Im Vorfeld seines Staatsbesuchs in der Volksrepublik China hat Russlands Präsident Wladimir Putin ein ausgiebiges Interview mit der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua am 15. Mai 2024 geführt. RT dokumentiert die Fragen der chinesischen Journalisten und die Antworten des russischen Staatsoberhaupts in deutscher Übersetzung.
Frage: Im März vergangenen Jahres wählte Präsident Xi Jinping Russland für seinen ersten Auslandsbesuch nach seiner Wiederwahl zum Staatspräsidenten der VR China. Dieses Jahr wählten wiederum Sie nach Ihrer Wiederwahl zum Präsidenten der Russischen Föderation China als Ziel für Ihren ersten Auslandsbesuch. Uns ist aufgefallen, dass es in den vergangenen etwas mehr als zehn Jahren mehr als 40 Treffen zwischen Ihnen und Präsident Xi Jinping bei verschiedenen bilateralen und multinationalen Formaten gab. Dieses Jahr feiern wir den 75. Jahrestag der Etablierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und China. Wie bewerten Sie Ihre Kontakte mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping? Was sind Ihre Erwartungen für Ihren anstehenden Besuch in China? Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der russisch-chinesischen Beziehungen?
Wladimir Putin: Ich freue mich über die Möglichkeit, mich an das Millionenpublikum von Xinhua, einer der führenden und renommiertesten Nachrichtenagenturen der Welt, richten und meine Sicht der Perspektiven der russisch-chinesischen Partnerschaft teilen zu können. Ich möchte hervorheben, dass diese Partnerschaft von Anfang an immer auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und des Vertrauens und auf dem gegenseitigen Respekt der Souveränität und Interessen des Anderen basierte, und dass weise und vorausschauende Politiker und Staatsmänner wie der Staatspräsident der Volksrepublik China, Xi Jinping, stets eine wichtige Rolle in der Entwicklung unserer Beziehungen gespielt haben.
Unser erstes Treffen fand im März 2010 statt und unsere Treffen und telefonischen Kontakte sind seitdem regelmäßig geworden. Präsident Xi Jinping hat eine sehr respektvolle, freundliche, offene und gleichzeitig professionelle Art zu kommunizieren. Jedes unserer Treffen ist nicht nur ein Gespräch zwischen alten Freunden – was bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen sehr wichtig ist –, sondern auch ein produktiver Meinungsaustausch zu den aktuellsten Fragen der bilateralen und internationalen Agenda.
Ich erinnere mich wärmstens an den Staatsbesuch von Präsident Xi Jinping im März vergangenen Jahres in Russland, gleich nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten der Volksrepublik China. Ebenso wie schon 2013 war unser Land das erste, das er als Staatsoberhaupt Chinas besuchte. Wir haben fast fünf Stunden lang unter vier Augen gesprochen und am darauffolgenden Tag an einem umfassenden und intensiven offiziellen Programm teilgenommen.
Dieses einzigartig hohe Niveau der strategischen Partnerschaft zwischen unseren Ländern war auch ausschlaggebend für meine Entscheidung, China für meinen ersten Auslandsbesuch nach meinem offiziellen Amtsantritt als Präsident der Russischen Föderation auszuwählen.
Ich habe wiederholt angemerkt, dass unsere Völker durch eine langjährige und feste Tradition der Freundschaft und Zusammenarbeit verbunden sind – und das ist eine der wichtigsten Grundlagen aller bilateralen Beziehungen. Während des Zweiten Weltkriegs kämpften sowjetische und chinesische Soldaten Seite an Seite gegen den japanischen Militarismus. Wir erinnern uns und schätzen den Beitrag des chinesischen Volkes an unserem gemeinsamen Sieg.
