Von Jewgeni Posdnjakow
Am 31. März hätte in der Ukraine die Wahl eines Präsidenten stattfinden sollen. Laut der geltenden Verfassung werde die Abstimmung am letzten Märzsonntag durchgeführt, falls die Legislaturperiode des amtierenden Präsidenten im gleichen Jahr endet. Für Wladimir Selenskij wäre eigentlich der 20. Mai der letzte Tag seiner jetzigen Amtszeit.
Doch das Datum für die Wahl wurde nicht verfassungsgemäß festgesetzt. Diese Entscheidung – genauer gesagt deren Ausbleiben – sorgte bereits für lebhafte Diskussionen sowohl innerhalb der Ukraine als auch im Westen.
Die ukrainische Führung selbst beruft sich nun auf den Artikel 108 der Verfassung, wonach der amtierende Präsident sein Amt bis zur Wahl eines neuen Präsidenten behält. Außerdem sei eine Durchführung von Wahlen in Zeiten des Kriegszustands unmöglich. Daher habe die amtierende Regierung das Recht, bis zum Ende dieses Kriegszustands an der Macht zu bleiben.
Selenskijs Gegner beharrten jedoch auf dem Gegenteil: Da die Verfassung nicht vorsieht, dass die Befugnisse des Präsidenten (im Gegensatz zu denen der Rada als Parlament) während eines Kriegszustands verlängert werden können, verliere Selenskij nach dem 20. Mai seine Legitimität sowohl im Inland als auch im Ausland.
Somit solle Selenskij die Staatsführung an den Parlamentspräsidenten übertragen, dem der Artikel 112 des ukrainischen Grundgesetzes das Recht einräumt, als Staatsoberhaupt zu fungieren. Doch auch die Legitimität der Rada ist ziemlich fraglich. Denn die Wahlen für das Parlament als Legislative hätten bereits im Oktober des vergangenen Jahres stattfinden sollen, waren aber ebenso ausgesetzt worden.
Das heißt, die Mandate der jetzigen Abgeordneten waren automatisch verlängert worden, allerdings verlor die regierende Partei "Diener des Volkes" de facto ihre ursprüngliche Mehrheit, was Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Großteils ihrer späteren Entscheidungen aufkommen lässt. So stimmten in der ersten Lesung für den umstrittenen Gesetzentwurf zur Verschärfung der Mobilmachung nur 178 Parlamentarier, obwohl für dessen Annahme mindestens 226 Stimmen notwendig gewesen wären.
Die restlichen Stimmen wurden einfach mit Bargeld und Bestechungen erkauft oder mit dem Druck der Geheimdienste erpresst. Dabei stimmten selbst die Fraktionen des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko und der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gegen die vorgeschlagene Initiative. Im Land entwickelt sich eine Krise der Legislative, was sogar der Fraktionsführer von "Diener des Volkes" Dawid Arachamia einräumt.
Unter diesen Bedingungen sorgt das Problem der Legitimität der ukrainischen Regierung für lebhafte Diskussionen nicht nur im Westen. Anfangs hatten die USA auf einer Durchführung von Wahlen bestanden, kamen dann später aber öffentlich nie mehr auf dieses Thema zurück. Aber auch in Moskau widmet man diesen Fragen nach den Staatsstreichen der Jahre 2004 und 2014 in der Ukraine besondere Aufmerksamkeit.
So betonte Russlands Botschafter bei der UNO Wassili Nebensja am 22. März, dass Selenskijs präsidiale Entscheidung, die Wahlen abzusagen, die Illegitimität der Führung der Ukraine ab dem 21. Mai zur Folge habe, wie TASS gemeldet hat. Wenig später schlug der russische Außenminister Sergei Lawrow in seinem Interview für die Zeitung Iswestija am 28. März vor, bis zum genannten Datum zunächst abzuwarten. "Möglicherweise werden wir gar nichts mehr anerkennen müssen", erklärte der Diplomat.
Experten merkten an, dass Selenskijs Entscheidung, die Macht an sich zu reißen, die politische Krise in der Ukraine nicht verschärfen werde, da sich die wichtigsten Gegner des Präsidenten ohnehin entweder im Exil oder quasi im Exil befinden. Das betrifft beispielsweise den ehemaligen Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs Waleri Saluschny, der zum Botschafter der Ukraine in London ernannt wurde.
Theoretisch könnte den Posten des Staatschefs auch der Ex-Präsident Petro Poroschenko für sich beanspruchen, dessen Gefolgschaft immer öfter die Frage nach der endenden Legitimität von Selenskij aufwirft. Doch Poroschenko hat zu schlechte Umfragewerte, als dass er sich auf den Posten des Präsidenten schwingen könnte. Er könnte höchstens auf das Amt des Parlamentssprechers hoffen, der es ihm die ermöglichen würde, Einfluss auf die Regierungsbildung nehmen zu können. Doch reale Möglichkeiten für die Umsetzung eines solchen Szenarios gibt es jedoch bisher nicht.
