Die in Hongkong erscheinende Online-Zeitung Asia Times hat einen analytisch-programmatischen Artikel des US-amerikanischen Militär- und Außenpolitik-Experten Stephen Bryen wiederveröffentlicht. Der Text war am 22. Januar auf dem Substack-Portal Weapons and Strategy erschienen. Bryen wird als früherer "Stabschef des Unterausschusses für den Nahen Osten des US-Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen" und als ehemaliger "stellvertretender Verteidigungs-Unterstaatssekretär für Politik" vorgestellt, der derzeit als "Senior Fellow am Center for Security Policy" und am "Yorktown Institute" tätig ist.
Machtkampf in Kiew
Als Aufhänger des Artikels dienen die Gerüchte, die im gegenwärtigen Kiewer Machtkampf die Runde machen: Präsident Selenskij würde in nächster Zeit den Noch-Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, General Waleri Saluschny, durch den Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kirill Budanow, ablösen. Budanow gilt als skrupelloser und ideologischer Hardliner, der loyal zu Selenskij steht. Seit Monaten soll das Vertrauensverhältnis zwischen Selenskij und Saluschny belastet sein. Im Gegensatz zu Saluschny verfügt Budanow allerdings über keine eigentliche militärische Erfahrung, sondern stammt aus dem Geheimdienst.
Der US-Experte resümiert die militärische Lage der Ukraine und gibt zu, dass die ukrainischen Truppen auf breiter Front schwere Verluste hinnehmen müssen. Zwar könne die Ukraine das russische Militär eine Weile lang aufhalten, nicht jedoch stoppen. Wenn Kiew von anderswo Truppen nach Awdejewka verlege, würden neue Schwachstellen an den jeweiligen Frontabschnitten entstehen, die von der russischen Seite ausgenutzt werden könnten. Die europäischen und amerikanischen "Verbündeten" Kiews, die der Ukraine immer noch Waffen und Finanzhilfen versprechen, wüssten jedoch, so Bryen, "dass die Ukraine dem russischen militärischen Druck nicht standhalten kann". In dieser Lage könnte der Durchbruch russischer Einheiten in Awdejewka von Selenskij als Vorwand genutzt werden, um Saluschny zu entlassen.
Westliche Fehlannahmen führten zur Niederlage
Angesichts dieser militärischen Lage habe "Panik" die europäischen Regierungen ergriffen, und Washington sei "auf der Suche nach einer neuen Politik". Mit dem Ende Januar beginnenden, auf fast fünf Monate angelegten NATO-Manöver "Steadfast Defender" wolle die westliche Militärallianz den "Eindruck von der Zuverlässigkeit der NATO verstärken". So recht scheint der US-Autor nicht daran zu glauben, dass die NATO-Länder Moskau militärisch beeindrucken könnten. Er räumt ein, dass die europäischen NATO-Staaten einen Großteil ihrer "strategischen Kriegsmaterialreserven" bereits in die Ukraine geschickt hätten, weshalb ihre eigenen Bestände weitgehend geleert seien.
Im Gegensatz zu Russland, das erfolgreich seine Rüstungsproduktion angekurbelt und den Ausstoß von Rüstungsgütern erhöht habe, komme in Europa und den USA die Produktion von Waffen und Munition nicht voran. Den westlichen Ländern machten "Arbeitskräftemangel, Lieferkettenprobleme und schleppende Beschaffungsaufträge" zu schaffen. Auch die USA hätten den "größten Teil ihrer kritischen Kriegsvorräte" an die Ukraine gegeben.
Unabhängig davon, ob man von einer bestehenden, unmittelbaren "russischen Bedrohung" des Westens überzeugt sei oder nicht, seien die USA gegenwärtig nicht in der Lage, "Europa zu retten", selbst wenn sie dies wollten, räumt Bryen ein.
USA ändern ihre Ukraine-Politik
Aufgrund dieser Entwicklung würden die USA ihre Politik ändern – und anerkennen, "dass sie einen konventionellen Krieg gegen Russland nicht gewinnen können". Dies bedeute gleichzeitig, dass sie auch einen "konventionellen Krieg gegen China nicht gewinnen" könnten, ja möglicherweise sogar "nicht einmal gegen Iran oder die winzigen Huthis", wie Bryen zu bedenken gibt.
Eingedenk der westlichen Schwäche habe sich eine "neue Ukraine-Politik" bereits "in den letzten Monaten herauskristallisiert". Wenn dies stimme, solle sie der "neuen Realität Rechnung tragen". Die "neue Realität" bestünde demnach darin,
"dass die Ukraine den Krieg verlieren wird und die ukrainische Regierung Kiew möglicherweise räumen muss. Die Übertragung der effektiven Kontrolle auf Budanow, einschließlich der Verlegung der ukrainischen Hauptstadt, wahrscheinlich nach Lwow, ist das Fundament dieser Politik."
Neue Taktik: Diversion und Terror
Diese neue Politik werde von der mehr oder weniger konventionellen Kriegsführung zu einer terroristischen Taktik gegen Russland übergehen, so Bryen:
"Operativ wird die Politik wahrscheinlich darin bestehen, Spezialoperationen, Attentate, Bombenanschläge und andere Mittel, einschließlich der möglichen Sprengung eines Kernreaktors, einzusetzen, um die Russen zu bestrafen und sie aus dem Gleichgewicht zu bringen."