Es war China, das die großen Streitkräfte der japanischen Militaristen gebunden und es der Sowjetunion auf diese Weise erlaubt hat, sich auf die Vernichtung des Faschismus in Europa zu konzentrieren. Und natürlich sind wir unseren chinesischen Freunden auch für ihre sorgsame Behandlung der Kriegerdenkmäler zu Ehren der sowjetischen Bürger dankbar, die für die Befreiung Chinas gekämpft und das chinesische Volk in seinem revolutionären Kampf und seinem Widerstand gegen die Invasoren unterstützt haben. Die russisch-chinesischen Beziehungen haben heute ihren allerhöchsten Stand in unserer gemeinsamen Geschichte erreicht und werden trotz der schwierigen Lage in der Welt immer weiter gefestigt.
Das laufende Jahr hat eine besondere Bedeutung für unsere beiden Länder, da sich am 1. Oktober zum 75. Mal der Tag der Gründung der Volksrepublik China jährt. China nähert sich diesem bedeutenden historischen Datum mit herausragenden Erfolgen, über die wir uns als alte, verlässliche und bewährte Freunde sehr freuen.
Die UdSSR war das erste Land, das die Volksrepublik China am zweiten Tag ihres Bestehens anerkannt hat. Deshalb feiern wir im Oktober auch den 75. Jahrestag der Aufnahme unserer diplomatischen Beziehungen.
Unsere Länder haben in diesem Dreivierteljahrhundert einen langen und bisweilen schwierigen Weg zurückgelegt. Die historischen Erfahrungen, die wir im Rahmen unserer Beziehungen in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung gemacht haben, sind für uns ein wichtiger Wegweiser. Heute ist uns bewusst, was für ein starker Impuls für eine umfassende und rasante Entwicklung aus der Zusammenführung unserer sich beidseitig ergänzenden Vorteile entsteht.
Äußerst wichtig ist auch, dass die modernen russisch-chinesischen Beziehungen frei von Ideologie sind und nicht von der politischen Wetterlage abhängen. Ihre vielschichtige Entwicklung ist eine bewusste strategische Entscheidung, die auf einer umfassenden Übereinstimmung unserer wesentlichen nationalen Interessen, auf tief empfundenem gegenseitigem Vertrauen, auf der starken Unterstützung der Öffentlichkeit und der aufrichtigen Freundschaft der Völker unserer beiden Länder basiert.
Ich spreche hier von unseren gemeinsamen Bemühungen zur Festigung der Souveränität und zum Schutz der territorialen Integrität und Sicherheit, im weiteren Sinne aber auch über die Förderung der Entwicklung und des Wohlstands Russlands und Chinas durch eine Ausweitung unserer gleichberechtigten und beidseitig vorteilhaften Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und humanitären Bereichen sowie über die Festigung unserer außenpolitischen Koordination im Interesse der Etablierung einer gerechten, multipolaren Weltordnung. All das garantiert unserer umfassenden und strategischen Partnerschaft eine erfolgreiche Zukunft in der neuen Ära.
Frage: Zurzeit wachsen die wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Handel zwischen Russland und China immer weiter. Im vergangenen Jahr überschritten beide Länder vorzeitig das von Ihnen und Präsident Xi Jinping gemeinsam festgelegte Ziel eines Handelsumsatzes von 200 Milliarden US-Dollar. Wie sehen Ihrer Meinung nach die neuen Wachstumseigenschaften und -bereiche in der praktischen Handels- und Wirtschaftskooperation zwischen Russland und China aus? In welchen Bereichen wird die russisch-chinesische Handels- und Wirtschaftskooperation in Zukunft noch größere Durchbrüche erzielen können?
