Von Aljona Sadoroschnaja und Ilja Abramow
Die Einnahme Awdejewkas durch Russlands Streitkräfte wurde von einer massenhaften Flucht des ukrainischen Militärs aus der Stadt begleitet. Wie das Oberhaupt der Donezker Volksrepublik Denis Puschilin berichtete, wurde während des chaotischen Rückzugs ein Teil der ukrainischen Soldaten gefangen genommen. Puschilin nannte keine genauen Zahlen, doch sein Berater Jan Gagin erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, dass es sich um hunderte Menschen handele.
"Stündlich werden zurückgelassene ukrainische Militärangehörige gefunden. Man versuchte nicht einmal, sie zu retten, und beschloss, keine Zeit darauf zu verschwenden. Unter den Gefallenen gab es ausländische Söldner. Auch die Gefangenen selbst sagen während der Befragungen, dass in Awdejewka ausländische Söldner anwesend waren", fügte Gagin hinzu.
Der Befehlshaber der ukrainischen Heeresgruppe "Taurien", Alexander Tarnawski, bestätigte die Gefangennahme ukrainischer Militärangehöriger. Er nannte ebenfalls keine Zahlen, merkte aber an, dass Selenskijs Amt beabsichtige, sich an internationale Organisationen zu wenden, um eine Rückkehr der Gefangenen zu organisieren.
Darüber hinaus hätten die ukrainischen Militärs bei der Flucht aus Awdejewka ihre verwundeten Kameraden im Stich gelassen, die nun von russischen Streitkräften gerettet werden müssten. Dies berichteten zuständige Behörden der Donezker Volksrepublik. Über 20 Verwundete seien bereits abtransportiert worden, die Evakuierung werde fortgesetzt.
Auch Militärtechnik wurde vom ukrainischen Militär nicht geborgen. Auf den vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichten Aufnahmen sind Fahrzeuge zu sehen, die in einem Vorort von Awdejewka zurückgelassen wurden. Für einen sicheren Rückzug der ukrainischen Truppen sollte die 3. Sturmbrigade sorgen. Dieser Verband besteht aus den seit der Befreiung Mariupols für ihre Brutalität berüchtigten Kämpfern des neonazistischen Asow-Regiments.
Doch in Awdejewka handelten die Asow-Kämpfer anders – sie zogen sich zurück und verließen die Stadt. Später erschienen im Netz Videoaufnahmen eines weinenden, gefangenen Asow-Kommandeurs. Auf die Frage hin, ob er jemanden getötet habe, bricht er schluchzend zusammen und sagt:
"Nein, Leute, ich habe niemanden getötet! Ich werde alles erzählen, was ich weiß!"
Den Befehl über einen Rückzug aus Awdejewka erteilte der ukrainische Oberbefehlshaber Alexander Syrski am vergangenen Samstag. Er begründete seine Entscheidung mit der operativen Lage und versicherte, dass das ukrainische Militär zu einer Verteidigung an "günstigeren Positionen" übergehen werde. Doch später erklärte der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Generalleutnant Igor Konaschenkow, dass die unkontrollierte Flucht der ukrainischen Soldaten bereits einen Tag vor dem offiziellen Befehl begonnen habe.
Darauf verweist auch ein Video, das vom Verteidigungsministerium Russlands veröffentlicht wurde. Darin ist zu sehen, wie russische Artilleristen ukrainisches Militärpersonal und Technik während ihrer Flucht aus Awdejewka treffen. Dies ereignete sich vor der Ankündigung des Rückzugs durch Syrski. Die Behörde merkte an, dass es nur einzelnen versprengten ukrainischen Militärverbänden gelungen sei, Awdejewka hastig zu verlassen.
Experten merken an, dass eine derart massenhafte Flucht vom Schlachtfeld vergleichsweise untypisch sei. Man sollte allerdings nicht meinen, dass Russlands Truppen Glück hatten und ihr Gegner einfach feige war. Tatsächlich ist das ukrainische Militär ernsthaft psychologisch gebrochen worden, was das Ergebnis einer langfristigen und planmäßigen Taktik der russischen Streitkräfte war.
"Die Flucht der ukrainischen Truppen aus Awdejewka ist das Ergebnis einer Fehleinschätzung der Kiewer Militärführung. Und diese Schande wird vollständig auf ihren Schultern lasten. In den Reihen der ukrainischen Armee kam es zu einer Panik. Dies führte seinerseits zum Verlust der Möglichkeit, Verbände zu steuern und zu koordinieren", erklärte der Kriegsberichterstatter Fjodor Gromow.
