Von Tarik Cyril Amar
Die NATO hat ihre größte Übung seit dem Ende des Kalten Krieges lanciert. Steadfast Defender 2024 (zu Deutsch: "Standfester Verteidiger" 2024) wird mehrere Monate lang durchgeführt und etwa 90.000 Soldaten, über 50 Schiffe der Marine, 1.100 Bodenfahrzeuge – darunter mindestens 133 Panzer und 533 gepanzerte Truppentransporter – sowie 80 Flugzeuge verschiedener Art im Einsatz haben.
Alle 31 Mitglieder der Allianz werden an den Manövern teilnehmen, sowie Schweden, das sich im Prozess des Beitritts zur Allianz befindet. Es kommt jedoch nicht nur auf die Anzahl der Truppen und die Art der Waffen oder auf die Dauer des Manövers an. Das Großereignis ist auch aus zwei weiteren Gründen etwas Besonderes. Auf der einen Seite sind die Gründe recht einfach, auf der anderen Seite sind sie komplizierter und verdienen eine ernsthafte Analyse.
Vereinfacht ausgedrückt, wird das Manöver Verteidigungspläne austesten, in einer Weise, wie es die NATO seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr getan hat. Ein politischer Vorteil der Rückkehr zu solch detailliert ausgearbeiteten Szenarien eines Krieges besteht darin, dass sie im Wesentlichen Washington über das Büro des militärstrategisch verantwortlichen Oberbefehlshabers der NATO in Europa zu Einfluss verhelfen. Damit sollen die europäischen Regierungen dazu gebracht werden, sich an die vorgegebene Linie zu halten, indem sie Truppen, Ausrüstung und Geld bereitstellen. Darauf hat der britische Economist beim letztjährigen Gipfel in Vilnius mit Genugtuung hingewiesen, als all dies in Gang gesetzt wurde.
Die Beobachtung des stellvertretenden russischen Außenministers Alexander Gruschko war somit treffend: Das Manöver markiert eine "unwiderrufliche Rückkehr" der Allianz in den Modus des Kalten Krieges, obwohl auch dies nur einen neuen Höhepunkt darstellt in einer langen Periode aggressiver Entwicklung. Daher ist es auch keine Überraschung, dass der Feind, auf den diese imaginären Kriegsspiele abzielen, Russland ist. Daran ändert auch nichts, dass in der offiziellen Ankündigung von Steadfast Defender von einem "nahezu gleichwertigen Gegner" gesprochen wird.
Das kompliziertere Problem ist, dass der Übung eine regelrechte Propagandaflut vorausging – oder, um es in der heutigen NATO-Sprachregelung zu sagen, eine kognitive Kriegsführung. Ein klares Indiz dafür, dass dies beabsichtigt war, ist die Tatsache, dass die westliche Denkfabrik und Plattform für den Informationskrieg, das Institute for the Study of War (Institut für Kriegsstudien, ISW), Russland bereits vorwirft, sich an einer "Informationsoperation zur verfälschten Darstellung der rein defensiven Natur des Manövers zu beteiligen". Man denke bloß an die althergebrachte Faustregel: In der Regel wirft der Westen anderen vor, etwas zu tun – zum Beispiel Völkermord –, während er es selbst tut.
In Wirklichkeit setzten die Vertreter und Lenker des Narrativs der NATO – offiziell sowie getarnt als Akademiker und Experten – die Politiker und Journalisten einem erzählerischen Sperrfeuer aus. Durch offizielle Erklärungen, Interviews und sogar herbeiphantasierte Szenarien im Stil eines Spionageromans von Tom Clancy wurde die westliche Öffentlichkeit, insbesondere in der Europäischen Union, dazu gebracht, sich eine beängstigende und nahe Zukunft vorzustellen, in der Moskau eine Invasion europäischer NATO-Staaten lanciert. In diesem Sinne ist Steadfast Defender nicht nur eine Rückkehr zu den Mustern des Kalten Krieges, sondern auch zum düsteren Ton seiner bösartigsten und gefährlichsten Phasen, wie sie beispielsweise in den frühen 1980er Jahren herrschten. Man denke bloß an Hollywood-Klassiker aus dem Kalten Krieg wie "Firefox", in dem Clint Eastwood einen sowjetischen Superjet stiehlt, oder "Red Dawn", in dem tapfere amerikanische Teenager heldenhaft im Kampf gegen böse Russen und Kubaner sterben, die im Herzland der USA gelandet sind und es besetzt halten. Etwa so zeigt sich die Stimmung derzeit.
Es ist wichtig anzumerken, dass dieses Propagandamanöver nichts Selbstverständliches ist. Die NATO könnte ihre größte militärische Übung auch durchführen, ohne gleichzeitig ein lautes Aufheben darüber zu veranstalten. Oder es mit einer differenzierteren, weniger schrillen Botschaft begleiten, indem man die gebotene Sorgfaltspflicht im Bereich der geopolitischen Sicherheit betont, aber keine detaillierten Aussagen über die mutmaßlichen Maßnahmen Russlands für die Zukunft macht.
