Von Jewgeni Krutikow
Die Proteste gegen die Gebietsübertragung an Aserbaidschan kamen in Armenien nur langsam in Gang. Offenbar ließen sowohl die Einheimischen als auch die Opposition lange Zeit nicht einmal den Gedanken zu, dass der Prozess der Gebietsübertragung an Aserbaidschan Wirklichkeit werden würde. Und dies, obwohl der armenische Premierminister Nikol Paschinjan mehrmals in die Dörfer Woskepar und Kirants – das sind die Dörfer, die übertragen werden – kam, emotionale Gespräche mit den Einheimischen führte und ihnen seine Sichtweise der Notwendigkeit der Gebietsabtretung erläuterte.
Nachdem der Prozess der Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan tatsächlich begonnen hatte, forderten die Dorfbewohner zunächst ein Treffen mit dem Marzpet (Gouverneur) der Region Tawusch, Haik Galumjan. Die Politik kam in jedes Haus in Tawusch. Die Proteste wurden immer heftiger, bis hin zur Blockade von Autobahnen.
Die Eskalation der Lage begann, als armenische Grenzsoldaten begannen, das Gebiet zu vermessen, die Umgebung zu entminen und Grenzposten zu errichten. Die Gebietsübertragung betraf landwirtschaftliche und kirchliche Grundstücke. Der Hof des einen, die Scheune des anderen wurde in die aserbaidschanische Zone verlegt. Es stellte sich heraus, dass z. B. der Durchgang zur Kirche der Heiligen Mutter Gottes von Woskepar aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert in den Besitz Aserbaidschans übergehen könnte, was scharfe Proteste sowohl der Einwohner als auch des Erzbischofs Bagrat Galstanjan von Tawusch hervorrief. Der Erzbischof traf in vollem Ornat in Woskepar ein und verlangte, dass die Polizei, die das Entminungsgebiet abgesperrt hatte, ihn und eine Delegation von Gläubigen in das Kirchengebäude ließ.
Infolgedessen wurde Erzbischof Bagrat Galstanjan zu einem der Gesichter des Protests und zu seinem inoffiziellen Anführer. Das Oberhaupt der armenischen Kirche, Katholikos Karekin II., ermahnte bei seinem Besuch in Tsitsernakaberd die armenischen Regierungsstellen, "Tapferkeit nicht mit Feigheit zu verwechseln" (die Bedeutung dieser Ermahnung wird weiter unten beschrieben). Angesichts des Gewichts der armenisch-apostolischen Kirche in der Gesellschaft ist dies ein wichtiger Faktor.
Die Proteste führten zu spontanen Straßensperren in verschiedenen Gebieten Armeniens, auch wurden in Jerewan und auf einigen Autobahnen Plakate und Schilder angebracht, es kam darüber hinaus zu Auseinandersetzungen in den sozialen Medien. Die Straßensperren auch von Hauptverkehrsstraßen in Jerewan wurden von der Polizei zügig aufgelöst oder schon von vornherein verhindert. Am 26. April blockierten Einwohner die Arbeit von Kartografen, die das Gebiet vermessen wollten. An einem anderen Tag warteten sie auf die Entminungsspezialisten, die das Gebiet entminen sollten.
Am stärksten war der Protest im Dorf Kirants neben der einzigen Brücke auf der strategischen Route von Armenien nach Georgien und weiter nach Russland und in die Außenwelt. Der Status dieser Brücke ist noch unklar. Vermutlich wird sie nach der Gebietsübertragung von armenischen Truppen bewacht werden müssen. Dies ist jedoch sowohl aus militärischer als auch aus innenpolitischer Sicht nicht sinnvoll.
Im Falle der für die Regierung in Jerewan unangenehmsten Ereignisentwicklung ist es für die aserbaidschanische Armee wohl nur eine Frage von einer halben Stunde, diese strategische Schlüsselposition zu besetzen und damit nicht nur Tawusch, sondern ganz Armenien von der Außenwelt zu isolieren.
Am Abend des 27. April wurden bei einer Protestaktion in Kirants eineinhalb Dutzend Personen in Militäruniform gesehen. Dies brachte die Demonstranten, die dachten, dass militärische Einheiten auf ihre Seite kämen, in Aufruhr. Am Morgen stellte sich heraus, dass es sich um 16 Offiziere einer benachbarten Militäreinheit von Woskepar handelte, die unbewaffnet zur Protestaktion gekommen waren, um herauszufinden, was vor sich ging. Sie kehrten zu ihrer Militäreinheit zurück, und Berichten zufolge wurde ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet. Pro-Paschinjan-Telegramkanäle veröffentlichen ein Video mit Erklärungen, Ausreden und Entschuldigungen von einem dieser Offiziere, der während des nächtlichen Besuchs der Protestaktion in Kirants am auffälligsten war.
Über die militärische und politische Komponente des Grenzziehungsprozesses in Armenien wird nur von Fachleuten und ausschließlich von Ruheständlern gesprochen. Die Aussage von Katholikos Karekin II., dass man "Tapferkeit nicht mit Feigheit verwechseln sollte", ist mehr als nur die Aussage eines Theologen. Es ist eine direkte Bezugnahme auf das System von Beweisen, das Nikol Paschinjan und seine Verbündeten im Zusammenhang mit der Gebietsübertragung aufbauen.
