferten Waffen getroffen habe, erklärte der Sprecher, das sei vertraulich, um dann doch freimütig auszuführen: "Das Völkerrecht weist der Ukraine das Recht zu, sich zu verteidigen, und diese Verteidigung beschränkt sich nicht auf das ukrainische Staatsgebiet."
Wenn man einen Bericht von Politico Glauben schenken kann, dann ist der deutsche Bundeskanzler nun tatsächlich eingeknickt. "Eine Person, die mit der Position der deutschen Regierung vertraut ist, sagte auch, dass Scholz den Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland befürwortet", heißt es dort.
Politische Schizophrenie mit katastrophalen Folgen
Sowohl in der "Ampel"-Koalition als auch innerparteilich wächst jedenfalls der Druck auf den Kanzler, deutsche Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen. Allen voran prescht in der SPD der Scharfmacher Michael Roth. Der SPD-Außenpolitiker, der jüngst in Georgiens Hauptstadt Tbilissi Demonstranten gegen die dortige Regierung aufwiegelte, sagte dazu am Donnerstag im Deutschlandfunk: "Ich rate sehr, dem Generalsekretär der NATO Jens Stoltenberg zu folgen, der einen solchen Vorschlag ja unterbreitet hat."
Der NATO-Generalsekretär Stoltenberg hatte die Debatte am Wochenende ins Rollen gebracht, als er die NATO-Staaten aufforderte, Kiew den Einsatz weitreichender westlicher Waffen gegen russisches Territorium zu gestatten.
Die vom deutschen Bundeskanzler bislang geäußerten Befürchtungen, dass damit eine rote Linie überschritten werde und NATO-Staaten zu direkten Kriegsbeteiligten würden, wies Roth selbstsicher zurück: "Die rote Linie ist das Völkerrecht, diese Linie wird nicht überschritten."
Roths Äußerung steht beispielhaft für die politische Schizophrenie all jener, die jetzt sogar zum direkten Angriff auf Russland mit westlichen Waffen blasen: Einerseits werfen sie Russland vor, sich nicht für das Völkerrecht zu interessieren, andererseits soll das Völkerrecht nun auf einmal eine rote Linie für Moskau markieren, die eine Eskalation verhindert. Es ist zu befürchten, dass nun auch der Bundeskanzler dieser schizophrenen Haltung anheimgefallen ist, was katastrophale Konsequenzen für Deutschland – und nicht nur für Deutschland – haben könnte.
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