Die ukrainische Öffentlichkeit sei durch Präsident Selenskij bereits vor Monaten auf diesen Wechsel eingestimmt worden, indem er behauptete, Moskau werde "einen Kernreaktor in die Luft jagen". In Moskau sei man sich, so der US-Experte, "zweifellos bewusst", dass für einen solchen Anschlag ein Kernkraftwerk im Westen Russlands ausgewählt werden könne und "dass es ukrainische Saboteure sein werden, die den Auftrag ausführen".
"Drei Notwendigkeiten"
Diesem offenen Bekenntnis zu Terroranschlägen – auch gegen Nuklearanlagen – in Russland lässt Bryen eine Liste mit drei Punkten folgen, um die es Washington mit dem Ukraine-Krieg gehe. Der US-Autor schreibt ganz offen:
"Für Washington gibt es drei Notwendigkeiten. Die Erste besteht darin, den Krieg weiterzuführen und vom Kongress weiterhin Geld zu fordern. Das ist ein schwieriges Unterfangen, denn wenn die Ukraine kollabiert, wird es schwer sein, Unterstützung für ein aussichtsloses Unterfangen zu bekommen."
Tatsächlich ginge das Weiße Haus unter Joe Biden vermutlich nicht davon aus, dass der US-Kongress noch weitere Milliarden zur Verfügung stellen wird, "vor allem, wenn es so gut wie sicher ist, dass sie in ein Rattenloch fließen". Vielmehr ginge es den US-Demokraten aus innenpolitischen, also insbesondere wahlkampftaktischen Gründen darum, "dem Kongress und den Republikanern die Schuld für den Verlust der Ukraine" zu geben.
Erst der zweite Punkt betrifft eigentlich die Ukraine, wodurch das rein instrumentelle Verhältnis Washingtons zum Land am Dnjepr deutlich wird:
"Die zweite Notwendigkeit besteht darin, eine prowestliche ukrainische Regierung am Laufen zu halten, selbst wenn sie Kiew verlassen muss. Das bedeutet auch, dass die derzeitige Regierung politisch überleben muss: Wenn es zu einem Staatsstreich kommt, dann ist alles verloren."
Zumindest in den nächsten Monaten – vor den Wahlen im November 2024 – ist Washington daher bestrebt, einen offenen "politischen Zusammenbruch" in Kiew zu verhindern. Wie Bryen zugeben muss, sei dies ein "schwieriges Unterfangen". Denn die Ukrainer seien "verständlicherweise unzufrieden, ja sogar unglücklich". Der Grund: "Junge und alte Männer" würden "gezwungen", in "einem verlorenen Krieg" zu kämpfen. Und viele von ihnen würden nicht mehr nach Hause zurückkehren.
Die dritte von Bryen benannte "Notwendigkeit" erinnert an die vielfach kolportierte Gründungsmaxime der NATO, die dem britischen Lord Ismay zugeschrieben wird ("to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down" – "die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten"):
"Drittens muss Russland aus Europa herausgehalten werden, das heißt, die europäischen Länder müssen davon abgehalten werden, ihre eigenen Abkommen mit Moskau zu schließen. Wenn Kiew untergeht, gehen auch Europa und die NATO unter."
Sollte es Moskau gelingen, eine prorussische Regierung in Kiew einzusetzen, wären die Europäer faktisch darauf angewiesen, wieder zu einem pragmatischen Miteinander mit Moskau zu kommen. Eine zentrale Rolle spielt, so Bryen, Deutschland in diesem Zusammenhang. Zwar wolle die gegenwärtige Bundesregierung "nicht mit Russland reden", allerdings nur "zumindest nicht jetzt". Und Bryen drückt die US-Befürchtung aus, dass sich diese Berliner Haltung sogar "in naher Zukunft" ändern könne.
Der Schlussabsatz des Artikels bringt, an eine Freudsche Fehlleistung erinnernd, die Befürchtungen Washingtons zum Ausdruck. In wenigen Sätzen werden darin die US-Kriegsziele deutlich, beziehungsweise was aus Sicht der US-Machteliten auf Biegen und Brechen verhindert werden muss:
"Wenn die Ukraine fällt, wird Deutschland seine Politik ändern müssen. Der einfachste Weg für seine Regierung, die Richtung zu ändern, besteht darin, den Vereinigten Staaten die Schuld für etwas zu geben, zum Beispiel für die Zerstörung der Nord-Stream-Pipeline. Das würde die Tür für ein Gespräch mit Putin öffnen."
In dieser US-amerikanischen Sorge vor einer europäisch/deutsch-russischen Kooperation klingt wieder an, was der frühere Direktor des US-Thinktanks Stratfor, George Friedman, 2015, ein Jahr nach dem Putsch in der Ukraine, ausgeführt hatte: Eine deutsch-russische (Wirtschafts-)Kooperation sei die größte Bedrohung für die USA (RT DE berichtete).
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