Wladimir Putin: Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen unseren Ländern entwickeln sich äußerst rasant und demonstrieren eine anhaltende Immunität gegenüber äußeren Herausforderungen und Krisensituationen. In den letzten fünf Jahren ist es uns gelungen, den russisch-chinesischen Handelsumsatz zu verdoppeln: Während er 2019 noch 111 Milliarden US-Dollar betrug, erreichte er vergangenes Jahr 227,8 Milliarden Dollar. Zudem kommt, dass mehr als 90 Prozent der Abrechnungen zwischen unseren Unternehmen in unseren nationalen Währungen stattfinden. Deshalb wäre es richtiger zu sagen, dass unser bilateraler Handelsumsatz aktuell etwa 20 Billionen Rubel oder fast 1,6 Billionen Yuan beträgt. China ist seit bereits 13 Jahren unser größter Handelspartner und Russland ist 2023 auf den vierten Platz der größten Handelspartner der Volksrepublik China aufgestiegen.
Unsere beiden Länder haben sich schon vor langer Zeit für gleichberechtigte und beidseitig vorteilhafte wirtschaftliche Beziehungen entschieden. Wir bauen unsere strategische Partnerschaft in der Energiewirtschaft systematisch und konsequent weiter aus und arbeiten an neuen gemeinsamen Großprojekten. Außerdem verzeichnen wir eine gute Dynamik beim Export russischer landwirtschaftlicher Produkte nach China, setzen Investitions- und Produktionsinitiativen um und sehen, dass die Transport- und Logistikkorridore zwischen unseren Ländern stabil funktionieren und neue Kapazitäten gewinnen. Solche Ergebnisse, insbesondere angesichts der globalen Turbulenzen und der wirtschaftlichen Probleme im Westen, bestätigen erneut, dass unser souveräner Kurs und die Befolgung unserer nationalen Interessen die strategisch richtigen Entscheidungen waren.
Was unsere Pläne angeht, werden wir versuchen, eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie und Hochtechnologie, des Weltalls und der friedlichen Nutzung der Kernkraft, der künstlichen Intelligenz, erneuerbarer Energien und weiterer innovativer Industrien aufzubauen. Natürlich werden wir zu diesem Zweck auch weiterhin daran arbeiten, geeignete rechtliche und organisatorische Bedingungen zu gewährleisten und unsere Transport- und Finanzinfrastruktur auszubauen. Ich bin davon überzeugt, dass die russisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen große Perspektiven haben.
Frage: Die russisch-chinesische Freundschaft geht von Generation zu Generation über und die Kulturen der beiden Länder sind eng miteinander verwoben. Präsident Xi Jinping und Sie haben eine Vereinbarung erreicht, in diesem und im kommenden Jahr Themenjahre mit Veranstaltungen zur Kultur Russlands und Chinas abzuhalten. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der kulturelle Austausch bei der Vertiefung der Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen unseren Ländern? Wie sehen Sie selbst die chinesische Kultur und welche Erfahrungen und Kontakte haben Sie mit ihr gemacht?
Wladimir Putin: Ich habe es mehrmals gesagt und kann nur wiederholen, dass Russland und China seit Jahrhunderten nicht nur durch eine große gemeinsame Grenze, sondern auch durch enge kulturelle und menschliche Bindungen untrennbar miteinander verbunden sind. In der fernen Vergangenheit gab es in unserem Land dank vereinzelten Informationen von Händlern nur eine grobe Vorstellung von China. Aber danach entstanden die ersten Botschaften und in Peking wurde eine russische geistliche Mission gegründet, die einen unschätzbaren Beitrag zur Sammlung und Systematisierung des Wissens über China geleistet hat. Bereits ab dem 19. Jahrhundert begann in Russland das Studium der chinesischen Sprache und in unseren Universitäten entstanden Lehrstühle für Sinologie. Es wurde auch an der Erstellung von Wörterbüchern gearbeitet.
Unter der Herrschaft von Katharina der Großen kam chinesische Kunst in Mode. Aus diesem Grund waren die Innenräume des chinesischen Saals des Katharinenpalastes, die persönlichen Gemächer der Zarin, reich mit Lackplatten aus China verziert. Leider gingen diese Raumdekorationen während des Zweiten Weltkriegs vollständig verloren, doch jetzt werden sie mit Hilfe von Spezialisten aus der Volksrepublik China wiederhergestellt.