Daher ist diese Offensive der kognitiven Kriegsführung als absichtlich zu betrachten. Diese wurde so weit getrieben, dass nach der ersten Welle der Panikmache sogar das offizielle Aushängeschild der NATO, Jens Stoltenberg, kalte Füße bekam und sich gezwungen sah, alle daran zu erinnern, dass es "keine direkte Bedrohung durch Russland" gibt. Aber schauen wir uns einige Beispiele dieser bemerkenswerten Propagandaoffensive an:
Das noch nicht NATO-Mitglied Schweden beeilte sich, beispielhafte verbale Militanz an den Tag zu legen. Der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, General Micael Bydén, forderte seine Landsleute dazu auf, sich "mental" auf einen Krieg vorzubereiten, während Zivilverteidigungsminister Carl-Oskar Bohlin betonte, dass "ein Krieg auf Schweden zukommen könnte". Es scheint, dass Schwedens Aufgabe seiner Neutralität das Land nur noch ängstlicher gemacht hat. Als Reaktion auf die Verlautbarung von Bydén reichte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius dann seine wilde Einschätzung nach, dass ein russischer Angriff auf ein Land der NATO in weniger als zehn Jahren erfolgen könnte.
In einer Pressekonferenz schlug der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, der niederländische Admiral Rob Bauer, denselben Ton an, auch wenn er mehr ins Detail ging. Bauer sprach über Maßnahmen zum Aufbau der Streitkräfte des Bündnisses, über einen historisch beispiellosen Grad an Integration zwischen NATO und nationalen Verteidigungsplänen sowie über "Resilienz", die durch einen "gesamtgesellschaftlichen Ansatz" gegenüber dem Krieg zur Vorbereitung auf den Krieg kultiviert werden müsse. Das alles mag hochtrabend klingen. Es wäre jedoch ein Fehler, es nicht ernst zu nehmen.
Solche Rhetorik signalisiert, dass die NATO sich als eine im Hintergrund stehende, aber doch dominierende politische Kraft betrachtet und offen die gesamte Gesellschaft – über alle nationalen Regierungen hinweg und in Friedenszeiten – als ihren legitimen und dauerhaften Aktionsbereich beansprucht. Wenn man sich die gebieterischen Bemerkungen von Admiral Rob Bauer genauer anhört, die er in einem streng ermahnenden Ton gehalten hat, kommt man nicht umhin zu erkennen, dass es bei Steadfast Defender 2024 nicht nur um das Jahr 2024 oder um Armeen geht. Es soll politische und gesellschaftliche Weichen für die Zukunft stellen. Britische Generäle haben diese Seite der Propagandaoffensive der NATO immer wieder illustriert, indem sie wiederholt öffentlich über die Notwendigkeit der Einführung einer Wehrpflicht nachgedacht haben und einen Krieg gegen Russland ins Gespräch brachten.
Auch bei den Diskussionen über Krieg und Frieden bei der NATO geht es nicht nur um Russland. In gewisser Weise dreht sich die Diskussion um die Gesellschaften der europäischen NATO-Mitgliedsstaaten, als eine sehr klare Erinnerung daran, dass ihre Souveränität ungefähr so viel wert ist wie jene Griechenlands, als 2015 die sogenannte "Troika" westlicher Oberherren in Athen an die Tür klopfte. Natürlich ist nichts davon überraschend: Als zentrales Instrument der US-Kontrolle und der europäischen Selbst-Unterwerfung war die NATO schon immer ein durch und durch imperialistisches Instrument der US-amerikanischen Machtprojektion und Machtausübung in Europa.
Jetzt, wo sich die EU den USA bis zur ernsthaften Selbstverletzung unterwirft, ist der Stil eines Admiral Rob Bauer nur als konsequent zu betrachten. Es ist jedoch bemerkenswert, wie unverschämt die NATO nun ihren Willen zur Macht demonstriert, insbesondere vor dem Hintergrund eines Donald Trump ‒ ein erklärter Gegner der NATO, der am Ende dieses Jahres wahrscheinlich die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnen und somit das letzte Hurra der NATO einläuten wird.
Für den massenmedialen Umgang mit der Nachrichtenoffensive der NATO rund um Steadfast Defender 2024 wollen wir nur zwei Beispiele herausgreifen:
Die überaus beliebte britische Boulevardzeitung The Sun war so unverblümt, wie man es von ihr erwarten würde. Sie bombardierte ihre Leser mit der Schlagzeile "FIT MACHEN FÜR DEN KRIEG: Die NATO ruft mit 90.000 Soldaten die größte globale Streitmacht seit Jahrzehnten zusammen, um in wenigen Tagen mit den Übungen bei Steadfast Defender 2024 für den Dritten Weltkrieg zu beginnen". Der Rest des Artikels ist genauso sensationslüstern, wie die Schlagzeile es verspricht, einschließlich der Behauptungen über einen russischen Angriffsplan am "Tag X", der bereits im Jahr 2025 erfolgen soll.
