Von Jewgeni Krutikow
In der ersten Tageshälfte des 15. Mai besetzten Russlands Streitkräfte am Frontabschnitt Charkow den Großteil von Woltschansk. Kiews Militär zog sich in die südlichen Stadtteile zurück und leistet punktuell noch Widerstand. Noch am 14. Mai standen die russischen Sturmformationen beim Gebäude der Stadtverwaltung. Üblicherweise wird die Befreiung eines Ortes offiziell nach der Räumung des Umlands verkündet.
Nahe der Ortschaft Lipzy wurde die genossenschaftliche Gartensiedlung "Lira" besetzt, direkt angrenzend an diese wichtige Ortschaft. Das ist das Datschengebiet vor Charkow, bis zur Stadt sind es von hier noch 20 Kilometer Luftlinie. "Einheiten des Truppenverbands Nord befreiten durch aktive Handlungen die Siedlungen Glubokoje und Lukjanzy des Gebiets Charkow und rückten in die Tiefe der gegnerischen Verteidigung vor", berichtete darüber Russlands Verteidigungsministerium. Glubokoje und Lukjanzy liegen direkt neben Lipzy.
An anderen Frontabschnitten liegt die Initiative ebenfalls bei den russischen Streitkräften. Die Einkesselung des Stadtteils "Kanal" von Tschassow Jar wurde faktisch beendet. Am Abschnitt Pokrowsk wurde Umanskoje befreit, im Westen von Netailowo wird gekämpft, es gibt dort Geländegewinne, mit denen ehemalige gegnerische Verteidigungsanlagen, Waldbestände und Höhen besetzt wurden. Allmählich entfaltet sich "die Blüte von Otscheretino". Aus diesem wichtigen Logistikknoten ist eine Offensive praktisch in alle Richtungen möglich.
Der erfolgreiche Vorstoß bei Charkow offenbarte nicht nur die Probleme des ukrainischen Militärs, sondern auch die Tatsache, dass der Verlauf der Spezialoperation inzwischen von der Strategie des russischen Generalstabs bestimmt wird. Das Kommando der ukrainischen Streitkräfte steht wie bei einem Schachspiel im Zugzwang – die eine Option zu reagieren ist genauso schlecht wie die andere.
Nach dem Verlust von Awdejewka wurde das ukrainische Militär mit einer neuen Strategie der russischen Streitkräfte konfrontiert: Ständiger Druck an diversen Abschnitten entlang der gesamten Frontlinie. Bei Kiews Versuchen, mal die Verteidigungslinien westlich von Awdejewka, mal Rabotino, mal Krasnogorowka, mal Terny zu halten, zwang die Ukraine letztlich dazu, eigene Reserven ständig "von der Hand in den Mund" zu verschieben.
Später wurde das ukrainische Militär mit zwei besonders problematischen und strategisch wichtigen Abschnitten konfrontiert: bei Tschassow Jar, von wo aus sich ein direkter Weg auf den Ballungsraum Kramatorsk – Slawjansk eröffnet, und im Raum Krasnoarmeisk (ukrainisch nun Pokrowsk genannt). Ein russischer Durchbruch an jedem dieser Abschnitte wird in Kiew als eine potenzielle Katastrophe gewertet. Der Verlust eines beliebigen anderen großen befestigten Raums der Ukraine, der mit Awdejewka oder Tschassow Jar vergleichbar wäre – etwa bei Krasnogorowka, Kupjansk oder Orechow und Ugledar – würde ebenfalls zu einem Zusammenbruch der Front führen.
Die täglichen Verschiebungen der Frontlinie führen zu Verschiebungen in der Bedeutsamkeit bestimmter Frontabschnitte. Beispielsweise bedeutet die Befreiung der zuvor wenig bekannten Stadt Woltschansk eine Gefahr der Einkesselung sämtlicher südlich davon gelegenen ukrainischen Stellungen bis nach Kupjansk. Es gibt bereits Berichte, wonach das ukrainische Kommando Kupjansk verlassen habe.
Parallel dazu setzt das ukrainische Militär die Zusammenstellung neuer Brigaden fort, die aus politischen Gründen bei Kiew und bei Poltawa versammelt werden. Die Gesamtstärke der ukrainischen Reserven kann auf 54.000 Mann geschätzt werden, von denen etwa 12.000 aktiv in Bewegung sind.
Das Kommando der Kiewer teilt sich in zwei Lager auf: das eine Lager vermutet, dass es nötig sei, alles an den Frontabschnitt bei Charkow zu werfen, was überhaupt verfügbar ist. Das andere Lager beharrt auf dem Erhalt der Verteidigungsverbände in Tschassow Jar, Krasnogorowka, Kupjansk und Krasnoarmeisk. Im Rahmen eines Kompromisses werden nun also nach Charkow Truppen von den Abschnitten Cherson und Saporoschje und einzelne Einheiten aus Tschassow Jar verlegt. Hinzu kommen Sonderkommandos des ukrainischen Militärgeheimdiensts GUR sowie Reste der Nationalbataillone und sogar der regulären Polizei.
In jedem Fall kommt es dazu, dass ein oder manchmal gleich mehrere Frontabschnitte "durchhängen". In einer Situation, in der praktisch die gesamte Frontlinie unter Druck steht, ist es für das ukrainische Militär unmöglich, einen Schwerpunkt für die Verteidigung zu wählen, denn der existiert nicht.
Russlands Streitkräfte indessen warten jetzt ab – wie paradox das auch klingen mag. Denn ein Zusammenbruch der gegnerischen Front kann unerwartet eintreten und muss dann geschickt ausgenutzt werden.
Das Eröffnen eine Frontabschnitts bei Charkow und zusätzlich das mögliche Auftauchen eines bei Sumy bedeuten nicht unbedingt eine Offensive auf große Städte oder gar die Schaffung einer Pufferzone zum Schutz von Belgorod, sondern das ist auch ein wichtiges strategisches Manöver, das auch Teile der Front an viel weiter entfernten Abschnitten zum Zusammenbruch bringen kann.
Jeder Zusammenbruch der ukrainischen Front würde in ihrer Verteidigung eine Lücke öffnen, für deren Schließung die Ukraine keine Reserven mehr hätte. Und dabei geht es nicht nur um Personal oder Militärverbände, sondern weiter vorn an der Front gibt es einfach keine Stellungen mehr, egal ob natürliche oder künstliche Befestigungen, an denen sich die ukrainischen Streitkräfte effektiv noch halten könnten.
So mündete eine kleine operative Pause nach der Befreiung von Otscheretino, die von ständigem Druck auf die gesamte Frontlinie geprägt war, gewissermaßen in einem strategischen Schachspiel. In dieser Partie spielen Russlands Streitkräfte mit Weiß, sind dem Gegner mindestens einen Zug voraus und behalten die Initiative. Ihre Aufgabe besteht jetzt darin, diese Initiative erfolgreich zu nutzen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst bei Wsgljad erschienen am 16. Mai.
Mehr zum Thema: "Mehrere Ziele" – Wie sich Russlands Offensive im Gebiet Charkow entwickelt