Die moderne russische Gesellschaft hat ebenfalls ein großes Interesse an chinesischer Kunst und Kultur. Etwa 90.000 Studenten und Schüler in unserem Land lernen die chinesische Sprache. Touren chinesischer Künstlerkollektive und Ausstellungen, bei denen Künstler aus der Volksrepublik China vertreten sind, genießen immer großen Erfolg. Nach der Aufhebung der Quarantänemaßnahmen wächst auch der Tourismus. Im vergangenen Jahr haben mehr als 730.000 russische Bürger die Volksrepublik China besucht.
Ich weiß, dass auch die Chinesen Interesse daran haben, die russische Literatur, Kunst und Traditionen besser kennenzulernen. Unsere berühmten Theaterkollektive und Musiker treten regelmäßig in China auf, unsere Museen halten Ausstellungen ab und russische Filme werden auf der großen Leinwand gezeigt. Wir sind gern bereit, unseren chinesischen Freunden auch weiterhin die große Vielfalt des historischen, künstlerischen und kulturellen Erbes der Völker Russlands vorzustellen.
Aus genau diesem Grund haben Präsident Xi Jinping und ich beschlossen, 2024 und 2025 ein wechselseitiges Jahr der Kultur Russlands und Chinas zu veranstalten. Dieses groß angelegte Ereignis findet im Rahmen der Feier des 75. Jahrestages der Etablierung diplomatischer Beziehungen zwischen unseren Ländern statt. Das Veranstaltungsprogramm verspricht äußerst abwechslungsreich und interessant zu sein. Ein Teil der Veranstaltungen fand sogar bereits statt. Beispielsweise gab es in Moskau zum ersten Mal eine große Feier zum chinesischen Neujahrsfest nach dem Mondkalender, während die chinesischen Bürger in Peking und Xi'an beim Fest "Verabschiedung des russischen Winters" die Möglichkeit hatten, die Bräuche unseres traditionellen Masleniza-Fests kennenzulernen.
Russland steht ebenso wie China fest für das Prinzip der Vielfalt der Kulturen ein und verteidigt ihre Gleichberechtigung und die Bewahrung nationaler Identitäten. Diese und andere wichtige Fragen standen im Mittelpunkt des 2023 stattgefundenen Internationalen Kulturforums in Sankt Petersburg, an dem sich die chinesische Delegation sehr aktiv beteiligte. Die bei diesem Forum abgehaltenen freien Diskussionen sind gerade jetzt sehr wichtig, da sie dazu beitragen, einen respektvollen Dialog zwischen den Zivilisationen herzustellen.
Und wir möchten auch neue Formate entwickeln, unter anderem den internationalen Pop-Musik-Wettbewerb "Intervision". China tritt als ein wichtiger Partner dieses Projekts auf, dessen Ziel es ist, verschiedene Schulen des nationalen Gesangs bekannter und beliebter zu machen.
Was meine persönliche Beziehung zur chinesischen Kultur angeht, möchte ich vor allem betonen, dass ich stets mit großem Interesse neue Aspekte der chinesischen Kultur und ihrer einzigartigen Traditionen für mich entdecke, insbesondere bei meinen Besuchen in der Volksrepublik China. Ich kenne mich gut mit Ihren nationalen Kampfkünsten aus, unter anderem mit Wushu, das in unserem Land sehr beliebt ist, und ich habe großen Respekt für die chinesische Philosophie. Einige meiner Familienmitglieder interessieren sich für China und lernen die chinesische Sprache.
Frage: In diesem Jahr ging der Vorsitz bei den BRICS auf Russland über. Außerdem ist das laufende Jahr das erste Jahr der Zusammenarbeit der "großen BRICS". Schildern Sie bitte die Prioritäten und Arbeitspläne im Rahmen des russischen Vorsitzes bei BRICS. Wie soll eine harmonische Integration von neuen Mitgliedern in den Mechanismus der Zusammenarbeit der BRICS unterstützt werden? Wie bewerten Sie die Rolle der BRICS auf internationaler Ebene? Wie könnte die Zusammenarbeit der "großen BRICS" noch produktiver gefördert werden?
