Wie bitte? Pistorius bezeichnet militärisches Preplanning als "theoretisches Gespräch" für jedermann

Der Verteidigungsminister Boris Pistorius hat offenbar für jeden Presseauftritt eine besondere "Wahrheit". So hat er am selben Tag vor Journalisten völlig unterschiedliche Aussagen zum Inhalt des Taurus-Leaks der Luftwaffen-Generäle getätigt – je nachdem, wo er sich befand.

Von Wladislaw Sankin

Ein von Russland abgehörtes Telefonat hochrangiger Militärs über die Ukraine hat deutlich gemacht, dass keine politische Entscheidung über die Entsendung von Taurus-Marschflugkörpern nach Kiew getroffen wurde, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius am Dienstag auf einer Reise nach Schweden. Diese Nachricht meldete Reuters am Dienstag am späteren Abend, kurz nach der Pressekonferenz mit dem schwedischen Verteidigungsminister Pal Jonson.

Dass das Telefonat ausgerechnet von Russland abgehört wurde, ist eine unbewiesene Behauptung. Den Mitschnitt bekam RT vom russischen Geheimdienst, das stimmt. Ob er von ihm auch aufgenommen wurde, ist jedoch unbekannt. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um die wichtigste Tatsachenverzerrung im Kontext des Abhörskandals. 

Die volle Antwort auf die Reuters-Frage wurde am Mittwoch auf dem YouTube-Kanal der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Das kurze Video trug den Titel: "Pistorius zu Taurus-Entsendung: "Es gibt keine politische Entscheidung". Es klang so, als ob der Verfasser dieser Nachricht das kleine "noch" hinzufügen wollte – noch keine Entscheidung ist getroffen. Hören wir aber in das Video mal rein. Dieses beginnt mit der Frage der Reuters-Korrespondentin:

"Ist das so zu verstehen, dass Deutschland die Entsendung von Taurus-Flugkörpern in die Ukraine vorbereitet?" 

Darauf sagt Pistorius: 

"Nein". 

Als er das sagt, ziehen sich seine Lippen in ein Lächeln. Sie sind nach innen eingewickelt, was dem Gesicht etwas Schelmisches verleiht. Der Verteidigungsminister sieht dabei ziemlich verlegen aus. Die Atmosphäre im Saal wird sofort lockerer. Pistorius schweigt. Auch die Journalistin lächelt kurz und hakt nach: 

 "Können Sie das näher erläutern?"

Nein, darum gehe es nicht. Es sei ein Telefonat zwischen Experten im Zuge der Vorbereitung eines Briefings mit ihm gewesen, so der Verteidigungsminister. Pistorius weiter:

"Sie diskutierten alle Fragen rund um einen mehr oder weniger wahrscheinlichen Einsatz von Taurus oder nicht. Sie haben dabei immer wieder erwähnt, dass es keine politische Entscheidung gibt, weder vom Kanzler noch von mir, Taurus in die Ukraine zu entsenden".

Genau dieses Zitat wurde zur Grundlage für die anfangs zitierte Reuters-Meldung. Danach redete Pistorius weiter, aber das Gesagte wurde von den Medien nicht erwähnt, obwohl es um die Bewertung dessen ging, was die Generäle am 19. Februar besprochen haben. Also darum, was denn genau die Russen so wütend gemacht hat. Laut Pistorius war es ein "theoretisches Gespräch":

"Das war ein theoretisches Gespräch zwischen Militärgenerälen, ohne Entscheidung, ohne konkrete Pläne, so wie bei allen in den letzten Monaten in Deutschland: Wie und wo könnte Taurus helfen. Wer will liefern oder nicht? Es ist nur eine Diskussion zwischen professionellen Experten aber nicht mehr". 

Laut den Umfragen ist Boris Pistorius derzeit der populärste Politiker Deutschlands. Er redet wie die Menschen von nebenan, sagt, was Sache ist, so beschreiben die Medien sein "Erfolgsrezept". Und ja, er macht Deutschland "kriegstüchtig". Zur "Kriegstüchtigkeit" gehört auch die Kriegslist. Also die Fähigkeit, den Feind mit Lügen täuschen zu können. Wen hat aber der SPD-Politiker während der Pressekonferenz in Schweden getäuscht? Russland jedenfalls nicht. Russland hat sich das Bundeswehr-Telefonat genau angehört. Pistorius täuscht diejenigen, von denen er offenbar glaubt, dass sie seinem Wort trauen: das internationale Publikum. 

Denn zu Hause in Berlin sagt der Verteidigungsminister etwas ganz anderes. Er gesteht zähneknirschend ein, dass das Gespräch geheim war. Wie viel dort von der Geheimhaltung erörtert worden ist, sei nach seiner Wahrnehmung "überschaubar". Also nicht ganz geheim, aber geheim! So redete er am selben Tag vormittags. Die Juristen sollen ermitteln, wie viel an Militärgeheimnissen die Generäle da ausgeplaudert hätten. In Schweden hat Pistorius, wie von Zauberhand, ein geheimes Militärbriefing mit klar formulierten Angriffszielen und Wegen, wie man diese Ziele zu erreichen hat, in ein "theoretisches Gespräch ohne konkrete Pläne" verwandelt.