"Die ukrainischen Militärangehörigen versuchten, sich selbst zu retten. Deswegen verließen sie ihre verwundeten und gefallenen Kameraden und sogar Fahrzeuge", sagte er. Der Kriegsberichterstatter merkte zudem an, dass selbst die Verlegung der 3. Separaten Sturmbrigade die Lage des ukrainischen Militärs nicht verbessert habe. "Kiew hoffte wohl, mithilfe der Asow-Kämpfer einen Gegenschlag aus dem Norden Awdejewkas heraus führen zu können, doch diese Pläne wurden von den russischen Streitkräften vereitelt", erklärte er.
Nach Gromows Ansicht werde die Flucht die Moral anderer Soldaten kurzfristig wohl kaum beeinflussen, dafür aber sicher einen kumulativen Effekt haben. Dabei lasse der Zustand des ukrainischen Militärs jetzt schon viel zu wünschen übrig. "Die besagte 3. Sturmbrigade war nicht auf ihre vollständige Stärke gebracht. Wenn es schon dort zu so etwas kam, kann man sich ausmalen, was in Verbänden passiert, die Kiew weniger liebevoll behandelt", betonte Gromow.
"Dass wir die ukrainischen Soldaten in Awdejewka psychologisch brechen konnten, ist die Folge einer langfristigen, zielsicheren und klar strukturierten Taktik der russischen Streitkräfte. Ich denke, dass dies eine der erfolgreichsten Operationen war, die wir seit dem Beginn der militärischen Sonderoperation durchgeführt haben", führte die Politologin Larissa Schessler aus. "In diesem Fall verenigten sich sowohl alle militärischen Mittel, als auch das taktische Können und der Scharfsinn, die alle bei der Erstürmung gezeigt wurden. Wir wurden Zeuge einer langen, hartnäckigen und akribischen Arbeit, und nicht irgendeines Glücksfalls oder der Feigheit des ukrainischen Militärs, das sich in Awdejewka zehn Jahre lang verschanzt hatte", erklärte sie.
"Eine besondere Rolle spielten dabei unter anderem die von Russland eingesetzten Waffen. Der Einsatz von FAB-Bomben brach die gegnerische Moral besonders stark. Man sollte auch nicht außer Acht lassen, dass es in Awdejewka seit langem keine Rotation des ukrainischen Militärpersonals mehr gegeben hat. Die Menschen waren schlicht müde, ausgezehrt und hatten keine Kraft für den Widerstand mehr übrig", fügte Schessler hinzu.
"Auch der Überraschungseffekt zeigte seine Wirkung. Anscheinend rechnete das ukrainische Kommando nicht damit, dass Russland seine Kräfte ausgerechnet auf Awdejewka konzentrieren würde. Deswegen wurden die Brigaden nicht rotiert. Darüber hinaus hat Kiew Probleme mit der Aufstockung des Militärpersonals, es wird immer schwieriger, die erschöpften Kämpfer zu ersetzen", erklärte die Politologin.
"Besonders würde ich die Verlegung von 'Asow' nach Awdejewka beachten. Auf den ersten Blick konnte es scheinen, dass sie die Lage der ukrainischen Militärverbände erleichtern sollten. Doch die Militärangehörigen selbst kennen den Wert dieser Kämpfer zu gut. Ich schließe nicht aus, dass sich 'Asow' nicht völlig darüber im Klaren war, womit man es in diesem Fall zu tun haben würde. Doch sobald das Kräfteverhältnis klar wurde, waren sie unter den Ersten, die die Stadt verließen. Es gab nur eine Hoffnung – dass Russland irgendwann die Prioritäten verlagern und den Druck vermindern würde. Diejenigen, die sich im befestigten Raum 'Zenit' verschanzten, konnten auch auf die Befestigungsanlagen hoffen. Möglicherweise dachten sie, dass Russlands Armee das Objekt nicht einnehmen könne. Doch unsere Militärangehörige zeigten beispielhafte Hartnäckigkeit und Professionalität", betonte sie.
"Awdejewkas Verteidigung wurde allmählich, Schritt für Schritt, über einen langen Zeitraum aufgebrochen. Diese Konsequenz ließ die Moral des ukrainischen Militärs ebenfalls schwinden. Dabei erkannten die Gegner die Aussichtslosigkeit ihrer Lage lange, bevor diese Information an Syrski weitergeleitet wurde. Deswegen begannen sie, noch vor dem offiziellen Rückzugsbefehl aus der Stadt zu fliehen", bemerkte die Analystin.
"Viele Militärexperten, darunter auch ukrainische, bewerteten die Arbeit der ukrainischen Militärführung sehr negativ. Denn der tatsächliche Rückzug ereignete sich später, als es notwendig gewesen wäre. Der Befehl wurde erst erteilt, als die Verbindung und Koordination zwischen den Verbänden verloren, und die Moral der Soldaten auf null war. All das war das Ergebnis einer langen und hartnäckigen Arbeit unserer Streitkräfte", schlussfolgerte Schessler.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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