Wladimir Putin: Russlands Vorsitz bei den BRICS hat souverän an Fahrt gewonnen. Eine umfassende Arbeit in drei Hauptrichtungen der Kooperation wurde entfaltet: Politik und Sicherheit, Wirtschaft und Finanzen, Kultur und humanitäre Kontakte.
Zweifellos ist eines der Hauptziele des russischen Vorsitzes eine organische Integration der neuen Mitglieder in die BRICS. Wir helfen ihnen aktiv, sich in das ausgearbeitete Netz von Kooperationsmechanismen zu integrieren.
Eine weitere Priorität ist die Fortsetzung der koordinierten Arbeit zur Festigung des Ansehens der Vereinigung in internationalen Angelegenheiten, zur Steigerung ihrer Möglichkeiten für die Förderung eines demokratischeren, stabileren und gerechteren Systems der internationalen Beziehungen. Ich möchte betonen, dass die Zusammenarbeit bei den BRICS auf den Prinzipien des gegenseitigen Respekts, der Gleichheit, Offenheit und des Konsenses gründet. Gerade deswegen erweist sich unsere Vereinigung für die Länder des Globalen Südens und Ostens als so attraktiv. Sie sehen in den BRICS eine Plattform, auf der ihre Stimme unbedingt gehört und berücksichtigt wird.
Die russischen Behörden, geschäftliche und gesellschaftliche Kreise haben ein durchaus intensives Programm für den Vorsitz vorbereitet. Die Rede ist von einem breiten Spektrum an Bereichen zur Intensivierung der Zusammenarbeit. Dazu gehören Finanzen, Landwirtschaft, Energie, intellektuelles Eigentum, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Raumfahrt. Die zuständigen Experten beraten auch über so spezialisierte und forschungsintensive Themen wie Nanotechnologien, Kernmedizin und Biotechnologien.
Es fanden bereits zahlreiche entsprechende Veranstaltungen statt – insgesamt sieht die Agenda des russischen Vorsitzes über 200 davon vor. Außer Treffen von Ministern und Experten ist eine große Anzahl von Kulturveranstaltungen und Veranstaltungen unter Teilnahme der Jugend geplant. Im Juni sollen in Kasan Sportspiele der BRICS-Länder stattfinden, und im Oktober findet ebendort ein Gipfeltreffen der Vereinigung statt.
Frage: Gegenwärtig versuchen so vielfältige Mechanismen wie die BRICS und die Schanghaier Organisation zur Zusammenarbeit (SOZ), die Länder des Globalen Südens im Geiste der Gleichberechtigung, Offenheit, Transparenz und Inklusivität zu vereinigen und die Reformierung des Systems der globalen Verwaltung zu fördern. Chinas Präsident Xi Jinping betonte mehrmals, dass er damit rechnet, gemeinsam mit Russland die strategische Zusammenarbeit auf vielfältigen Plattformen zu festigen und die Prinzipien eines echten Multilateralismus zu verwirklichen. Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit zwischen China und Russland im Rahmen der BRICS, SOZ und anderer multilateraler Mechanismen? Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Zusammenarbeit der beiden Länder auf internationaler Ebene im Hinblick auf die Förderung des Aufbaus der Schicksalsgemeinschaft der Menschheit?
Wladimir Putin: Die Erde ist die Wiege der Menschheit, unser gemeinsames Zuhause, und wir alle sind ihre gleichberechtigten Bewohner. Ich bin mir sicher, dass ein Großteil der Menschen auf dem Planeten diese Ansicht teilt. Doch die Länder, die sich zur so genannten goldenen Milliarde zählen, denken anscheinend nicht so.