So kann nur einer reden, der davon ausgeht, dass jeder, der ihn dieser Lüge durch einen einfachen Abgleich mit dem tatsächlich Gesagten überführen kann, von vorneherein als "Desinformant" verschmäht werden kann. Aber dennoch ist Pistorius schlau genug, den Lügengehalt je nach Adressat seiner Botschaften zu dosieren. Er war zumindest nicht bereit, vor namentlich bekannten Korrespondenten deutscher Medien zu behaupten, dass die Diskussion, wie viele Raketen man braucht, um "Löcher" in die Pfeiler der Krim-Brücke schießen zu können, eine ganz gewöhnliche öffentliche Debatte war. Oder haben die Generäle irgendwo in den Talkshows etwa doch schon gemutmaßt, wie man die deutschen Zieldaten am unauffälligsten in die Ukraine schmuggeln könnte, damit Deutschland nicht als Kriegspartei dasteht? 

Das, was die Generäle am 19. Februar gemacht haben, war das Ergebnis monatelanger Arbeit, die man im Militärjargon "Preplanning" nennt. Es sei die Aufgabe eines hohen Offiziers in der Position von General Gerhartz, sich über den Waffeneinsatz Gedanken zu machen, erläutert Admiral a.D. und ehemaliger Generalinspekteur der deutschen Marine Kai-Achim Schönbach im Gespräch mit Sabine Jahn. Im Januar 2022 wurde er wegen seiner "frevelhaften" Aussagen zur russischen Krim beschimpft. Nun ist er bei der neuen Partei Werte-Union und kann sich vergleichsweise frei äußern. Schönbach führt weiter aus:

"Dadurch, dass das Gespräch geleakt wurde, wurde die Bevölkerung und die Öffentlichkeit darüber informiert, dass so gedacht wird. Aber es wird immer so gedacht". 

Das Gespräch mit Jahn war ein schwieriger Dialog zwischen einem loyalen Soldaten und einer Friedensaktivistin. Der Admiral gab gerne zu, dass die Schnörkellosigkeit der Bundeswehr-Offiziere bei der Besprechung der Militärziele auf dem Territorium einer Nuklear-Supermacht, für Außenstehende schockierend wirken könnte. Aber wir erinnern uns, laut Pistorius ist es für die deutsche Öffentlichkeit im Jahr 2024 das Normalste der Welt, das "Theoretische". Laut Schönbach müssten die Offiziere Angriffspläne ohne Aufforderung, sozusagen von sich aus, bereits ausgearbeitet haben, bevor sie überhaupt angefragt werden. Das einzige, was man dafür braucht, ist politisches Gespür.  

"Auch wir in der Marine haben Flugkörper. Auch dem Marine-Chef würde gut zu Gesicht stehen, wenn er sich für seine Planung darüber Gedanken machen würde, ohne dass ihm ein politischer Vorgesetzter einen Auftrag erteilt. Er muss, wenn ein Minister sich umdreht und sagt, Herr Gerhartz, was für Optionen habe ich, dann kann man aber nicht anfangen, über Wochen und Monate zu planen". 

Also das politische Gespür der Offiziere lenkt die Bundeswehr in Richtung Krieg mit Russland, so interpretiere ich das. Der russische Präsident hat jedoch auch nach dem Abhör-Skandal davon abgesehen, gegen Deutschland scharf aufzutreten. Auf dem Jugendfestival in Sotschi äußerte er die Hoffnung, dass Russen und Deutsche künftig zum gemeinsamen Miteinander kommen. Dies sei jedoch nur mit einer neuen Politiker-Generation Deutschlands möglich, einer, die sich um nationale Interessen seines Landes kümmere. "Wir mögen euch Deutschen", betonte der Kreml-Sprecher zuvor. 

Mit der jetzigen politischen Klasse in Berlin können die Russen nichts anfangen. Auch nach dem Taurus-Leak will diese von ihrem Kurs kaum abweichen. Die Taurus-Lieferung in die Ukraine ist jedenfalls nicht wirklich vom Tisch. Darauf weisen die Uneindeutigkeit der FAZ, der Hauptgazette des Politestablishments, und die Lügen des Verteidigungsministers hin. Vom Höllenfeuer in Talkshows nun ganz zu schweigen. 

Der sog. Abhör-Skandal war keineswegs eine "hybride Attacke" oder Teil des "Informationskriegs" Putins. Neben dem Versuch, Deutschland von seinem falschen historischen Kurs beim neuen Krieg im Osten abzubringen, war es ein Test auf politische Reife und Vernunft. Weder die Medien noch die politische Führung scheinen die Lehren aus der Affäre gezogen zu haben. Zumindest bislang. 

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