Die britische Daily Mail, als eher bürgerliche Zeitung, war da etwas subtiler. Sie veröffentlichte einen langen, illustrierten Artikel – mit großen roten Pfeilen auf Landkarten und allem anderen, das es braucht – über die "riesenhaften Kriegsspiele". Die Zeitung spekulierte darüber, wie sich ein russischer Angriff irgendwann in den nächsten zwanzig Jahren entwickeln könnte, und beschrieb Moskaus massive künftige Angriffe im Cyberraum, Angriffe mit Raketen und KI-gesteuerten Panzern, die sich auf den Vormarsch nach Westen machen. Offensichtlich sind die Zeiten, in denen der Westen darüber lachte, dass russische Soldaten mit nichts anderem als Schaufeln in die Schlacht ziehen, endgültig vorbei. Der glücklose US-General im Ruhestand, Ben Hodges, der im vergangenen Frühjahr noch eine siegreiche Gegenoffensive der Ukraine vorhergesagt hatte, ist thematisch weitergezogen und prophezeit nun, wie sich Russlands kommender großer Schlag gegen die NATO in Europa entfalten wird.
Aber worum geht es hier überhaupt?
Die erschreckendste Interpretation wäre, dass die NATO bereits fest entschlossen ist, Russland zu bekämpfen, egal was komme. Das wäre höchst irrational und selbstmörderisch, aber andererseits hat der Westen in vergangener Zeit nicht viel Rationalität an den Tag gelegt. Man könnte das Verhalten der NATO auch als "baltisches Kamikaze" oder "Großbritannien ist selbstmörderisch gelangweilt" nennen.
Meine Vermutung ist, dass wir zum Glück noch nicht ganz am Ende angelangt sind. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin mir sicher, dass es in der NATO und in der EU genügend Verrückte gibt, die lieber gestern als morgen in einen Krieg gegen Russland ziehen würden. In dieser Hinsicht sind die Gerüchte, dass Kaja Kallas, die Möchtegern-Eiserne Dame Estlands, für das De-facto-Außenministerium der EU nominiert werden soll, in der Tat sehr beunruhigend. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ein chaotischer interner Kompromiss zustande kommt: Während einige bereits Krieg spielen wollen, setzen andere ihre Karten darauf, die drohende Niederlage des Westens in der Ukraine zu kompensieren.
Dies gilt insbesondere, da der Westen einen katastrophalen Fehler begangen hat. Indem er die Ukraine praktisch wie ein Mitglied der NATO behandelt, stellte er damit sicher, dass die Niederlage der Ukraine gegen Russland die Glaubwürdigkeit des Bündnisses fast genauso gründlich in Frage stellen wird, wie wenn ein offizielles NATO-Mitglied besiegt worden wäre. Überdehnung der Macht hat Konsequenzen. Daher ist es für die NATO dringend notwendig, jetzt viel Lärm darüber zu veranstalten, wie bereit das Bündnis für einen Krieg ist, um vor allem die jüngeren, östlich gelegenen NATO-Mitglieder zu verteidigen.
Aber machen wir für einen Moment einen Schritt zurück und betrachten das Gesamtbild: Es gibt eine Ironie, die große Strategen wie Admiral Bauer übersehen. Wenn man die "Resilienz" eines "gesamtgesellschaftlichen Ansatzes" will, dann muss die Gesellschaft grundsätzlich zufrieden sein, während ihre Eliten die ultimative Reservewährung der Politik genießen – grundlegende Legitimität, die das Gemeinwesen auch dann aufrechterhält, wenn die Beherrschten mit den Herrschenden völlig uneinig sind. Eine solche Vereinbarung entsteht jedoch nur in einem Vertrauensverhältnis, das allzu viele Bürger der EU – und auch der USA – längst aufgekündigt haben.
Krieg – und die Vorbereitung auf einen Krieg – bleiben im Wesentlichen politische Aktivitäten, aber nicht in der kurzsichtigen Art und Weise, wie die NATO es derzeit praktiziert: Eine Zeit lang kann es funktionieren, Gesellschaften mit dem Gefühl einer großen Bedrohung von außen einzuschüchtern. Allerdings wird dies auf nicht allzu lange Sicht sinnlos werden, wenn zwei Dinge passieren: Die Bedrohung von außen bleibt aus, und stattdessen kommt die Frustration, die von den meisten Menschen in ihrem eigenen Leben tatsächlich erlebt wird, weiterhin von innen heraus. Dies war einer der Gründe für den Untergang der Sowjetunion, die, wie sich einige Nachahmer des Kalten Krieges der NATO vielleicht erinnern mögen, unterging, während sie bis an die Zähne bewaffnet war und jahrzehntelang eine "gesamtgesellschaftliche" Verteidigungsindoktrination praktizierte.
Aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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