Die von den USA angeführten westlichen Eliten weigern sich, zivilisatorische und kulturelle Vielfalt zu respektieren, und lehnen traditionelle Werte ab, die sich seit Jahrhunderten herausgebildet haben. In dem Versuch, ihre globale Dominanz aufrechtzuerhalten, nahmen sie sich das Recht, anderen Völkern vorzuschreiben, mit wem sie zusammenarbeiten dürfen, und mit wem nicht. Sie sprechen ihnen das Recht ab, eigene Entwicklungsmodelle zu wählen. Sie nehmen keine Rücksicht auf ihre souveränen Interessen. Wie in der Vergangenheit versuchen sie, den eigenen Wohlstand auf Kosten anderer Staaten zu sichern und greifen dafür zu neokolonialen Methoden.
Natürlich gefällt diese Sachlage weder Russland noch seinen Partnern. Unter unserer aktiven Teilnahme wurden vom Westen unabhängige multilaterale Vereinigungen und Mechanismen geschaffen, deren Tätigkeit Prinzipien der Gleichheit, Gerechtigkeit, Offenheit, des Respekts und der gegenseitigen Rücksichtnahme auf die jeweiligen Interessen zugrunde liegen.
Überzeugende Beispiele für eine solche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil sind die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit und die BRICS, die sich fest als Hauptstützen der sich bildenden multipolaren Weltordnung etabliert haben. Sie sind zu angesehenen, sich dynamisch entwickelnden internationalen Plattformen geworden, in deren Rahmen ihre Teilnehmer eine konstruktive Zusammenarbeit in Politik, Sicherheit, Wirtschaft und im humanitären Bereich aufbauen. Davon zeugt das stetig zunehmende Interesse anderer Staaten an der Tätigkeit dieser Vereinigungen und die steigende Anzahl ihrer Mitglieder.
Unsere Länder haben ähnliche oder gleiche Positionen zu den Schlüsselfragen der internationalen Agenda. Wir treten für eine Vorherrschaft des Völkerrechts, für eine gleiche, unteilbare, komplexe und stabile Sicherheit sowohl auf globaler als auch auf internationaler Ebene unter einer zentralen koordinierenden Rolle der UNO ein. Und wir lehnen Versuche des Westens ab, eine Ordnung aufzuzwingen, die auf Lügen und Heuchelei, auf wer weiß von wem erfundenen mysteriösen Regeln basiert.
Frage: China hat von Anfang an aktive Anstrengungen zur politischen Regulierung der Ukraine-Krise unternommen. Am 16. April formulierte Chinas Präsident Xi Jinping während seines Treffens mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz vier Prinzipien einer friedlichen Regulierung der Ukraine-Krise. Am 24. Februar 2023 veröffentlichte China ein Dokument, in dem es seine Position zur politischen Regulierung der Ukraine-Krise erläuterte. Wie bewerten Sie Chinas Position und Anstrengungen in dieser Angelegenheit?
Wladimir Putin: Wir bewerten Chinas Herangehensweise an die Regulierung der Ukraine-Krise positiv. In Peking versteht man deren ursprüngliche Gründe und globale geopolitische Bedeutung sehr gut, was sich im Zwölf-Punkte-Plan "Chinas Position zur politischen Regulierung der Ukraine-Krise" geäußert hat, der im Februar 2023 veröffentlicht wurde. Die in dem Dokument festgehaltenen Ideen und Vorschläge zeugen vom aufrichtigen Bestreben unserer chinesischen Freunde, die Lage zu stabilisieren.