Kurz gesagt, Paschinjan verfolgt die folgende Logik: Er behauptet, dass diejenigen, die gegen die Abtretung von Gebieten an Aserbaidschan seien, Armenien in einen neuen Krieg hineinziehen wollten, da Baku in dieser Frage entschlossen sei und seine Gebietsansprüche bis zum Ende durchsetzen werde (so kündigte Paschinjan bei seinem Besuch in den Dörfern von Tawusch einen lokalen Krieg "innerhalb einer Woche" an). Armenien werde diesen Krieg nicht überleben und mehr Territorien verlieren als bei einer friedlichen Grenzziehung.
Dann, so die Logik von Paschinjans Propagandisten, werden russische Truppen in Armenien einmarschieren – oder in das, was davon übrig bleibt (deshalb sollte man den vollständigen Abzug der restlichen russischen Friedenstruppen aus Sjunik, des russischen Grenzschutzes aus Tawusch und schließlich des Stützpunkts in Gjumri fordern). Und die Russen werden den "Sangesur-Korridor" besetzen und Jerewan mit der sogenannten "fünften Kolonne", bestehend aus prorussischen Oppositionellen und Vertretern der Spyurk/Diaspora, übernehmen. Diese "fünfte Kolonne" sorgt nun durch die Proteste in Tawusch für Unruhe im Lande.
Und die "Tapferkeit" der Regierung Paschinjan besteht gerade darin, Zugeständnisse an Baku zu machen, um einen neuen Krieg zu verhindern, in dem die gegenwärtige armenische Armee keinen Widerstand leisten kann, und um die "Okkupation" Armeniens durch die Russen zu vermeiden. Katholikos Karekin II. entgegnet, dass dies in Wirklichkeit "Feigheit" sei, was manche mit "Tapferkeit" verwechseln würden.
Paschinjan selbst stammt aus Idschewan, nicht weit von Tawusch entfernt. Er kennt die Mentalität des provinziellen Armeniens sehr gut – und er selbst repräsentiert sie in vielerlei Hinsicht. Dies lässt teilweise erklären, warum seine geopolitischen und philosophischen Ideen – selbst die exotischsten – in der Seele dieses sehr "tiefgründigen" Armeniens Anklang finden. Er appelliert nicht an den armenischen Fedayi, den armenischen Kämpfer, den armenischen Helden, der bereit ist, sein Leben für die Bewahrung der Geschichte und des Landes seiner Vorfahren zu riskieren. Nein, er wendet sich an die bürgerlich-kaufmännische Bevölkerungsschicht, die sich in den letzten Jahrzehnten im Lande gebildet hat.
Dieser gesellschaftlichen Schicht erscheint die Idee, dem alten Feind einen Teil des Landes abzugeben, sodass das übrige Armenien anschließend angeblich prosperieren kann, überzeugend.
Diejenige armenische Volksschicht, der Karabach, die Geschichte, der Glaube und die Ehre wichtig waren, ist entweder gestorben oder ist in den Ruhestand getreten. Im Innersten möchten viele in diesem "Armenien Pashinjans" diesen ewigen Heldenmut einfach hinter sich lassen. Sie hatten seit 1991 genug davon, sie müssen nicht ewig Helden sein. Ihnen gefällt die These, dass, wenn Armenien jetzt seine Geschichte und sein Land sowie seine historische Freundschaft mit Russland aufgibt, dann wird die Welt aufhören, aggressiv gegenüber Armenien zu sein. Dann wird es möglich sein, sich nicht auf Konfrontation, nicht auf Krieg, sondern auf das normale Leben einzulassen.
In gewisser Hinsicht ist dies verständlich: Armenien erlitt nach 1991 mehr als jedes andere postsowjetische Land, was das tägliche Leben betrifft. Ofenrohre in den Fenstern der Mehrfamilienhäuser in Jerewan, totaler Brennstoffmangel, Hungersnot und Flucht werden noch einer Generation in Erinnerung bleiben. Und in diesem Teil der armenischen Bevölkerung findet Paschinjan Unterstützung. Diese Unterstützung überwiegt die Proteste der Opposition und sogar der Kirche, die sich gegen ewige Zugeständnisse an den Aggressor wehren.
Aus diesem Grund sind Paschinjan und seine Partei in einer Situation, in der jeder derartige Machthaber längst in Schande gestürzt worden wäre, wieder einmal Wahlsieger.
Es ist also unwahrscheinlich, dass die derzeitigen Straßenproteste zum Sturz der derzeitigen armenischen Regierung oder zu einem Putsch führen werden. Nur eine sehr viel katastrophalere Ereignisentwicklung könnte eine gesellschaftliche Aufstandsbewegung gegen Paschinjan hervorrufen. Dann nämlich, wenn die Mehrheit und nicht nur ein unwesentlicher Teil der armenischen Bevölkerung ihr persönliches Territorium an die Aserbaidschaner abtreten muss.
Aber das versteht man auch in Baku, das von der derzeitigen öffentlichen Stimmung in Armenien profitiert. Daher wird Aserbaidschan seine weitergehenden Gebietsansprüche voraussichtlich nicht so radikal und rasch durchsetzen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 27. April 2024 zuerst bei der Zeitung Wsgljad erschienen.