Andererseits wird das Auslaufen von Selenskijs Legitimität in naher Zukunft eine Herausforderung für die USA und die EU darstellen. In Brüssel und Washington versucht man seit längerem, der Welt das Bild von der Ukraine als Bastion der Demokratie zu vermitteln, die für eine "regelbasierte Ordnung" auf der ganzen Welt kämpfe. Doch das Aussetzen von Wahlen mit Demokratie in Verbindung zu bringen, wird selbst den geschicktesten Meinungsmanipulatoren in den NATO-Staaten schwerfallen, zumal Selenskij selbst diesen Mythos zerstört.
"In naher Zukunft wird es in der Ukraine auch nach Selenskijs völligem Verlust jeder Legitimität höchstwahrscheinlich keine ernsthaften außen- und innenpolitischen Probleme geben. Es gibt einfach kein Menschen im Land, die dieses Thema aufgreifen könnten. Das politische Feld wurde von den derzeitigen Behörden kahlgeschlagen, und Andersdenkende werden von den Geheimdiensten aktiv verfolgt", sagte der Politikwissenschaftler Wladimir Kornilow.
"Selbst der Begriff 'Opposition' ist in der Ukraine längst relativiert. Medien, die alternative Sichtweisen verbreiteten, sind längst geschlossen. Führungskräfte, die sich Kritik der Staatsführung erlaubt haben, sind entweder ermordet oder im Gefängnis. Den Glücklichsten unter ihnen gelang es, die Ukraine zu verlassen. Es sind nur prowestliche Politiker geblieben, die alles tun werden, was man ihnen aus dem Ausland befiehlt", stellte Kornilow klar.
"Inzwischen haben Washington und Brüssel eine klare Anweisung gegeben: Die Frage von Selenskijs Legitimität sollte derzeit nicht zur Sprache gebracht werden. Ich glaube nicht, dass die in der Ukraine verbliebenen Politiker den Mut aufbringen werden, gegen den Wunsch ihrer westlichen Partner zu handeln", betont Kornilow.
"Andererseits garantiert auch dies nicht, dass Selenskij auf ewig an der Macht bleibt. Nachdem er sich geweigert hatte, Wahlen abzuhalten, landete er in einem rechtlichen Morast und hängt noch stärker davon ab, die Meinungen und Wünsche der USA und der EU zu erfüllen. Sobald seine ausländischen Herren mit ihm nicht mehr zufrieden sind, wird er sehr schnell zum Gehen aufgefordert. Der Hebel der abgelaufenen Legitimität ermöglicht es dem Weißen Haus, jederzeit einen Schlussstrich zu ziehen", betont der Experte.
Nach Kornilows Meinung kommt die Ukraine damit in die Phase eines juristischen Schwebezustands. "Laut der Verfassung sollten die Präsidentschaftswahlen am letzten Sonntag im März stattfinden. Eine Aussetzung oder Verschiebung der Wahlen im Falle des Kriegsrechts sieht das Grundgesetz gar nicht vor", stellt er fest.
"Natürlich könnte sich Selenskij an die Kampfhandlungen klammern und versuchen, seinen Verbleib an der Macht durch den Konflikt mit Russland zu rechtfertigen. Doch früher oder später wird auch diese Ausrede nicht mehr funktionieren. Selenskij hat sich selbst in eine politische Sackgasse manövriert – vielleicht ohne es zu merken", betont Kornilow.
Der Politikwissenschaftler Wladimir Skatschko teilt die Ansicht, dass sich Selenskij in einer Sackgasse verrannt hat. "Faktisch hat er sein ganzes Schicksal dem Krieg untergeordnet sich damit selbst aller Handlungsspielräume beraubt. Nach dem 20. Mai wird seine Legitimität in den Augen des Westens von der Fortsetzung der Kampfhandlungen abhängen. Nun wird er die Hauptperson, die am meisten daran interessiert ist, das Blutvergießen zu verlängern", meint der Experte.
Skatschko stellte fest, dass der Konflikt mit Russland heute der wichtigste Stabilisierungsfaktor des gesamten Machtsystems in der Ukraine geworden ist. "Wenn die Konfrontation endet, wird Selenskij augenblicklich die Macht verlieren. Wenn er sich nicht so verhält, wie es sich die USA und die EU wünschen, werden auch sie sich sogleich an seine fehlende Legitimität erinnern und ihn durch eine andere Person ersetzen. Doch solange er die wichtige Forderungen erfüllt, wird der Westen seine Usurpation stillschweigend hinnehmen. Und Russland sollte, wie Lawrow richtig sagte, den 20. Mai abwarten. Dann sehen wir weiter", resümierte Skatschko.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst bei Wsgljad am 1. April 2024 veröffentlicht.
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