Was die von Chinas Präsident jüngst verkündeten zusätzlichen vier Prinzipien der Lösung des Konflikts angeht, so ergänzen sie organisch den erwähnten Plan. Die von Peking vorgeschlagenen realistischen und konstruktiven Schritte – Frieden erreichen durch Verzicht auf die Verfolgung eigennütziger Interessen und Verzicht auf ständige Eskalation; den negativen Einfluss des Konflikts auf die Weltwirtschaft und die Stabilität der globalen Industrielieferketten minimieren – entwickeln die Ideen der Notwendigkeit der Überwindung der Mentalität des Kalten Krieges, der Untrennbarkeit der Sicherheit, der Einhaltung der Völkerrechtsnormen und der UN-Charta in all ihrer Gesamtheit und Wechselwirkung weiter. Und daher könnten sie einem politisch-diplomatischen Prozess zu Grunde gelegt werden, der Russlands Sorgen im Bereich der Sicherheit berücksichtigen und das Erreichen eines langfristigen und stabilen Friedens fördern würde.
Leider finden diese Initiativen weder bei der Ukraine noch bei ihren westlichen Gönnern Unterstützung. Sie sind nicht zu einem gleichberechtigten, ehrlichen und offenen Dialog bereit, der auf gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Berücksichtigung der Interessen aufbaut. Sie wollen gerade die ursprünglichen Gründe, die Quellen der heutigen Krise auf dem Planeten nicht besprechen, wobei eine dramatische Erscheinung dieser Krise die Situation in der Ukraine ist. Warum nicht? Weil ausgerechnet ihre Politik in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu den jetzigen globalen Umbrüchen geführt hat.
Stattdessen versuchen die westlichen Eliten hartnäckig, Russland zu "bestrafen", es zu isolieren und zu schwächen, versorgen die Kiewer Regierung mit Geld und Waffen. Sie haben gegen unser Land fast 16.000 einseitige illegitime Sanktionen eingeführt. Sie drohen, unser Land zu zerteilen. Sie versuchen, sich illegal unser Vermögen im Ausland anzueignen. Sie verschließen die Augen vor der Wiedergeburt des Nazismus, vor den Terrorangriffen, die Ukraine auf unserem Territorium verübt.
Wir wollen eine umfassende, nachhaltige und gerechte Regulierung dieses Konflikts mit friedlichen Mitteln. Und wir sind offen für einen Dialog bezüglich der Ukraine, doch das müssen Verhandlungen sein, die die Interessen aller in den Konflikt verwickelten Länder, darunter auch unsere Interessen, berücksichtigen. In Verbindung mit einem ernsthaften Gespräch über die globale Stabilität, über Sicherheitsgarantien sowohl für die gegnerische Seite als natürlich auch für Russland. Und zwar müssen es zuverlässige Garantien sein. Das Hauptproblem ist gerade die Zuverlässigkeit jeglicher Garantien. Denn wir haben es mit Staaten zu tun, deren Regierungen eine Weltordnung nicht auf Grundlage des Völkerrechts vorziehen, sondern "auf der Grundlage von Regeln", von denen sie ständig reden, die jedoch niemand gesehen hat, denen niemand zugestimmt hat und die sich anscheinend je nach laufender politischer Konjunktur und den Interessen ihrer Erfinder ändern.
Russland ist zu Verhandlungen bereit, mehr noch, wir haben diese Verhandlungen geführt. Am 15. April 2022 bereiteten wir in Istanbul gemeinsam mit der ukrainischen Delegation das Projekt eines künftigen Friedensvertrages vor, unter Berücksichtigung der Forderungen der ukrainischen Delegation, darunter auch im Bereich der zukünftigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Mehr noch, der Leiter der ukrainischen Delegation parafierte die wichtigsten Bestimmungen dieses Dokumentenentwurfs.
Die westlichen Partner überzeugten uns, dass für eine endgültigen Übereinkunft und Unterzeichnung dieses Dokuments Voraussetzungen geschaffen werden müssten, von denen die wichtigste der Abzug unserer Truppen von der ukrainischen Hauptstadt Kiew war. Wir taten das. Doch statt der Unterzeichnung eines Friedensabkommens erklärte die ukrainische Seite unerwartet den Abbruch der Gespräche an. Wie ukrainische offizielle Persönlichkeiten später behaupteten, geschah das unter anderem deshalb, weil ihre westlichen Verbündeten ihnen empfahlen, die Kampfhandlungen fortzusetzen und gemeinsam zu versuchen, eine strategische Niederlage Russlands zu erzwingen. Wir haben Verhandlungen niemals abgelehnt.
Frage: In Ihrer Ansprache an die Föderationsversammlung erläuterten Sie ausführlich die Aufgaben der Entwicklung Russlands in den kommenden sechs Jahren und entsprechende Maßnahmen. Am 20. März riefen Sie bei einem Treffen mit Ihren Vertrauten zum Bau eines neuen Russlands auf, um es noch gefestigter, attraktiver und effektiver zu machen. Was sind Ihre Pläne in Bezug auf den staatlichen Aufbau während der neuen Amtszeit? Wie hoffen Sie, die gesetzten Ziele zu erreichen?
Wladimir Putin: Die in der Ansprache gestellten Aufgaben zur Entwicklung aller Regionen des Landes, des sozialen Bereichs, zur Lösung demographischer Probleme, zur Erhöhung der Geburtenrate, zur Unterstützung von Familien mit Kindern, zur Bekämpfung der Armut und der Ungleichheit haben einen objektiven, grundlegenden Charakter. Wir sind uns ihres Ausmaßes bewusst und verstehen, wie sie zu lösen sind. Und dazu verfügen wir über den konsolidierten Willen des Volkes, über die notwendigen Ressourcen und Möglichkeiten, über eine reiche Erfahrung der Zusammenarbeit zwischen dem Staat, dem Unternehmertum und der Zivilgesellschaft.
Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahren kolossale Arbeit zur Einrichtung eines effektiven Systems der Wirtschaftsverwaltung geleistet. Regierung und zuständige Behörden nutzen große Datenvolumina, moderne digitale Plattformen und Rechennetze, die alle Wirtschaftszweige und das gesamte Landesgebiet umfassen. Wir werden diese Arbeit fortsetzen, die Effektivität der langfristigen Planung und der Umsetzung von Programmen und nationalen Projekten erhöhen.
Heute gehört Russland zu den Top Fünf Ländern nach Kaufkraftparität. Nun stellen wir uns die Aufgabe, die Top Vier der größten Wirtschaften des Planeten zu erreichen. Vorrangige Bedeutung hat für uns dabei die Qualität und die Effektivität der Entwicklung aller Branchen, die Zunahme des Wohlstands unserer Bürger.
Qualitative Änderungen in der Wirtschaft sind ohne eine stabile Erhöhung des Lohnniveaus unmöglich. Um das zu erreichen, planen wir, die Arbeitsproduktivität zu steigern – durch die frontale Einführung wissenschaftlicher Erkenntnisse, neuer Technologien und Innovationen, durch Automatisierung und Robotisierung, durch die Schaffung moderner Arbeitsplätze. Gleichzeitig werden wir fachkundige, modern denkende Spezialisten ausbilden, die neue Betriebe erschließen und in der Industrie sowie in sozialen Bereichen arbeiten werden.
Selbstverständlich ist unsere Priorität die Vorbereitung von modernen Kadern für die staatliche und kommunale Verwaltung. Bei uns läuft eine ganze Reihe von entsprechenden Programmen, Wettbewerben, Projekten. Für die Selbstverwirklichung von talentierten, patriotisch gestimmten Menschen gibt es auf föderaler und regionaler Ebene breite Möglichkeiten. Für jene, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Russland ehrlich und treu zu dienen. Und vor allem für jene, die das sowohl bei der Arbeit als auch bei den schwierigsten Herausforderungen zum Schutz unserer Heimat und unseres Volkes unter Beweis gestellt haben.
Ich bin zuversichtlich, dass wir alle strategischen Pläne umsetzen werden. Und hierbei sind wir für die Zusammenarbeit mit Partnern auf der ganzen Welt offen, zu denen auch unser guter Nachbar und zuverlässiger Freund China gehört.
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